KAPITEL 80
Donnerstag, 8. März, 12:00 Uhr
Die Nachricht vom absurden und so sinnlosen Tod eines jungen Carabiniere, der von einer Bande aufgebrachter Nazis totgeprügelt und -getreten worden war, ging ab dem Mittag durch alle Nachrichtensendungen. Obwohl man versucht hatte, es nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, hatte jemand den Presseagenturen die Namen der Verhafteten mit den entsprechenden Fahndungsfotos zugespielt, und nun wurden diese Informationen in allen Fernsehnachrichten nebst den entsprechenden persönlichen Daten und ihrem kriminellen Werdegang gesendet.
Mörder aus Langeweile.
Verkommene Subjekte.
Gewalt als Selbstzweck.
Die Schlagzeilen beflügelten die Fantasie des Publikums, als aus der Carabinieristation, wo die Vernehmungen immer noch liefen, die Nachricht durchsickerte, dass mindestens zwei von diesen Schlägern der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen waren. Genauer gesagt einer Gruppe, auf die die DIGOS seit längerem wegen Verdachts auf Verbindung mit der Mafia ein Auge hatte.
An diesem Morgen aß man im Hause Simonella früh zu Mittag, weil Laura, betäubt von ihrem täglichen Cocktail aus Psychopharmaka und Schlafmitteln, sehr spät aufgestanden war und dann das Frühstück ausgelassen hatte. Sie hätte auch auf Mittagessen und Abendessen verzichtet, wenn ihr Mann sich nicht so bemüht hätte, ihrem abgemagerten Körper wenigstens ein wenig Nahrung zuzuführen.
In der schönen, großzügigen, ganz in Pastell gehaltenen Küche fütterte der Ingegnere seine Frau mit einem Teelöffel, genau wie er es bei Giovanni getan hatte, als dieser von der Flasche auf die ersten Breichen umgestiegen war.
Im Raum war die alles durchdringende Trauer förmlich greifbar. Als hätte jemand so viel Schmerz wie eine Flüssigkeit im Raum versprüht, dass er alle Gedanken erstickte. Dort stand auch die Babywippe, in der Giovanni mit seinen kleinen Händchen herumgespielt und dazu merkwürdige, selbstausgedachte Laute gegluckst hatte.
An seinem Stühlchen, das neben dem Kühlschrank stand, klebten immer noch die Reste seines letzten Breis.
Auf dem Regal mit den Keramiktöpfen saß das gelbe Küken mit den großen schwarzen Augen und dem beweglichen Schnabel, mit dem man Giovanni beim Füttern prima zum Lachen und dazu bringen konnte, dass er seinen Mund für den Löffel weit öffnete.
So ein leckeres Breichen, Giovanni, schau mal, das Küken mag es auch! Ein Löffelchen für dich, ein Löffelchen für das Küken. Hammm!
Und Giovanni ließ sich den Löffel in den Mund stecken. Der Brei lief über sein pummeliges Kinn und landete auch auf seinen Backen. Und er lachte, lachte, lachte, stieß spitze Freudenlaute aus und spuckte seinen Brei in alle Richtungen.
An diesem Vormittag lief bei den Simonellas der Fernseher. Laura war wie immer mit ihren Gedanken woanders und verfolgte das Programm nicht, im Gegensatz zu ihrem Mann. Während er seine Frau weiter mit einem mit Vitaminen angereicherten Reispudding fütterte, hörte er aufmerksam zu, als die Nachricht vom Tod des jungen Carabiniere und der Verhaftung der vier Mörder gebracht wurde. Er lauschte auch den Vermutungen der Journalisten. Ein Verbrechen wie so viele, dachte er, nichts, was einem den Schlaf raubte. Schade um diesen jungen Mann. So ein dummer, so ein sinnloser Tod!
Er wollte gerade Laura davon überzeugen, noch einen letzten Löffel Reispudding zu essen, als der Nachrichtensprecher den Namen der ultrarechten Gruppierung nannte, der zwei der Verhafteten wahrscheinlich angehörten. Luciano Simonella sah schlagartig auf. Er legte den Löffel auf den Teller und stellte den Fernseher lauter.
Der Kommentator aus dem Off stellte eine etwas gewagte Verbindung zwischen diesem Akt von großstädtischer Gewalt und der Affäre um die illegalen Mitschnitte von Telefongesprächen her. Er fasste noch einmal die Ereignisse, die Simonellas Firma betrafen, zusammen, und irgendwann fiel auch sein Name.
Während Luciano Simonella versuchte, seine widerwillige Frau zu füttern, lauschte er aufmerksam und dankte dem Himmel dafür, dass Laura in ihrer Betäubung durch die Psychopharmaka der Sendung keine Aufmerksamkeit schenkte.
Der Löffel wanderte mechanisch vom Teller zum Mund der Frau, die mit leerem Blick wie hypnotisiert vor sich hin starrte.
Als der Bericht endete und man zu einem anderen Thema überging, stand der Ingegnere auf, schaltete den Fernseher aus. Er schälte eine Mandarine, teilte sie in Spalten und entfernte die weißen Häutchen.
»Ich bitte dich, Laura, iss doch ein Stückchen davon. Nur eines …«
Laura schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
Das Dienstmädchen kam, räumte den Teller ab und servierte den Kaffee.
