KAPITEL 26
Donnerstag, 8. Februar, 21:15 Uhr
An diesem Abend kamen Erwachsene und Kinder zu spät zur Probe.
Durch den Schnee waren die Straßen so gut wie unpassierbar geworden, und der Verkehr war völlig zusammengebrochen. Um Viertel vor neun stauten sich auf den Hauptverkehrsadern stadtauswärts immer noch die Wagen der Berufstätigen, die um diese Zeit eigentlich bereits lange am Abendbrottisch sitzen sollten.
Fünfzehn Minuten nach dem offiziellen Probenbeginn hatten sich jedoch alle in der Kirche versammelt: Chorsänger, Organist und Maestro.
Alle außer Ivan Della Seta, dem ersten Solisten.
Obwohl die Ölheizung hinter dem Hochaltar seit dem Vespergottesdienst gebrannt hatte, war die Luft an diesem Donnerstag im Februar so kalt, dass der Atem in der Luft kondensierte. Als die Chorsänger sich auf den Altarstufen aufgestellt hatten, saß Leonardo Coronari bereits seit einer guten halben Stunde vor dem elektrischen Keyboard, das er zu Füßen des Altars platziert hatte. Oben auf der Empore hätte er niemals spielen können - die Töne wären ihm in den Orgelpfeifen eingefroren.
Die Finger des Organisten, von halben Handschuhen geschützt, glitten ununterbrochen über die Tasten, um das Blut in Fluss zu halten.
Es war Februar, und nach einem relativ milden Januar hatte eigentlich niemand mehr erwartet, dass die Temperaturen noch einmal so tief in den Keller gehen würden. Nach einem Blick auf den Maestro beschloss der Organist, dass sie an diesem Abend das Programm etwas abkürzen und die Chorsänger früher als üblich heimschicken sollten.
So ein talentierter Junge, dieser Leonardo. Don Mario betrachtete ihn zufrieden wie einen eigenen Sohn, und in gewisser Weise war er das auch, denn er hatte ihn aufwachsen sehen und gerade noch verhindern können, dass er im Jugendgefängnis landete.
Eigentlich war es um nichts Schlimmes gegangen: ein wenig Marihuana, ein paar Joints, die man während seiner Zeit auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium in seinem Schulranzen gefunden hatte. Aber das hätte schon genügt, um sein Leben zu zerstören. Zum Glück war der Don auf eine verzweifelte Bitte der Mutter hin sofort zum Jugendgericht geeilt, um noch rechtzeitig zu einer Anhörung beim Richter zu kommen. Er hatte für den Jungen gebürgt und eine Art Vormundschaft übernommen, und dann wurde der Vorfall aus den Akten gelöscht.
Don Mario drückte nicht gern ein Auge zu, wenn er sah, wie sich jemand eine Tüte oder eine Spritze reinzog. Aber er war Realist. Er wusste, dass man in dieser Gegend die Jugend ebenso wenig von Drogen fernhalten konnte wie Bayern vom Bier.
Nachdem er Leonardo vom Jugendgericht abgeholt hatte, hatte er ihn zunächst mit ins Pfarrhaus genommen. Er hatte sich für eine gute Stunde mit ihm in sein kleines Büro eingeschlossen, und als die Tür wieder aufging, ließ Leonardo seinen Kopf so reumütig hängen, dass seine Ohren beinahe am Boden schleiften. Von da an hatte es mit ihm keine Probleme mehr gegeben.
Als kleiner Junge war Leonardo Messdiener gewesen. Er war jeden Tag pünktlich um sieben Uhr zur Frühmesse erschienen, selbst wenn dort nur die gleichen frömmelnden alten Frauen auftauchten, die immer kamen und keinen einzigen Gottesdienst, auch keine Gedenkmesse und kein Rosenkranzgebet, ausließen.
Leonardo kam wie Ivan aus schwierigen Familienverhältnissen. Seine Mutter schuftete den ganzen Tag hart, sie schrubbte Böden und Treppen in Mietskasernen, bügelte bei Privatleuten, und am Abend bediente sie noch bis zwei Uhr nachts in einer Pizzeria. Es war praktisch nie jemand zu Hause. Niemand fragte Leonardo, wie es ihm ging, ob er Hunger hatte oder etwas brauchte. Und vielleicht war das auch besser so, wenn sich sein Vater einmal blicken ließ, bewies er ihm seine Zuneigung mit dem Riemen.
Aber zum Glück gab es ja das Jugend- und Gemeindezentrum.
