KAPITEL 1

Mittwoch, 31. Januar 2007, 19:00 Uhr

Stop-and-go-Verkehr auf der Staatsstraße nach Pavia.

Auf dieser Strecke am Naviglio Pavese entlang herrscht zu jeder Tages- und Nachtzeit Krieg, vor allem auf dem Teilstück zwischen Mailand und Rozzano, wo man mit einer völlig übertriebenen Anzahl von Ampeln stolz auf die Tatsache hinweist, dass man noch Teil dieser Metropole ist.

An diesem Abend war es wegen des Regens, der Baustellen und eines Auffahrunfalls der absolute Albtraum. Vollkommen sinnlos, sich darüber aufzuregen, denn es gab so oder so kein Durchkommen. Also blieb einem nichts anderes übrig, als zu resignieren und sich in die Schlange einzureihen, dicht aufzufahren, den Fuß bis an die Schmerzgrenze fest auf das Bremspedal gepresst, die Augen starr auf die roten Rücklichter des Vordermanns gerichtet. Mit jeder Minute stieg der Zornespegel, und der Verstand war kurz vorm Durchdrehen.

Eine halbe Stunde für die wenigen Kilometer bis zur Brücke der Umgehungsstraße. Und schon nach den ersten zehn Minuten lagen die Nerven blank.

Im metallicblauen Fiat Punto war die Stimmung kurz vorm Umkippen. Das lag jedoch nicht nur am Verkehr, denn die beiden Insassen hatten schon gestritten, ehe sie sich auf einmal in einem Stau wiederfanden. Wenn sie noch wesentlich länger zusammen eingesperrt waren, würden sie demnächst mit dem Messer aufeinander losgehen. Zum Glück löste sich der Stau an der Abzweigung nach Valleambrosa ein wenig auf.

»Nee, also wirklich, da mach ich nicht mit.«

»Dann bist du wohl lebensmüde.«

»Jetzt red keinen Scheiß. Ich werd doch wohl noch mal nein sagen können …«

»Nein, mein Lieber, das kannst du nicht. Und wenn du denkst, du kannst mich in Schwierigkeiten bringen, dann heißt das nur, dass du mich nicht wirklich kennst.«

Eine nervige Schnulze ertönte aus den Lautsprechern. Gigi d’Alessio schluchzte etwas von »Mieeele« und »Saaale« und man wäre am »Maaare« …

»Und stell endlich dieses verdammte Gejaule ab!«

»Dieses verdammte Gejaule, wie du es nennst, gefällt mir nun mal, und das hier ist mein Auto. Wenn dir das nicht passt, kannst du gerne aussteigen.«

»Oh nein, ich werde jetzt nicht aussteigen. Du hast doch darauf bestanden, dass ich mitkomme, oder? Dann musst du es jetzt auch mit mir aushalten. Ich sage dir noch einmal: Ich mach da nicht mit. Du kannst gerne meinen Anteil kassieren, aber lass mich da außen vor.«

»Wollen wir wetten, dass du nicht außen vor bleibst?«

»Aber was soll ich denn machen, wenn mir das nun mal absolut gegen den Strich geht? Hier geht’s nicht darum, ein bisschen Koks zu verticken! Du bist verrückt. Ihr seid alle verrückt! Das ist doch ein … Und dann … Nein, nein, nein und noch mal nein. Doch nicht die Kleine!«

»Sei bloß still. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dein verfluchtes Maul halten sollst, du verdammter Idiot!«

»Aber hier sind doch bloß wir beide, sonst keiner!«

»Von wegen nur wir beide! Du kannst nie wissen, wer gerade zuhört, wenn du was sagst. Du musst lernen, dein Maul zu halten, wenn du deine Kinder aufwachsen sehen willst.«

»Aber ich hab doch gar keine!«

»Und das ist auch gut so, denn wenn du weiter so ein Zeug quatschst, lebst du nämlich gar nicht lang genug, um welche in die Welt zu setzen. Jetzt hör gut zu, denn ich werde es dir kein zweites Mal mehr sagen: Wenn du nicht aufpasst, kann dein Vater demnächst was über dich in der Zeitung lesen, genau, das kann der!«

»Was soll das denn jetzt? Drohst du mir etwa? Meensch, jetzt hab ich aber Angst!«

»Nein, ich rück dir bloß den Kopf zurecht! Zum letzten Mal: Du solltest dich lieber nicht so anstellen. Das muss schnell über die Bühne gehen, spätestens nächste Woche. Und wir müssen das unter uns ausmachen. Nur ich und du, du und ich. Da gibt es kein Aber. Du machst deinen Job, Bürschchen, und dann kein Wort darüber. Ist das klar? Und du nimmst genauso viel Risiko auf dich … So ein Scheißverkehr! Wo soll ich dich rauslassen?«

»Fahr noch da vorne bis zur Ampel … Jetzt halt an. Ich bin da.«

»Is’ gut. Und denk daran, was ich dir gesagt habe. Bis heute Abend.«

»Ja, in der Via delle Pioppe …«

»Und wenn du mich noch mal warten lässt wie das letzte Mal, setzt es gleich was. In der Gegend stinkt es gottserbärmlich.«

»Is’ ja gut, ciao.«

Mit quietschenden Reifen fuhr der Fiat Punto wieder los und wäre wenige Meter später um Haaresbreite von einem Ford Focus gerammt worden.

