KAPITEL 27
Freitag, 9. Februar, 02:00 Uhr
Eine sternenklare, allerdings eiskalte Nacht.
In den Ecken und aufgehäuft auf den Bürgersteigen lag noch Schnee. Schmutziger, harschiger, zu Eisklumpen gefrorener Schnee. Mailänder Schneematsch, was nach ergiebigen Schneefällen eben so übrig blieb. Zu Fuß kam man kaum mehr vorwärts, aber mit dem Auto war es noch unerträglicher.
Zur Arbeit und zum Supermarkt und zurück nach Hause brauchte man Stunden und war gezwungen, die Abgase der vor einem fahrenden Wagen einzuatmen.
Darüber ärgerten sich die, die zumindest ein Zuhause besaßen und das Auto im Warmen in der Garage oder Tiefgarage abstellen konnten.
Für alle anderen, die nur den Bürgersteig zum Schlafen und Hauseingänge zum Unterstellen hatten, war Mailand mit dieser für Februar ungewohnten Kälte noch schlimmer.
Eigentlich war Mailand zu jeder Jahreszeit viel schlimmer für Leute, die kein Dach über dem Kopf hatten. Im Sommer war es eine Hölle aus glühendem, aufgeweichtem Asphalt. Im Winter ein eiskalter Sumpf. In Mailand kam es öfter vor, dass Menschen, wenn es kälter wurde, einsam unter ihren Kartonschichten erfroren und tagelang nicht entdeckt wurden.
Oder dass Kinder am Straßenrand in dem erbärmlichen Schutz ausrangierter Autos zur Welt kamen, die in provisorische Behausungen umfunktioniert worden waren.
Oder dass man für einen Platz auf einer der wenigen Bänke an den Alleen abgestochen wurde, weil die Parks nachts geschlossen wurden und dort keiner übernachten durfte.
Zu essen gab es genug. Jeden Tag fand man diverse Anlaufstellen für eine warme Mahlzeit: die Franziskanermönche, die Suppenküche der Caritas, die freiwilligen Helfer von Fratel Ettore und die unzähligen karitativen Organisationen und Vereine, die, so gut sie konnten, an die Existenzbedürfnisse all derer dachten, die sonst nicht überlebt hätten. Dabei warfen ihnen die städtischen Behörden ständig Knüppel zwischen die Beine, denn diese waren bemüht, ihre Stadt schön und sauber zu halten.
Eine Säuberungsaktion: Wir schmeißen alle Armen raus, und schon blitzt und blinkt die ganze Stadt wie die Auslagen der teuren Geschäfte in der Via Montenapoleone.
Und duftet wie der Verkaufsraum vom Café Cova.
Wirkt so schick wie die Schaufenster der Designerboutiquen in der Via della Spiga.
Wie der doppelköpfige Janus hatte Mailand zwei Gesichter: ein unerbittliches für jeden, der in Schwierigkeiten steckte, wie Fremde ohne Papiere, und vor allem gegenüber den Roma. Dann wurde es in Abstufungen zunehmend weniger unfreundlich, es unterschied zwischen schmutzigen, stinkenden alten Leuten, den seit der Reform durch das Gesetz Basaglia sich selbst überlassenen Geisteskranken, den Rentnern, denen ab der Monatsmitte das Geld ausging, den Mietern aus den ehemaligen Sozialbauten, denen gekündigt wurde, weil man ihre Wohnungen an Immobilienspekulanten verkauft hatte, die diese danach in Luxusappartements umwandelten, zwischen all den Verzweifelten ohne festen Wohnsitz, ohne Angehörige, ohne Rechte, Frieden und Hoffnung.
Aber zum Glück hatte die Stadt noch eine andere Seite. Die sich uneingeschränkt solidarisch verhielt ohne Rücksicht auf politische oder religiöse Ansichten oder Hautfarbe. Und an dieser Stelle muss einmal gesagt werden: Auch wenn die Stadt mit Sicherheit alles andere als ein Paradies war, so gab es dort doch zumindest Engel.
Genauso hießen sie auch: City Angels.
