KAPITEL 86

Montag, 12. März, 11:30 Uhr

Sandra Leoni brach der kalte Schweiß aus.

Sie zitterte vor Wut.

Mafia!

Nein, nicht die eine Mafia, sondern gleich mehrere!

Dieser Fall war davon durchsetzt. Ganz bestimmt hatte man ihnen deshalb die Ermittlungen erschwert.

Wie gewöhnlich gingen die Carabinieri auf eigene Faust vor. Und die SCO arbeitete im Verborgenen.

In ihr brodelte es, wieder einmal hatte man die Abteilung Verbrechensbekämpfung ausgeschaltet, um Seiner Herrlichkeit, dem Zentralen Einsatzkommando SCO, Platz zu machen, das theoretisch nur ihre Ermittlungen hätte aufnehmen sollen und stattdessen alles an sich gerissen und sie ausgebootet hatte. Mit anderen Worten: Jemand ganz oben hatte entschieden, dass sie nicht gut genug für den Fall waren, und hatte deshalb die Ermittlungen, die eigentlichen Ermittlungen, an die Spezialisten weitergereicht.

Natürlich machte man sich nicht die Mühe, sie darüber zu informieren.

Den Carabinieri war daraus kein Vorwurf zu machen. Schließlich war einer von ihren Leuten zu Tode geprügelt worden. Während ihrer Ermittlungen hatten sie zufällig eine Spur gefunden.

Sie haderte nur mit ihren eigenen Vorgesetzten.

In der Polizei schotteten sich die einzelnen Abteilungen gegeneinander ab. Wie viele Ermittlungen waren schon erfolglos geblieben, nur weil die einzelnen Abteilungen nicht miteinander kommuniziert hatten? Genau dafür hatte man ja die SCO aufgebaut: um Informationen zu Fällen, die im Verdacht standen, etwas mit organisiertem Verbrechen zu tun zu haben, zu bündeln und zu vergleichen. Stattdessen war diese Institution nur noch ein weiterer hermetisch abgeschotteter Verein mehr geworden!

Um Gottes willen ja nie jemandem, der jeden Tag draußen auf der Straße sein Leben riskierte, die kleinste Information zukommen lassen. Schon ein »Vielen Dank, aber jetzt überlasst ihr besser uns das Feld« wäre zu viel gewesen.

Sie hätte merken müssen, dass etwas Großes hinter dem Fall steckte. Zuerst diese Überdosis an Meetings und Briefings, dann schien auf einmal alles zum Stillstand gekommen zu sein. Man hatte sie nicht mehr zu Meetings eingeladen und hatte ihnen weder Daten zum Fall noch andere Informationen zukommen lassen. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass jetzt andere Abteilungen daran arbeiteten.

Wütend warf sie die Akte in eine Schublade und rief Marino an.

»Kaffee?«

»Noch einen?«

»Ja, aber nicht hier.«

Er hatte ihren Anruf schon erwartet und meinte lächelnd:

»Okay, in dreißig Minuten in der Bar gegenüber.«

 

»Was ist nun? Hast du den Kram gelesen, den ich dir gegeben habe?« Ispettore Capo Marino wurde langsam gereizt. Er hatte seinen Cappuccino schon ausgetrunken, während der von Sandra Leoni allmählich kalt wurde. Sie spielte mit dem in sich zusammengesunkenen Milchschaum und wollte nicht mit der Sprache heraus.

»Was glaubst du, warum sind wir wohl hier?«, antwortete sie und sah ihn dabei nicht an.

