KAPITEL 75
Mittwoch, 7. März, 03:15 Uhr
SCIFO, PASQUALE, geboren am 23. 06. 1948 in Roccella Ionica (Kalabrien), dort gemeldet, italienischer Staatsbürger, Beruf Hausmeister, keine Vorstrafen.
DELLA VOLPE, ANDREA, geboren am 12. 09. 1982 in Pavia, wohnhaft in Mailand, italienischer Staatsbürger, Beruf Pizzabäcker, mehrfach vorbestraft wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, Körperverletzung und Besitz von Stichwaffen.
Beide wurden am Mittwoch, den 7. März, von den Besatzungen der durch den mit der Notrufnummer 112 verbundenen Alarm verständigten Streifenwagen Fuchs einundsechzig und Fuchs fünfunddreißig um zwei Uhr morgens dabei überrascht, wie sie sich in der in Rozzano gelegenen katholischen Kirche […] zu schaffen machten, die Obengenannten […]
[…]
Ispettore Capo Vincenzo Marino las das Rundschreiben aus der Carabinieristation von Rozzano über die in der vergangenen Nacht in der Kirche von Rozzano auf frischer Tat ertappten Verbrecher und trat sich innerlich selbst in den Hintern.
Diesen Namen hatte er sich also in den letzten Tagen so angestrengt ins Gedächtnis rufen wollen. Della Volpe, Andrea!
Der Name Pasquale Scifo sagte ihm nichts, aber dieser andere, der Vorbestrafte, war der Stiefbruder der beiden verschwundenen Kinder. Und ganz bestimmt hatte diese Verbindung Glauco Sereni veranlasst, ihm die Information über diese Verhaftung zu schicken.
Marino hatte plötzlich wie in einem Flashback aus einem Film wieder das zufriedene Lächeln dieses »Nennen Sie mich doch bitte Glauco«-Tenente-Colonnello der Carabinieri vor Augen, der während eines Briefings in der Staatsanwaltschaft erzählt hatte, dass in Verbindung mit den Abhörmaßnahmen etwas über Della Seta herausgekommen war.
»Ist etwas dabei herausgekommen?«, hatte er ihn gefragt.
»Ja, ich würde sagen, es gibt eine Spur … Lesen Sie die Abschriften. Man muss dabei allerdings verschiedene Fakten zueinander in Beziehung setzen, um sie zu entdecken«, hatte Sereni ihm geantwortet.
Wann war das gewesen?
Vincenzo Marino suchte fieberhaft in den Akten danach. Da war es: im Briefing vom 13. Februar. Das war drei Wochen her.
Er suchte die Abhörprotokolle und die Blätter mit den ausführlichen Niederschriften. Falls er hier nichts fand, würde er sich aus dem Amt die CD mit den Originalaufnahmen besorgen. Er ging alles durch, was er in Bezug auf Andrea Della Volpe fand.
Nicht gerade viel.
Della Volpe hatte kein Auto, ja nicht einmal einen Führerschein. Er wohnte mit einem anderen Pizzabäcker, einem Ägypter, in einem Loch neben der Pizzeria, in der er arbeitete. Das Zimmer hatte ihm sicher der Eigentümer, Carmine Bellavia, zur Verfügung gestellt.
Der Raum, so beschrieb es der Beamte in seinem Protokoll, war nur ein paar Quadratmeter groß und war beinahe ganz von zwei Stockbetten, einigen aus dem Restaurant ausgemusterten Stühlen und zwei Plastikschränken ausgefüllt, wie man sie auf dem Campingplatz benutzt. Für das Bad mit Toilette, Waschbecken und einer Art Dusche hatte man einen Raum im Hof umgebaut.
In dem Zimmer gab es kein Telefon. Della Volpe benutzte ein Handy, und das konnte er nicht abhören. Aber zumindest hatte er die Listen mit den Anrufen der letzten zwei Monate und die IMEI genannte Handyortung.
Von Della Volpes SIM-Karte hatte es in den letzten Monaten nur wenige Anrufe gegeben.
Sehr kurze Anrufe.
Eingegangen: zwei Anrufe von einer Festnetznummer, die zur Pizzeria gehörte, drei von Mobiltelefonen, einer davon von der SIM-Karte seines Kollegen Hakim Souari und zwei von Carmine Bellavia.
Wahrscheinlich das Telefon für die Arbeit.