Am Nachmittag war Leo immer unter den Ersten, den Ranzen hinten auf dem Rücken und den Fußball unterm Arm. Und dort, in dem kleinen Saal, in dem auch die Ehevorbereitungskurse für Verlobte abgehalten wurden, dem einzigen Raum, der im Winter richtig geheizt wurde, machte er zunächst seine Hausaufgaben, später begann er mit den Fingerübungen auf dem Keyboard. Und wenn der Pfarrer oder dessen Hilfspfarrer Don Andrea ihn fragten, ob er sie begleiten wolle, um jemandem die Letzte Ölung zu erteilen, sagte er niemals nein. Denn im Gegenzug bekam er meist etwas Geld zugesteckt, wovon er seine Klavierstunden bezahlte. Dadurch konnte er mit vierzehn erfolgreich die Aufnahmeprüfung auf der Scuola di Musica ablegen und alle Kurse absolvieren.
Don Marios Fürsorge hatte sich gelohnt. Leo war nie vom rechten Weg abgekommen und hatte sich musikalisch weiterentwickelt. Nach dem Klavierexamen hatte er seine Liebe zur Orgel entdeckt und von Don Mario die Erlaubnis erhalten, auf dem großartigen Instrument der Kirche zu üben. Und seit er zum ersten Mal seinen Fuß auf diese schmale Empore gesetzt hatte, war diese zu einer Art Wohnzimmer für ihn geworden.
Sobald Leonardo sah, dass die Kinder eingetroffen waren, hielt er Ausschau nach Ivan. Er mochte ihn besonders, da er wusste, dass er eine genauso schwere Kindheit hatte. Und bis zum Abitur lag vor Ivan noch ein langer Weg voller Stolpersteine, immer in Gefahr, doch im Jugendknast zu landen.
Was für eine Zukunft hatte ein Junge denn zu erwarten, der in einer Art Niemandsland am äußersten Rand gleich zweier Gemeinden, Mailand und Rozzano, aufwuchs? In einem Wohnblock, der schon zehn Jahre vor seiner Geburt für unbewohnbar erklärt worden war? Wo überall die Asbestverkleidung hervorschaute und in der Hälfte der Wohnungen Hausbesetzer lebten?
Für Leo bestand die einzige Alternative zum Jugendzentrum in dem leeren, am Rand mit spärlichem Grün bewachsenen Platz, der zwischen den Sozialbauten klaffte wie ein Loch in einem faulen Zahn. »Piazzetta Meda« hatte mal auf einem Straßenschild gestanden. Aber seit dieses von unbekannter Hand mit schwarzer Lackfarbe übersprüht worden war, hieß dieses zubetonierte Rechteck bei allen nur noch »Piazzetta Medellin«.
Ein Name, ein Programm.
In der Gegend gab es guten Stoff zu kaufen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jeder unter sechzig, der auch nur einen Moment auf dem Bürgersteig stehen blieb, wurde sofort angesprochen: Willste was? Ein bisschen Gras? Speed? Oder lieber ein Piece Shit?
Leo mochte Ivan, weil sie viel gemeinsame Zeit im Jugendzentrum verbracht hatten, wo man sich manchmal zu Tode langweilte, und obwohl der Pfarrer ein bisschen grob war, hatte man dort wenigstens seine Ruhe. Hauptsache, man geriet nicht in Schwierigkeiten.
Und Ivan mochte Leo, weil er eben Leo war - das war ihm genug.
Leonardo war ein stiller Jugendlicher, der wegen seines ewigen Heuschnupfens, unter dem er viele Monate des Jahres zu leiden hatte, immer ein wenig kränkelte. Er war blass, hatte Myriaden rötlicher Sommersprossen im Gesicht und widerspenstige Haare, obwohl er erst fünfundzwanzig war, bekam er schon eine leichte Stirnglatze. Mit Sicherheit wirkte er nicht gerade attraktiv. Aber er besaß ein großes musikalisches Talent und verfügte über so viel Ausdauer und Fleiß, dass er sich tatsächlich zu einem virtuosen Berufsmusiker entwickelt hatte.
Neben der Orgel hatte er noch eine weitere Leidenschaft, Komposition. Leonardo träumte davon, eines Tages ein Werk wie Jesus Christ Superstar zu schreiben. Um sich weiter seinen Klavierunterricht finanzieren zu können, vermittelte er dicklichen, lustlosen Kindern Grundkenntnisse auf diesem Tasteninstrument und spielte auf Hochzeits- und Trauerfeiern.