Luciano Simonella trank ihn im Stehen und beobachtete dabei seine Frau, die nun ihre Fingernägel eingehend untersuchte. Dann stellte er die Tasse ab und setzte sich neben sie. Er nahm zärtlich mit zwei Fingern ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu sich.
»Laura, du musst ein bisschen schlafen, ich gehe jetzt. Hast du mich verstanden, Laura?«
»Ja, sicher, geh nur, ich warte auf dich.«
»Gut, mein Schatz. Jetzt bringe ich dich noch ins Bett.«
»Ja, danke, ich bin müde.«
Fast ein Monat war seit Giovannis Entführung vergangen, und seit diesem Zeitpunkt hatte sie aufgehört, aus eigenem Antrieb zu essen. Sie schlief fast den ganzen Tag, als wollte sie so die Wartezeit bis zur Rückkehr ihres Sohnes verkürzen. Nachts irrte sie schlaflos im Nachthemd durch die Wohnung, schaltete alle Lichter ein und verrückte die Möbel. Oder sie stellte sich im Dunkeln vor das große Fenster im Wohnzimmer und starrte stundenlang in den gelblichen Lichtschein der Laterne vor dem Wohnhaus.
Durch das Fasten wog sie so wenig, dass ihr Mann sie auch auf die Arme nehmen und mühelos ins Schlafzimmer hätte tragen können. Er blieb noch kurz in der Tür stehen und betrachtete sie abwesend. Laura hatte ja schon immer einen blassen Teint gehabt, aber in diesen Tagen war ihre Haut so durchsichtig geworden, dass man an den Schläfen, der Kehle und auf dem Handrücken das bläuliche Geflecht ihrer Venen durchscheinen sah.
Auch die von Strähnchen aufgehellten Haare, die früher so glänzend und weich und sorgfältig gepflegt gewesen waren, waren wie vor Trauer in sich zusammengefallen, hingen als schlaffe, matte Strähnen formlos zu beiden Seiten ihres Gesichts herunter und ließen es noch magerer erscheinen.
Doch das Schlimmste für ihn waren ihre abwesenden Augen, unter denen sich dunkle Schatten eingegraben hatten. Sie blickten verwirrt und schienen sich auf etwas zu konzentrieren, was sich nur in ihrem Inneren abspielte. Das Verschwinden ihres Kindes hatte ihr, verbunden mit einem starken Schuldgefühl, beinahe alle Lebenskraft genommen und nur noch so viel übrig gelassen, dass sie vor sich hin vegetierte und litt.
Nachdem der Ingegnere ausgiebig ihr Gesicht betrachtet hatte, das sich innerhalb eines Monats so verändert hatte, dass es nicht mehr zu der Person gehören zu schien, die er kannte, half er seiner Frau zärtlich dabei, sich hinzulegen. Er blieb noch einige Minuten schweigend neben ihrem Bett stehen, dann ging er in die Küche, um das Glas Wasser mit ihren Tropfen vorzubereiten, reichte es ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Haare.
Er drehte sich noch einmal zu Laura um, bevor er den Raum verließ. Dann ging er durch ihre Wohnung und umarmte jeden Gegenstand mit einem langen Blick voller Trauer und Wehmut.
An diesem Abend kehrte Luciano Simonella nicht mehr nach Hause zurück. Und auch nicht am nächsten Tag. Nachdem sein Schwager zwei Tage später eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, wurde sein Wagen, ein Porsche Carrera, am Abend des Samstags, des 10. März, an der Provinzstraße 72 knapp hinter Garlate Richtung Norden nach Pescate am Straßenrand gefunden. Ein auffälliger Wagen: Schön, luxuriös, glänzend stand er so weit auf dem Grünstreifen, dass ein Hinterrad halb in der Luft hing.
Die Carabinieri von Pescate hatten den Wagen gefunden. Sie waren dem Hinweis eines Anwohners gefolgt, kontrollierten daraufhin das Nummernschild und stellten dabei fest, dass sein Besitzer am Tag zuvor als vermisst gemeldet worden war.
Das Auffinden des Wagens löste Beunruhigung aus, und die Zeitungen spekulierten ganz offen über die Möglichkeit, dass der Ingegnere sich unter der Last seiner privaten Probleme und der Konflikte mit der Justiz selbst das Leben genommen haben könnte. Diese Vermutung schien äußerst glaubhaft: Das Auto, ein wahres Schmuckstück, stand am Ufer eines Sees, der zu jeder Jahreszeit eiskalt und düster war, an einer abschüssigen Stelle, und die Schlüssel steckten noch im Zündschloss. Auf dem Beifahrersitz lag Simonellas blauer Kaschmirmantel akkurat mit dem Futter nach außen zusammengefaltet, darauf sein Mobiltelefon und eine Brieftasche aus Leder mit den Papieren des Eigentümers: Personalausweis, Gesundheitskarte der Region Lombardei, Ausweis vom Lions-Club, Kreditkarten und Wohnungsschlüssel. Nur der Führerschein fehlte.
Die Taucher suchten eine ganze Woche lang immer wieder, wobei sie ihre Versuche bis zur Mündung von Olginate ausweiteten, wo auf dem Seegrund extrem starke Strömungen verlaufen.
Nichts zu machen: Der Ingegnere blieb spurlos verschwunden.