Ausgehende Anrufe: etwa zehn. Vier zur Festnetznummer von Annamaria Donadio, von denen es zwei Abhörprotokolle nach dem Verschwinden der beiden Della-Seta-Kinder gab. Zwei an die Festnetznummer der Pizzeria und vier an die Kabine eines Phonecenters.
Dann die Überraschung: Auf dem Mobiltelefon waren fünfzehn ausgehende und zwölf eingehende Gespräche mit verschiedenen SIM-Karten verzeichnet, die alle auf vermutlich männliche Bewohner aus weit entfernten Nicht-EU-Staaten angemeldet waren: Ghana, Nigeria, Belize, Ecuador.
Die Anrufdaten zu diesen siebenundzwanzig Gesprächen wiesen Kontakte zu dem obengenannten Phonecenter auf und waren ebenfalls mit auf Bewohner außereuropäischer Staaten eingetragenen SIM-Karten geführt worden: Elfenbeinküste, Ghana, Nigeria, Kolumbien. Sie gingen allerdings von einem einzigen Mobiltelefon aus, das auf eine gewisse Carmen Molino angemeldet war. Diese war als Pasquale Scifos Lebensgefährtin identifiziert worden.
Insgesamt hatten sich auf Della Volpes Mobiltelefon die Gespräche von acht verschiedenen Handynummern überkreuzt, die alle auf verschiedene Bewohner von Nicht-EU-Staaten eingetragen waren, und drei Nummern waren regelmäßig angewählt worden, die Festnetznummer von Annamaria Donadio, die Handynummer von Scifos Lebensgefährtin und die Nummern des Phonecenters.
In diesem Durcheinander aus Nummern und exotischen Namen tauchte kein Gespräch von oder zu einer Nummer auf, die auf ein weibliches Wesen außer den beiden älteren Frauen zugelassen war.
Wie konnte das sein? Bei einem jungen Mann von fünfundzwanzig?
Außerdem fiel noch etwas als ungewöhnlich auf. Aufgrund der Anruflisten und der Raumüberprüfung hatte man festgestellt, dass Della Volpe sein Handy in den letzten beiden Monaten niemals ausgeschaltet hatte, nicht einmal beim Aufladen, er hatte sogar in Kauf genommen, den Akku damit zu beschädigen.
Dazu war Andrea Della Volpe in seiner freien Zeit und sogar während der Stunden, in denen er eigentlich am Pizzaofen hätte stehen müssen, ziemlich viel herumgekommen, durch Mailands gesamte südwestliche Peripherie und an der Strada Vigentina Richtung Pavia.
Das Diagramm der Handylokalisierung mit der Seriennummer (IMEI) hatte vom 6. Februar an, dem Tag, an dem die Kinder verschwunden waren, rege Ortsbewegungen zwischen den einzelnen Planquadraten aufgezeichnet, die sich, nun kam es, genau mit der Gegend deckten, in der man Ivan Della Setas Leiche gefunden hatte!
Genau, bei dem toten Jungen handelte sich um Ivan Della Seta.
Dies hatte das Ergebnis des DNA-Tests aus dem Labor der Gerichtsmedizin zweifelsfrei erwiesen: Die von Ratten angenagte Leiche war die des gemeinsam mit seiner kleinen Schwester verschwundenen Jungen, von der man bis jetzt nur die Kleidung gefunden hatte.
Marino hätte den Hut gezogen vor dem Scharfsinn von Tenente Colonnello Sereni, dem der seltsame Umstand dieser Telefonate unter Angehörigen von Nicht-EU-Staaten und diese verdächtigen Ortsbewegungen gleich aufgefallen war, sozusagen ein ständiges Kommen und Gehen in einer verlassenen Gegend, in der es nicht einmal ansatzweise einen Ort gab, der eine Fahrt dorthin lohnte, bevor sie durch das Auffinden der Kinderleiche zu einem Schauplatz eines Verbrechens wurde.
Wahrscheinlich hatten seine unermüdlichen Kollegen von den Carabinieri inzwischen bereits mehr herausgefunden, da sie Della Seta bestimmt ausreichend Beachtung geschenkt hatten und vielleicht sogar Observierungsmaßnahmen gegen ihn eingeleitet hatten.
Ja, aber warum bezogen sich die Rundschreiben mit Ausnahme der Nachricht von Scifos und Della Volpes Verhaftung nur auf den Zeitraum bis zum 13. Februar?
Zähneknirschend schlüpfte Marino in seinen dunkelblauen Lodenmantel, nahm den Schirm und verließ sein Büro.
Er würde Tenente Colonnello Sereni einen Besuch abstatten.
DRITTER TEIL