KAPITEL 90

Dienstag, 13. März, 18:00 Uhr

Sieben Stunden später saßen sie immer noch in dem schmucklosen Raum in San Vittore. Nur Staatsanwältin Laura Scauri hatte sich im Verlauf des Nachmittags verabschiedet und das weitere Verhören den drei Beamten Tenente Colonnello Sereni, Ispettore Capo Marino und Ispettrice Leoni überlassen.

Beinahe sechs Stunden Verhör, nur durch einige Pausen unterbrochen: Andrea Della Volpe hatte seine Version der Ereignisse immer und immer wiederholen müssen, von der Vorgeschichte der Entführung von Ivan und Martina Della Seta bis zur Gewalttat an Leonardo Coronari, dem einzigen Verbrechen, dessen er im Augenblick beschuldigt wurde, und Grund dafür, dass er in Untersuchungshaft saß.

Die Aussage war aufgezeichnet und dann abgetippt worden, damit der Beschuldigte sie unterschreiben konnte. Als das Verhör endete und sich alle, der Beschuldigte natürlich ausgenommen, in der Via Filangieri voneinander verabschiedeten, hatte sich die Dunkelheit über Mailand gelegt.

Falls die Aussage von den vorhandenen Tatsachen, der Aussage des Komplizen und möglichst noch von anderen Zeugen bestätigt wurde, würde sie Licht in viele Einzelheiten bringen. Während sie mit dem zivilen Dienstwagen auf der Via Fatebenefratelli zurückfuhren, betrachteten Marino und Sandra Leoni stumm und genießerisch die bunten Lichter der Stadt, die in der vom Regen abgewaschenen und dann vom Wind getrockneten abendlichen Dunkelheit besonders hell strahlten.

Zu schön.

Zu hell.

Alles war zu viel.

»Ich muss dich loben!« Marino lächelte, aber er hielt die Augen starr auf die Windschutzscheibe gerichtet, weil sie gerade über die Kreuzung an der Porta Genova fuhren und aus drei verschiedenen Richtungen Straßenbahnen heranfuhren. »Sehr gut! Du hattest in allem Recht.«

»Ich bin ein bisschen aufs Geratewohl losgegangen, aber genau wie du glaube ich nicht an Zufälle, Vince. Zwischen dem Organisten und dem Jungen, der im Chor sang, musste es eine Verbindung geben. Außerdem stand er noch in verwandtschaftlichem Verhältnis zum Beschuldigten, also, ich bitte dich! Das passte doch genau zusammen. Aber …«

»Was aber?«

»Aber wir haben nichts erfahren, was auf eine Verbindung zwischen der Entführung der Kinder in Rozzano und der des kleinen Simonella hinweist. Und doch sagt mir etwas, dass es da eine Gemeinsamkeit gibt …«

»Leo’, jetzt übernimm dich mal nicht. Wenn es eine Verbindung gibt, werden wir sie finden. Wir haben noch nicht alle Details. Jetzt werden wir noch etwas in der Akte überprüfen.«

»Was?«

»Der Pfarrer, Leoni, der Pfarrer. Lass uns noch kurz einen Blick in die Akten werfen, und dann gehen wir beide nach Hause. Morgen erwartet uns ein harter Tag,’na giurnata’e chille. Wir werden Pasquale Scifo noch einmal vernehmen.«

»Genau, Vince, dann kann ich endlich duschen und mir diesen Gefängnisgeruch abwaschen.«

»Das könnten wir doch gemeinsam …«

»Was?«

»Duschen.«

»Vince, jetzt spielen deine Hormone wieder verrückt.« Die Leoni warf ihm einen schiefen Blick zu, aber sie hatte zu gute Laune, um ernsthaft wütend zu werden. Vor ihnen lag zu viel gemeinsame Knochenarbeit, da wollte sie seine unbeholfenen Verführungsversuche lieber mit einem Lachen abtun.

