KAPITEL 63
Montag, 26. Februar, 09:00 Uhr
Ispettore Vincenzo Marino fand keine Ruhe. Er hielt sich ganz bewusst vom Parco Nord fern, wo sich diese Verrückte auf dem Straßenstrich herumtrieb. Wenn die Leoni ihn dabei erwischt hätte, wie er sich dort umsah, hätte sie ihm das bestimmt übel genommen. Außerdem wäre es riskant, weil sein Gesicht ziemlich bekannt war. Jemand hätte ihn erkennen können, und dann war es vorbei mit ihrer Tarnung. Die Leute von der Undercover-Abteilung der Interforze würden schon ein Auge auf sie haben und die Aktion begleiten. Leute, die man niemals auf der Straße traf. Leute ohne Namen, deren Gesichter niemand kannte, da sie während ihrer Einsätze immer den »Mephisto« trugen, diese bedrohlich aussehende Sturmmütze mit den Augenlöchern.
Nach dem üblichen Kaffee, mit dem er sich die Zunge verbrannt und sein Hemd bekleckert hatte, hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, um die Akte über die Della-Seta-Geschwister durchzugehen. Und das hatte seine Laune nur noch verschlechtert.
Er hatte da eine vage Erinnerung. Etwas, das jemand ihm zu den Ermittlungsunterlagen gesagt hatte … Wirklich nur eine vage Idee … Wenn er die zu fassen bekäme, würde er sich auch wieder an alles erinnern. Aber da war nichts. Je mehr er sich bemühte, sich den Kopf zermarterte, um sich zu erinnern, desto mehr verschwand sie.
Was die Geschwister Della Seta betraf, hatte er keine Hoffnung mehr. Die beiden Kinder waren nicht mehr am Leben.
Die großangelegte internationale Operation gegen Kinderpornografie, die die Postpolizei unter dem Codenamen »Max« eingeleitet hatte, hatte zur Identifizierung und Schließung zahlreicher Internetseiten geführt, darunter auch der mit dem Snuffvideo von Martina. Dutzende von Pädophilen, die im Netz Bilder tauschten, kauften und verkauften, waren angezeigt worden. Aber das waren meist nur die ganz Unvorsichtigen gewesen.
Leute, die sich ungeschickt im Netz bewegten und nicht wussten, wie sie ihre Spuren verschwinden lassen konnten. Das Snuffvideo von dem Mädchen stammte sehr wahrscheinlich nicht von Leuten dieser Kategorie. Es war professionell produziert, und das machte die ganze Angelegenheit noch komplizierter, weil so die Quelle sicher nicht leicht zu finden sein würde. Die Provider waren nie bereit, die Namen ihrer Kunden preiszugeben.
Nach der Hälfte des Videos, das der Akte als Beweismittel beilag, ab einer bestimmten Stelle hatte er es nicht mehr ertragen, würde er nie mehr eine Trickfilmfigur ansehen können. In Erinnerung an dieses Video würde er sich immer übergeben.
Dieses grauenhafte Material, das man ihm aus Udine mit Eilpost geschickt hatte, war mit öffentlichen Geldern als Beweismittel in einem Verbrechen erworben worden. Allein der Gedanke, dass die Steuerzahler mit ihrem Geld unwissentlich auch so etwas bezahlt hatten, ließ ihn außer sich geraten vor Wut. Aber anders war es nicht möglich. Diejenigen, die diesen Dreck verbrochen hatten, hatten das Demo nur deshalb ins Netz gestellt, um zu zeigen, dass es wirklich existierte, und um eine Kostprobe zu liefern. Wenige Stunden später war der Film, von dem gegen Bezahlung viele tausend Kopien heruntergeladen worden waren, schon nicht mehr vorhanden, und mit ihm Küken, Entchen & Co. Dass er jetzt nicht mehr im Netz verfügbar war, spielte keine Rolle. Mund-zu-Mund-Propaganda würde schon dafür sorgen, dass die Vollversion als DVD in Umlauf kam.
Der Ispettore konzentrierte sich auf die verrückte Aussage des Priesters.
Warum hatte er sich selbst bezichtigt?
Selbstanzeige ist nach Artikel 369 der Strafprozessordnung ein Vergehen, das mit einem bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann.
Völlig undenkbar, dass dieser so klar denkende und entschieden handelnde alte Gemeindepfarrer ein manischer Lügner sein konnte.
Noch unwahrscheinlicher war die Vermutung, er sei ein Triebtäter, der hierin einen Weg gefunden hatte, seine kranken Fantasien in Worten auszuleben.
Nein, es musste einen Grund dafür geben, auch wenn sie ihn noch nicht erkannten. Falls es ihn gab, sollten sie ihn besser bald finden, denn die Leute von der Spurensicherung hatten bei einer Untersuchung von Don Marios Panda auf dem Rücksitz Spuren von rostroten Acrylfasern entdeckt, die mit denen übereinstimmten, die man am Körper des Jungen gefunden hatte. Vor allem am Gesicht und am Hals.
Ein Schal, ein Pullover, eine Decke … Was auch immer, es war der Beweis, dass Ivan Della Seta in den Tagen vor seiner Ermordung in diesem Wagen gesessen hatte, und obwohl die Mutter ausgeschlossen hatte, dass er einen Pullover oder einen Schal in dieser Farbe besaß, konnte es sich immer noch um ein Plaid handeln.
Nein. Der Priester deckte jemanden.
Scheiße, dachte der Ispettore, der bringt die Ermittlungen auf eine völlig falsche Spur. Ce sta facendo fa’ comm’e strummoli - durch den verlieren wir einen Haufen Zeit!
Don Mario war am Freitag festgenommen worden. Montag oder Dienstag sollte dann die Anhörung vor dem Staatsanwalt sein, damit die Verhaftung bestätigt oder aufgehoben wurde, weil die Anklage nicht haltbar war.
Jetzt musste es schnell gehen, denn sie hatten nur wenige Beweise, aber einer davon war unwiderlegbar: die roten Faserspuren im Panda. Wenn sich nicht bald ein alternativer Verdächtiger fand, würde der Untersuchungsrichter Don Marios Haftbefehl bestätigen, und dann würde sich der Zorn Gottes über dem armen Teufel entladen.
Die Staatsanwälte hatten schon Blut geleckt. Falls es ihnen gelingen sollte, ihn vor Gericht zu zerren, würden die Rechtsanwälte mit einer Zivilklage den Rest erledigen. In Anbetracht der Schwere des Falles standen sie bestimmt schon Schlange, um sich pro bono, also gratis in den Dienst der Familie Donadio zu stellen.
Und in der Zwischenzeit würde ein ’omme’e mmerda, ein echter Drecksack, weiter frei herumlaufen und seine schmutzigen Geschäfte betreiben.
Das alles ging Ispettore Capo Vincenzo Marino durch den Kopf. Und er wünschte diesen starrköpfigen Pfarrer zum Teufel.