 

Rozzano: eine größere Gemeinde im Hinterland Mailands. Die ortsansässigen Chicos nennen es »RozzAngeles«. Und lassen sich auf den Arm tätowieren: »Ich bin Amerikaliano aus RozzAngeles«. Oder: »Born in RozzAngeles«. Und die größten Zyniker: »Fucking in RozzAngeles«.

Durch den Ort verlief eine unsichtbare Grenze - auf der einen Seite schäbige, verwinkelte Viertel, in denen man verloren war, wenn man sich verirrte, auf der anderen schöne, großzügig angelegte Häuser mit einem ordentlichen Gärtchen. Möchtegerneleganz von protzigen Wohnanlagen neben deprimierenden Plattenbauten, gepflegte Grünanlagen versus räudige Vorgärtchen, in denen das Gras schon krank aus dem Boden spross. Rozzano war der verkörperte Gegensatz. Schwarz und weiß, Licht und Schatten, Himmel und Hölle.

In der Via delle Pioppe gab es allerdings nichts als Hölle.

Eigentlich gehörte diese Sackgasse noch zum Stadtgebiet von Mailand, denn das Ortsendeschild stand einige Meter hinter dem Straßenanfang. Wer in dieser nur teilweise asphaltierten Straße, an deren Ende eine illegale Müllkippe lag, einen festen Wohnsitz hatte, betrachtete sie bereits als zu Rozzano gehörig.

Für die vielen Menschen, die hier in ausgemusterten Wohnwagen oder Autowracks Unterschlupf fanden, war das Niemandsland.

Und wer aus Versehen in diese Straße einbog und sie ganz bis zum Ende lief, sah in ihr ein heruntergekommenes, stinkendes Loch, in dem es nicht einmal am Tag richtig hell wurde, weil die Brücke der Umgehungsstraße darüber hinwegführte, und Ratten und Drogensüchtige in fröhlicher Gemeinschaft lebten, während sie sich ungestört paarten - also die Ratten jedenfalls - oder sich einen Schuss setzten - die Drogensüchtigen -, all dies im Schein der letzten Leuchtreklame, die die Grenze zwischen der Zivilisation und dem Niemandsland markierte.

»Bar Dany«. »Bar Dny«.

Das »a« der pinkfarbenen Leuchtreklame über der Tür des ziemlich schmierigen Lokals fiel öfter aus.

Während der Öffnungszeiten, also von sieben Uhr morgens bis um elf Uhr abends, konnte man durch ein verdrecktes Fenster einen Blick in das Innere werfen - abgenutzte Resopaltische, eine Theke mit der alten Kaffeemaschine von Cimbali zur Linken und das Regal mit den Spirituosen dahinter.

Auf den Flaschen keine Markennamen, alles Billigware. Ein schäbiger Ort für erbärmliche Leute, das war die Bar Dany.

Zumindest wirkte sie so.

Man musste schon in dieser finstersten Peripherie im Südosten Mailands geboren sein und ein absolut unwiderstehliches Verlangen nach einem Kaffee haben, um dort einzukehren. Und doch gab es das Dany schon seit Ende der Sechzigerjahre, es war praktisch genauso alt wie die balkonlosen Betonklötze mit den scheinbar willkürlich angeordneten Fenstern, die planlos auf jedem verfügbaren Quadratmeter Boden hochgezogen wurden, ehe das Überbrückungsgesetz von 1967 die Bauwut der Nachkriegszeit ein wenig bremste. Seit damals hatte sich in der Bar nichts verändert.

Sie war so trostlos, dunkel, heruntergekommen und dreckig geblieben, als sollte sie sich nicht von dem Gebäude abheben, in dem sie untergebracht war. Oder von all den anderen Wohnhäusern rundherum.