»Was den Pfarrer angeht, Vince, etwas in der Geschichte überzeugt mich überhaupt nicht. Wer hat ihn gezwungen, sich selbst eines so gemeinen Verbrechens zu beschuldigen? Dieser kleine Scherz hat uns ziemlich aus der Spur geworfen. Und wir haben eine Menge Zeit verloren. Hätte der Erzbischof sich nicht die Mühe gemacht, uns diesen Brief ins Polizeipräsidium zu bringen …«

»Leo’, dieser arme Pfarrer muss massiv erpresst worden sein. Ich denke, dass dahinter ein logischer Plan steckt. Jetzt lesen wir uns noch mal seine Aussage nach dem Eingreifen des Erzbischofs durch. Da gibt es ein Detail, das vorher sinnlos erschien, aber nach unserem jetzigen Wissensstand eine Spur eröffnen könnte, wenn … verdammt, dieser Verkehr! Vielleicht stelle ich doch die Sirene an …«

»Welche Sirene?«

Ispettore Marino resignierte lächelnd und wusste, dass er nun Ampel für Ampel im Stau zurücklegen würde.

Alle bastioni bis zur Piazza della Repubblica in einem Zivilfahrzeug zurückzulegen erforderte mehr Geduld als das Verhör eines unwilligen Zeugen, denn mitten im Stau präsentierte sich die Stadt immer von ihrer schlechtesten Seite.

Verschlossen, stur, egoistisch, so waren die Autofahrer in Mailand: Man musste nur mal zu lange an einer Ampel stehen bleiben, und sofort erhob sich ein wütendes Hupkonzert. Und wenn es etwas länger dauerte, weil einem der Motor abgesoffen war oder man den Gang nicht gleich einlegen konnte, dann hagelte es Beschimpfungen. Für alle galt immer und überall: Es gibt kein Pardon!

Marino mochte Mailand überhaupt nicht, das fing schon bei diesem kalten, harten Namen an, der überhaupt nicht harmonisch klang, so wie etwa Neapel: eine klangvolle Kombination aus Vokalen und Konsonanten, oder wie Palermo, das so weich und sanft nach dem Süden klang …

In seine Gedanken versunken, war er in die Via Fatebenefratelli eingebogen und konzentrierte sich nun darauf, einen Parkplatz zu finden. Dann verließen er und die Leoni den Wagen.

»Zu dir oder zu mir?«, fragte er sie lächelnd und wollte damit die Anzüglichkeit seiner Bemerkung unterstreichen, die ihr allerdings entging.

»Zu dir. Du hast doch die komplette Akte, oder?«

»Gut, dann also in fünf Minuten in meinem Büro.«

Als die Leoni mit zwei Tassen Espresso und einer Handvoll Schokoladenriegel aus dem Automaten dort erschien, lag die Akte schon auf Marinos Schreibtisch parat.

Marino öffnete sie und fand den dünnen Packen Papier mit Don Mario Sperolis erster Aussage, in der er sich selbst beschuldigt hatte, die Kopie seines Briefes, den der Bischof ihnen gebracht hatte, dessen freiwillige Aussage und die Abschrift der Erklärungen des Pfarrers nach dem Einschreiten Seiner Eminenz.

In zweifacher Ausfertigung.

Marino und die Leoni saßen einander gegenüber und versuchten die Dokumente in der chronologischen Reihenfolge durchzusehen, in der sie zu den Akten genommen worden waren.

Sie begannen mit der Aussage des Pfarrers.

Don Speroli gestand darin, er hätte die beiden Kinder entführt, und behauptete, das Mädchen hätte ihn sexuell angezogen. Doch unter ihren drängenden Fragen hatte er sich in deutliche Widersprüche verwickelt, irrte sich in Bezug auf Zeiten, und seine Aussage wurde außerdem vom Autopsiebericht des Jungen widerlegt. Das einzige überzeugende Detail, das zu seiner Verhaftung geführt hatte, war die Beschreibung eines anatomischen Kennzeichens, das die Mutter ihnen bestätigt hatte: ein sternförmiges Muttermal kurz unterhalb der linken Leiste. Darüber hatten die Medien nie berichtet.

Danach lasen sie sich Don Marios Brief an Seine Eminenz durch, der dem Poststempel zufolge einen Tag vor der Aussage eingeworfen worden war.

Darin stand, der Erzbischof solle nicht darauf hören, was in den Medien veröffentlicht würde. Eigentlich strafte er sich selbst im Voraus Lügen, indem er erklärte, er sei durch starken, unüberwindlichen Druck von außen dazu gezwungen gewesen, sich selbst schändlicher Praktiken zu beschuldigen, die ihm vollkommen fremd wären. Außerdem bat er dafür um Verzeihung, dass seine Aussage zumindest zeitweilig wieder die Missbrauchsvorwürfe gegen die Kirche anheizen würde.