»Dann rede endlich. Ich will hier nicht meinen Urlaub verbringen.«

»Was ist mit Lijuba Ivanova passiert?«

»Du meinst, mit deiner ehemaligen Kollegin von der Straße?«

»Vince, lass den Quatsch, okay?«

»Der Bericht liegt in der Akte. Aber man überlegt noch, ob sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen wird.«

»Worauf warten die denn noch? Dass man sie irgendwo zerstückelt auffindet?«

»Ganz ruhig, Leo’. Sie wird bereits beschützt. Im Moment versteckt man sie schon in einem von der Polizei bewachten Haus, und dann gibt es den Artikel 18 des Einwanderungsermächtigungsgesetzes, der ihr zum Schutz der Gesellschaft eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung zugesteht …«

»Ich meinte eigentlich, warum haben wir nichts mehr gehört, nachdem ich diese Spur nach Moldawien eröffnet habe? Nicht einmal du? Vor allem du! Und jetzt versuch mir nicht zu erzählen, die haben nicht weiterermittelt. In der ganzen Sache steckt die SCO dick mit drin. Und die Koordination der Ermittlungen hat jetzt die DDA übernommen. Na ja, ich will nichts sagen, das ist ihr gutes Recht: Es geht um die russische Mafia. Aber warum müssen wir alles aus den Dokumenten erfahren, die uns die Carabinieri weitergeben? Carabinieri, mehr sage ich nicht!«

Eine hübsche Frau war sie! Vincenzo Marino beobachtete schweigend, wie sie sich aufregte, bis ihre Blicke sich trafen und er fast in ihren Augen versank.

Sie sah sofort weg und widmete sich angelegentlich ihrem Cappuccino, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie rot wurde. Er bemerkte es und lächelte.

Als sie ihn lächeln sah, wurde sie wütend.

Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab, keiner von beiden sagte ein Wort. Oder machte eine Handbewegung.

»Vince, die Sache entgleitet uns. Wissen wir denn nichts darüber, wie es mit den Ermittlungen in Rozzano weitergegangen ist? Wenn ich mich nicht irre, sollten wir doch eigentlich die Carabinieri unterstützen?«

»Du hast Recht. Aber nach der Selbstanzeige des Pfarrers und dem Eingreifen des Bischofs ist alles an den Staatsanwalt der DDA gegangen. Und Antonio Cassanese hat aus seiner übertriebenen Vorliebe für die SCO nie ein Hehl gemacht. Jetzt bearbeiten Laurenti und die Scurato den Fall. Ich habe ihre Berichte gesehen … Leo’, sient’a me, hör mir zu, Leo’«, Marino legte seine Hand auf ihren Arm, und seltsamerweise ließ die Leoni es geschehen, machte nicht einmal den Versuch, sich dieser warmen und gar nicht so unangenehmen Berührung zu entziehen. »Ich spreche jetzt als Freund zu dir. Im Moment sind wir nur zwei Freunde, die hier in der Bar sitzen und Cappuccino trinken. Verstanden? Gut! Die Ermittlungen sind eröffnet, und wenn uns die Vorgesetzten keine anderslautenden Direktiven oder Verbote erteilen, was bis jetzt nicht geschehen ist, haben wir das Recht, den Fall weiterzuverfolgen, und müssen uns von niemandem Befehle erteilen lassen. Also, tu lieber was, anstatt dich wegen etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann. Heb deinen schönen knackigen Hintern vom Stuhl, geh raus, und ermittle!«

»Spinnst du?« Sandra Leonis Gesichtsfarbe spielte jetzt ins Blauviolette. »Wenn der Staatsanwalt …«

»Welcher Staatsanwalt? Die Scauri oder Cassanese? Nein, hör auf mich: Lass die Staatsanwälte außen vor. Es sind zu viele und sie verursachen nur Chaos. Falls du eine Spur hast, ein Verdachtsmoment, eine Idee, dann leg los, und tu, was du denkst. Und wenn du Genehmigungen brauchst, komm zu mir, damit wir sie besorgen. Ardazzone wartet nur darauf, dass wir ihm was bringen. Es ist ganz normal, dass du dich aufregst, Leoni. Doch Jammern führt zu gar nichts, wenn du Ergebnisse willst, musst du die Verdächtigen verfolgen und ihnen keine Luft zum Atmen lassen. Natürlich immer im Rahmen des Gesetzes und der Verfahrensordnung, sonst geht dann noch alles vor Gericht den Bach runter.«

»Okay, Vince. Wenn du mit deiner Lektion fertig bist, kann ich dann jetzt weitermachen …«

Sandra Leoni platzte fast der Kragen. Trotzdem entzog sie ihren Arm nicht Marinos Griff. Er nahm schließlich seine Hand weg. Und sah auf die Uhr.

