KAPITEL 24

Donnerstag, 8. Februar, ca. 06:45 Uhr

Ivan hatte sich im Dunkeln vorangetastet und war auf dem Boden vorwärtsgerutscht, und so war es ihm gelungen, sein Gefängnis zu erkunden und dessen ungefähre Größe zu bestimmen. Es war nur etwas breiter als die Abstellkammer bei ihm zu Hause, wo seine Mutter Besen, Scheuerlappen und den Staubsauger aufbewahrte, denn wenn er beide Arme ausstreckte, fehlte bloß noch ungefähr eine Unterarmlänge bis zur Wand mit der Tür.

Der Raum war wesentlich tiefer.

Ivan hatte keine Ahnung, wie lang er tatsächlich war, aber er konnte mehrere Schritte machen, bis er von dem, was eine an die Mauer gelehnte Liege ohne Matratze sein konnte, bis zur anderen Wand gelangte.

Eine Abstellkammer. Es konnte auch ein kalter, feuchter Flur sein, der nirgendwohin führte. Oder ein Kellerraum. Was auch immer es war, es war auf jeden Fall von einer unüberwindlichen Tür versperrt. Als Ivan das herausgefunden hatte, setzte er sich auf die Liege und stellte den Schulranzen neben sich, den einzigen Gegenstand, der ihm in dieser schrecklichen Umgebung vertraut war. Er schlang seine Arme um sich, um sich ein wenig zu wärmen und zu trösten, dann begann er zu weinen.

Martina.

Wo war Martina?

Er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.

Dann versuchte er sich zu überzeugen, dass die Sozialarbeiter Martina weggebracht hatten. Wahrscheinlich hatte man sie voneinander getrennt, und er musste jetzt darauf warten, dass demnächst jemand kam und ihn irgendwohin zum Arbeiten schickte.

Giulio hatte ihm doch immer gesagt: Dich sollte man zur Zwangsarbeit in den Steinbruch schicken!

Es lag jenseits seiner Vorstellungskraft, dass es noch wesentlich Schlimmeres gab, als von seiner Schwester getrennt zu sein, schon dieser Gedanke war so unerträglich für ihn, dass er in tiefe Verzweiflung versank.

Er weinte immer noch, als plötzlich auf der anderen Seite der Tür ein Licht anging. Die Dunkelheit, in der er seit wer weiß wie langer Zeit lag, war so dicht gewesen, dass der schwache Lichtschein, der unter dem Türspalt hereinfiel, ihn blendete. Er hörte schlagartig auf zu schluchzen und presste sich ganz flach an die Wand.

Ein Schlüssel wurde leise im Schloss herumgedreht. Dann hörte er das leise Klicken eines sich öffnenden Vorhängeschlosses. Der Lichtschein kam von einer Taschenlampe, die gleich darauf ausging, dann herrschte wieder Dunkelheit. Jemand schubste mit dem Fuß etwas aus Metall über den Fußboden, und die Tür schloss sich. Dann wurde es für kurze Zeit wieder hell. Ivans Herz klopfte so laut, dass er meinte, seine Trommelfelle platzten. Im Lichtschein konnte er so etwas wie ein Tablett mit einem Styroporbehälter von McDonald’s und einer Halbliterflasche Mineralwasser ausmachen. Und da war noch etwas. Der Junge näherte sich dem Tablett, um herauszufinden, worum es sich handelte, als es wieder dunkel geworden war. Er ertastete ein rundes Gefäß aus Metall. So etwas benutzten Maler, um Farben zu mischen. Er roch daran und wusste, dass er richtig geraten hatte. Zunächst fragte er sich, warum man ihm das hingestellt hatte, und als er darauf kam, war er erleichtert.

Es sollte ihm als Toilette dienen, und wenn man ihm so etwas hingestellt hatte, bedeutete das, dass er noch eine Weile hierbleiben würde.

Vielleicht würde man auch Martina zu ihm bringen.

Martina.

Wo war sie nur?

Er kauerte sich wieder auf die Liege und fing an zu weinen.