Danach lasen sie die korrigierte Aussage Don Sperolis nach dem Eingreifen des Bischofs. Der Pfarrer hatte auf die meisten Fragen nicht geantwortet.

Das Beichtgeheimnis.

»Warum haben Sie sich selbst beschuldigt?«

»Ich musste es tun. Man hat mich dazu gezwungen.«

»Wer?«

»Darauf kann ich nicht antworten.«

»Warum hat man Sie dazu gezwungen?«

»Darauf kann ich nicht antworten.«

»Geht es zufällig um das Beichtgeheimnis?«

»Darauf kann ich nicht antworten.«

»Warum ziehen Sie Ihre Aussage zurück?«

»Ich nehme gar nichts zurück. Das hat eine kirchliche Autorität für mich getan. Der Erzbischof. Das ist seine Entscheidung. Ich füge mich nur.«

»Aber der Erzbischof hat seine Entscheidung aufgrund einer vorsorglichen Unschuldserklärung von Ihnen getroffen. Sich eines Verbrechens, das man nicht begangen hat, zu beschuldigen ist strafbar, ein schweres Vergehen nach Paragraph 369 des Strafgesetzbuches, das noch andere nach sich zieht, wie zum Beispiel Behinderung von Ermittlungen, Paragraph 648b, Falschaussage …«

»So sieht es wohl aus …«

»Das wird Folgen haben …«

»Ich bin bereit, sie auf mich zu nehmen.«

»Sie haben die Ermittlungen behindert, ist Ihnen das eigentlich klar?«

»Ich bin untröstlich darüber.«

»Wozu dieses ganze Theater?«

»Darauf kann ich nicht antworten.«

»Sind Sie zufällig im Besitz von Fakten, die uns zu Erkenntnissen …«

»Die unterliegen dem unverletzlichen Geheimnis der Beichte.«

»Sind Sie sicher, dass es unter den Ihnen bekannten Informationen keine nützlichen Einzelheiten gibt, die nicht unter das Beichtgeheimnis fallen?«

»Darüber habe ich lange nachgedacht … Doch, es gibt zwei oder drei Dinge. Ich weiß, nicht, ob sie wichtig sind. Aber während des Hausarrests im Pfarrhaus sind sie mir wieder eingefallen …«

So ein Sturkopf von Pfarrer, dachte Marino. Es hatte einen Tag gedauert, bis er diese Details endlich rausgelassen hatte.

Das erste betraf etwas, das ihm der Junge gesagt hatte.

Mausefallen!

Jemand baute sie und hatte ihm angeboten, er könnte sie mit ihm aufstellen, um Keller, Garagen und Gärten von Schädlingen zu befreien. Der Junge war begeistert gewesen, weil er sich damit etwas Geld verdienen konnte. Doch der Pfarrer hatte eine davon gesehen und ihn gewarnt. Pass auf, hatte er ihm gesagt. Dieses Zeug ist gefährlich. Du könntest einen Finger dabei verlieren.

Und es war noch gefährlicher, in den Kellern der Wohnhäuser herumzulaufen. Das hatte er Ivan auch gesagt. Jetzt konnte er sich selbst nicht verzeihen, dass er der Angelegenheit nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte und dass er sich nicht gemerkt hatte, wer diese Fallen baute. Der Junge hatte ihm den Namen genannt, aber er hatte nicht darauf geachtet, weil er abgelenkt war.

Das zweite Detail betraf eine vertrauliche Information von zwei jungen Männern. Zwei Brüder, von denen einer ab und zu das Gemeindezentrum besuchte. Mauro Dinuccio, volljährig, und Luciano Dinuccio, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Don Mario hatte ein paar Fragen in den Raum gestellt, bevor man Ivans Leiche gefunden hatte und als es noch die Hoffnung gab, man würde ihr Versteck entdecken und die Kinder nach Hause bringen. Und wer hätte da mehr helfen können als die Jungs aus dem Gemeindezentrum?

Die Dinuccio-Brüder, erklärte Don Mario, waren keine Waisenknaben, im Gegenteil. Zwei brutale Kerle mit ein paar Vorstrafen, besonders der ältere Bruder. Aber sie waren freiwillig zu ihm ins Pfarrhaus gekommen, um ihm etwas Beunruhigendes zu erzählen.