Um Don Mario und auch Maestro Lucio Lovati einen Gefallen zu tun, hatte er sogar zugestimmt, den Chor auf der Orgel zu begleiten, wenn dieser nicht a cappella sang, und hatte dabei ein anderes großartiges musikalisches Talent kennen gelernt.
Ivan.
Und hatte sich natürlich in ihn verliebt.
An diesem Donnerstagabend - der Chor hatte schon Aufstellung genommen: die Erwachsenen hinten, Kinder nach vorne - wartete Leonardo ungeduldig darauf, dass Maestro Lovati endlich das Zeichen zum Anfangen geben würde, als die kleine Tür zur Sakristei links vom Altar aufging und Don Mario beinahe im Laufschritt die Kirche betrat.
Er wirkte ernst.
Nein, höchst besorgt.
Nachdem er vor dem Tabernakel mit dem gespenstisch flackernden Licht das Knie gebeugt hatte, stellte der Don sich neben den Organisten und bedeutete ihm, dass er das Keyboard ausschalten sollte.
Die Chorsänger verstummten schlagartig.
»Euch allen einen guten Abend. Buona sera, Maestro. Wie laufen denn die Proben? Kommt das mit dem Programm hin?«
»Na ja, ich glaube schon.« Maestro Lovati warf ihm einen neugierigen Blick zu. Es war das erste Mal seit Bestehen des Chores, dass der Pfarrer schon während der Proben vorbeischaute. Normalerweise wählte er gemeinsam mit ihm die Stücke aus und ließ ihn dann in Ruhe arbeiten. Doch er bekam sofort eine Erklärung, warum sich Don Mario so ungewöhnlich verhielt.
»Ihr habt bestimmt schon bemerkt, dass Ivan heute Abend nicht da ist«, begann Don Mario. »Aus diesem Grund bin ich gekommen. Die Nachricht ist noch nicht an die Presse gegangen, sonst wüsstet ihr es bereits alle. Man hat mich darüber informiert, dass unser Ivan am Dienstagabend nicht nach Hause gekommen ist. Seit er das Gemeindezentrum verlassen hat, um seine Schwester von der Schule abzuholen, hat ihn niemand mehr gesehen. Weder ihn noch Martina. Beide werden vermisst.«
Der Pastor machte eine Pause, verlegenes Schweigen breitete sich aus. Kurz darauf hob er eine Hand.
»Weiß zufällig jemand von euch etwas, und damit meine ich besonders die Kinder? Hat ihn jemand gesehen? Versucht, euch an den Dienstagabend zu erinnern. Überlegt, wann ihr ihm zum letzten Mal begegnet seid. Auch die unbedeutendsten Kleinigkeiten könnten wichtig sein, um die beiden Geschwister wiederzufinden. Ich sage euch das jetzt, damit ihr vorbereitet seid, wenn die Polizei kommt, um euch zu befragen.«
»Die Polizei?«
Leonardo konnte diese überraschte Frage nicht mehr zurückhalten, die ihm unwillkürlich durch die von der Kälte aufgesprungenen Lippen kam.
»Das ist doch nicht möglich.«
Der Pastor überging ganz bewusst die bestürzte Äußerung des Organisten hinter dem Keyboard. Er hatte bemerkt, dass ihn einige Kinder mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, und wollte sie nicht mehr als nötig verängstigen.
»Ich hoffe, dass es gar nicht so weit kommen wird und die beiden Kinder bald heil und gesund nach Hause zurückkehren. Sonst kommt bestimmt innerhalb der nächsten Stunden jemand, um euch zu befragen. Doch wenn ihr einverstanden seid, solltet ihr jetzt lieber alle nach Hause gehen. Was meinen Sie, Maestro Lovati?«
»Ja, sicher, das verstehe ich. Von mir aus spricht nichts dagegen.«
Der Maestro war sichtlich erschüttert, er wurde totenblass und zitterte. Der Don dachte noch, dass er höchstwahrscheinlich seine Sorge mit einem Glas Wein herunterspülen würde. Oder auch zwei oder drei!
Na wenn schon!
»Gut. Wer bringt die Kinder heute Abend nach Hause? Ach ja, dahinten sitzen ja der Vater von Monica und Matteos Mama … Ja, dann wünsche ich allen eine gute Nacht. Leonardo, könntest du noch kurz zu mir ins Pfarrhaus mitkommen? Ich muss mit dir sprechen.«
Leonardo spürte, wie ganz plötzlich alles Blut aus seinem Kopf wich.
»Ja sicher, Don Mario«, sagte er und war jetzt weißer als ein Laken. »Ich schalte nur alles aus, und dann komme ich zu Ihnen.«