»Nun red schon!«, forderte er sie auf.

»Wir müssen aus den beiden, die man in der Kirche geschnappt hat, Informationen herausbekommen, Vince. Ich bin mir sicher, dass dort der Schlüssel zu allem liegt. Denn für die Geschehnisse in Rozzano und den Fall Simonella gibt es ein gemeinsames Muster. Darauf würde ich meinen Dienstausweis verwetten. Und was ist mit dem Jungen im Krankenhaus? Ist jemand von uns dort, um ihn zu befragen, sobald er in der Lage ist - falls er das je sein wird -, uns zu erzählen, was passiert ist? Und die anderen Verdächtigen? Wie weit sind wir mit den Staatsanwälten? Was ist mit den Abhörungen? Hör mal, ich hab da eine Idee. Ich möchte gern die Mutter der Kinder aus Rozzano besuchen. Die hat niemand mehr befragt. Sie nicht und auch nicht ihren schmarotzerischen Lebensgefährten. Ich bin mir sicher …«

»Na gut, meinen Segen hast du, Leoni. Doch vorher schau mal in die Abhörprotokolle. Vielleicht findest du da einen Anhaltspunkt für die richtigen Fragen.«

»Richtig. Danke, Vince. Ich musste einfach ein wenig Dampf ablassen.«

»Aber gern, Leo’. Sag mir aber eins. Warum wolltest du mich hier in der Bar treffen?«

»Ich hatte Lust auf einen richtigen Cappuccino, Vince.«

Marino lachte laut. Und zeigte auf ihre beinahe unberührte Tasse.

»Ach wirklich?«

Beide erhoben sich gleichzeitig, und er ging zur Kasse. Ein bisschen enttäuscht, denn eine Frage hätte sie ihm noch stellen sollen.

Warum stand der Pfarrer immer noch unter Hausarrest?

Eigentlich nur eine klitzekleine, banale Frage. Aber sie hatte sie nicht gestellt. Die Kleine musste ihren Gesichtskreis ein wenig erweitern, wenn sie bei ihnen in der Abteilung bleiben wollte.

 

Leoni versuchte nicht sehr überzeugend, ihren Cappuccino, den sie nicht getrunken hatte, selbst zu bezahlen. Trotzdem war sie sehr zufrieden mit dem Verlauf ihres Gesprächs. Sie hatte sich die Ermittlungen in alle Richtungen gesichert, ohne dass sie ihn selbst darum gebeten hatte. Was zumindest nicht korrekt gewesen wäre. Eine grenzenlose Amtsanmaßung ihren Kollegen Ragazzoni und Pogliani von der Mordkommission gegenüber. Genau wie denen von der SCO, aber die sollten bleiben, wo der Pfeffer wächst!

Äußerst beschwingt ging sie in ihr Büro im Polizeipräsidium zurück. Sie hatte eine klare Vorstellung im Kopf und konnte es gar nicht abwarten, sie zu überprüfen. Musste jetzt sehr viele Leute hören.

Vor allem die Mutter der Kinder aus Rozzano. Dann den Pfarrer.

Auf Umwegen hatte sie erfahren, dass er seit dem Besuch des Bischofs im Präsidium nicht mehr unter Hausarrest stand, doch darüber würde Schweigen bewahrt, und der Grund dafür war nicht schwer zu erraten. Sie hätte sich gefreut, wenn Marino mit ihr darüber gesprochen hätte, aber der - kein Wort. Da hatte sie begriffen, dass sie allein vorgehen musste, um an Informationen zu kommen.

In ihrem Bild spielte auch der Hilfspfarrer, dieser Don Andrea, eine Rolle, der immer so wenig greifbar war und dessen Name sich nicht einmal in den Akten fand. Und es war schon offensichtlich, dass alles dort in dem Gemeindezentrum begonnen hatte.

Und …

Der Rest würde ihr schon während der Ermittlungen einfallen.