In den Tagen nach dem Verschwinden der Kinder hatte jemand an einem üblen Ort über sie geredet. Einem Ort, an dem um große Summen gespielt wurde. Die Dinuccio-Brüder, die an den gefährlichsten Plätzen geboren und groß geworden waren, sagten, dass dort jemand über Ivans Schicksal Bescheid wüsste, und dabei hatten sie der Meinung des Pfarrers zufolge ängstlich gewirkt. Er hatte nicht früher darüber gesprochen, weil diese Information nicht mit seiner Selbstbeschuldigung zu vereinbaren gewesen wäre.

Das dritte Detail war am beunruhigendsten, auch das stammte von den Dinuccio-Brüdern. Der Mann, der etwas über das Verschwinden der Della-Seta-Kinder zu wissen schien, war nach den Worten von Mauro Dinuccio »einer von den widerlichen Perversen, der nie einen Cent hat. Einer, der immer mit Kindern zu tun hat«. Nach Meinung der Dinuccios war dieser Typ genau zeitgleich mit dem Verschwinden der Kinder plötzlich zu so viel Geld gekommen, als hätte er im Lotto gewonnen.

Der Aussage war die Adresse der beiden Jungen beigefügt: eine Werkstatt in der Via Genova in Pieve Emanuele … Diese Adresse legte im Kopf des Ispettore einen Schalter um. Pieve Emanuele …

Für einen Ermittler gehört es zur unumgänglichen täglichen Arbeit, sich an Daten, Namen, Orte und Gesichter zu erinnern. Es war nicht wichtig, dass er sich sofort erinnerte, wer wer war. Es genügte, dass in seiner Erinnerung irgendein Detail auftauchte: ein Name, der eines Ortes, der einen Anhaltspunkt bieten und an die Oberfläche kommen konnte, durch Gedankenketten, Assoziationen, die wesentlichen Punkte, um sich dann auch an das Übrige zu erinnern.

Pieve Emanuele … Via Genova …

Der Ispettore suchte fieberhaft in der Akte nach gelb und rot markierten Stellen, über die er gestolpert war und die er sich immer wieder anschauen wollte. Da war ja die Adresse: die Werkstatt, die dem Lebensgefährten der Mutter beider Kinder das Alibi gegeben hatte.

»Na gut, Rozzano ist nicht New York«, bemerkte Marino. »Aber wenn die gleiche Adresse zweimal aus verschiedenen Gründen in der Akte erscheint … Leo’, jetzt haben wir etwas, womit wir arbeiten können. Da ist es … Ob wir diesem General jetzt wieder einen Besuch abstatten sollen? …«

»Tenente Colonnello, Vince. Und pass auf, ich glaube nicht, dass Glauco sehr viel Spaß versteht.«

»Das habe ich gemerkt. Sehen wir mal nach, ob die Carabinieri die beiden Brüder schon befragt haben. Sonst suchen wir sie eben auf.«

»Eigentlich hätte ich noch was anderes vor. Kannst du nicht Pogliani oder Ragazzoni mitnehmen? Zwei Typen, die der Pfarrer als ›schlimme Finger‹ bezeichnet hat, sollten doch lieber von einem Mann verhört werden.«

In Wahrheit schmerzten Ispettrice Leoni allein schon bei dem Gedanken, noch einmal ins Auto zu steigen und die Stadt zu durchfahren, alle Gelenke. Marino fuhr ruckartig, er fluchte, überholte rechts und überfuhr dabei beinahe Fußgänger.

»Ich könnte natürlich, aber ich möchte nicht. Ich brauche dich.«

»Warum?«

»Weil du einen unglaublichen Blick für Details hast, und außerdem benötige ich deine Intuition. Während ich sie befrage, sollst du sie die ganze Zeit beobachten …«

»Körpersprache und der übliche Quatsch?«

»Genau das und dann …«

»Was?«

»Ein gemeinsames Abendessen. Ich bezahle.«

»Meinen Glückwunsch, Vince, es ist dir wirklich mit einem einzigen Satz gelungen, dass ich mich ganz klein fühle und mich gleichzeitig sexuell zu diskriminieren.«

Marino starrte sie mit offenem Mund an.