Legaler Umsatz: die Einnahmen durch ein paar Gläschen Weißwein und ein paar Tassen Espresso. Illegaler Umsatz: jede Woche einige hunderttausend Euro. Und zwar so viel Geld, dass der Wirt, der kaum mehr als ein Strohmann für den eigentlichen Eigentümer war, zunächst ein ganzes Wohnhaus aufkaufen konnte, wobei er die Wohnungen auf die Namen zahlreicher Verwandter eintragen ließ, von denen schon einige auf dem nahe gelegenen Friedhof lagen, und nun seit mehreren Jahren ziemlich viel Geld zu Wucherzinsen verlieh und dadurch zahlreiche verzweifelte Schuldner in der Hand hatte.

Es existierten viele Lokale dieser Art am äußersten Rand von Großstädten. Schmutzige Läden, die als Tarnung für alle möglichen illegalen Geschäfte dienen.

Die Bar Dany war anders.

Genau wie die nächtliche Kundschaft, die das in mehrere, sauber voneinander getrennte Räumlichkeiten ausgebaute Kellergeschoss aufsuchte, zu dem man nur über die schmalen Stufen einer gut verborgenen Wendeltreppe Zugang hatte.

Wer sich hier an einem wackeligen Geländer festhielt und hinunterwagte, betrat einen großen Raum, der ein illegales Spielkasino beherbergte. Hier gab es alles: Glücksspiel, aber auch Wetten einschließlich verbotener Hundekämpfe. Außerdem illegale Fußballwetten und Drogen.

Wenn dieses improvisierte Vorstadtspielkasino seine Pforten öffnete, was man den Gästen über ein vereinbartes Zeichen mitteilte, sah man hier Lederjacken in demokratischer Zweisamkeit mit Kaschmirblazern, speckige Kappen neben Borsalinohüten, ausgelatschte Halbschuhe neben schicken Mokassins von Tod’s.

Schwarzer Anzug war hier nicht vorgeschrieben.

Unter den nächtlichen Besuchern des Dany wurden keine sozialen Unterschiede gemacht - Neureiche waren ebenso willkommen wie solche, die noch auf das große Geld warteten, solange sie gut gefüllte Taschen hatten.

Die Spieler kamen gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig, kurz vor der regulären Sperrstunde. Sie tranken ein Glas am Tresen und warteten auf das vereinbarte Zeichen. Ein Wink vom Wirt und einer nach dem anderen verschwand nach hinten, als müsste er dringend auf die Toilette. Dort wurden sie dann von der Wendeltreppe verschluckt, die tagsüber unter einer großen Bodenluke verborgen war.

Im großen Spielsaal roch es wie früher in einem Vorstadtkino, nach abgestandenem Zigarettenqualm, Brillantine, Staub und Schweiß, denn die Klimaanlage reichte nicht aus, um für frische Luft zu sorgen. Dafür war es hier sauber. An den wie üblich mit grünem Filz bespannten Spieltischen standen bequeme Sessel, die kleine chromblitzende Bar war reichlich bestückt mit Markengetränken, und die Beleuchtung war genau geplant, damit sie keine trügerischen Schatten auf die Spieler warf.

In diesem Saal ging es um hohe Einsätze. Aber nicht das illegale Glücksspiel war die eigentliche geheime Besonderheit des Dany. Nein, man konnte behaupten, dass das durchaus einträgliche Geschäft mit Poker, Würfeltischen, Wetten aller Art und sogar dem Geldverleih zu Wucherzinsen in Wirklichkeit wiederum nur eine Art Tarnung darstellte. Denn bei aller Illegalität waren das ziemlich unschuldige Vergnügungen. Zumindest im Vergleich zu dem, was sich hinter der beidseitig dick gedämmten Zwischenwand abspielte.

Nur einem handverlesenen Publikum war es vergönnt, durch die Rückwand einer Schrankattrappe dorthin zu gelangen, und auch nur, wenn niemand den Spielsaal besuchte.

Hier befanden sich noch einmal zwei Geheimräume, die komplett gefliest und schallgedämmt waren. Der erste war eine Art Kinosaal voller optischer und akustischer Hightech-Geräte, an den sich hinter einer schweren Panzertür eine mehrere Meter tiefe zylinderförmige Grube mit einem fest gemauerten Umlauf samt Geländer anschloss.

In dem Raum hinter der Schrankattrappe und diesen dicken Mauern, in dieser in den Sockel des Hauses eingelassenen Grube vermischte sich alles, verdrehte und änderte sich alles, bis es schließlich aufhörte zu existieren.

Worte, Zeit, Gedanken verloren hier ihre Bedeutung. Zeit und Raum dehnten sich aus und zogen sich gleichzeitig zusammen - wurden zu unbekannten Dimensionen.

Licht und Schatten, Kälte und Wärme, Lärm und Stille - alles vermischte sich zu einer einzigen Empfindung.

Schmerz. Schmerz. Nichts als Schmerz.

Von dem es nur eine Erlösung gab: einen schnellen Tod.