Engel der Stadt.
Zu erkennen an ihren roten Westen und der hellblauen Mütze.
Sie gehörten keiner Partei und keiner Kirche an und forderten im Gegenzug für ihre Großzügigkeit weder fromme Gebete noch andere Gefallen.
Jede Nacht fuhren sie zu dritt oder zu viert in ihren Kleinbussen durch die Gegend und verteilten saubere Kleidung, warme Getränke, Lebensmittel, Decken und Schlafsäcke an das unsichtbare Volk, das auf den Bürgersteigen, in den Hauseingängen, auf Treppen, in Bahnhöfen, auf Grünflächen, in Wartehäuschen Unterschlupf gesucht hatte, einfach an jeden, der keinen anderen Trost hatte als einen Pappkarton mit billigem Wein.
In dieser feuchtkalten Nacht Mitte Februar steuerte Shamir Senussi, auf der Straße nannten ihn alle Alawa, den roten Kleinbus der City Angels über den Viale Certosa Richtung Stadtmitte, an Bord Lucia Ardizzi, Mario Colombo und Piero Morelli, besser bekannt als Luna, Mirko und Pedro, sie waren auf dem Rückweg zum Hauptsitz ihrer Organisation in der Via Benedetto Marcello.
Ihre Schicht war fast zu Ende. Sie hatten nur noch ein paar wenige Decken und Schlafsäcke und Frühstückspakete für die Obdachlosen im Sempione-Park dabei. Nur noch ein letzter Halt am Arco della Pace und dann würden sie alle nach Hause können.
Obdachlose ziehen nur scheinbar ziellos umher. In Wirklichkeit suchen sie sich meist einen festen Ort und bleiben ihren Gewohnheiten treu. Nachts schließen sie sich wie Wölfe zu Rudeln zusammen und schlafen immer an derselben Stelle. Und jedes Rudel hat sein Territorium.
Piazza Sempione wurde auf der linken Seite von einer Gruppe Peruaner in Beschlag genommen, die sich im Bogengang eines neoklassizistischen Gebäudes eingerichtet hatte. Auf der rechten Seite kampierten die einheimischen Penner, die sich unter ihren Karton- und Zeitungsschichten kaum von den Pflastersteinen abhoben. Ganz hinten im Schutz des Parks hatte eine Gruppe Junkies ihr Lager.
Die üblichen Leute, dazu hier und da einige Neue.
Luna, Mirko und Pedro kannten sie alle. Jeden Abend überprüften sie mit ihren Taschenlampen die Lager- und Schlafstätten, um zu kontrollieren, ob jemand gestorben war oder Hilfe brauchte.
»Alles in Ordnung?«
»Sí, gracias. Hace mucho frío ésta noche.«
»Ja, das stimmt. Es ist wirklich kalt heute Nacht.«
»Está congelando.«
»Ja, es ist eisig. Ein wenig Tee? Oder Kaffee?«
»Gracias.«
»Ich kann den Capitano gar nicht entdecken. Und Morena ist auch nicht da. Weiß jemand, wo sie sind? ¿Alguien sabe dónde están ellos dos? ¿Alguien sabe cualquier cosa?«
»El Capitán no está acquí ésta noche. Morena … Morena … Mira …« Ein Finger wies in die Dunkelheit auf einen Mann. »Allá está Marcelo que sabe algo.« Der sollte es angeblich wissen. Sie fragten ihn.
»Sí, lo sé. Ella estaba acquí, péro no él.«- Ja, sie war gerade noch hier, aber er nicht.
Morena, ein Transsexueller mittleren Alters aus Kolumbien, war für alle die Freundin des Capitano. Luna ging von Gruppe zu Gruppe, und so fand sie sie schließlich auf einer Parkbank sitzen. Nicht wie sonst bei den anderen.
Da Luna wusste, dass Morena schon mehrmals vergewaltigt worden war, ging sie zu ihr, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, dabei näherte sie sich ganz ruhig, um sie nicht zu erschrecken.
Aber Morena schlief in dieser Nacht gar nicht. Sobald sie Lunas rote Weste und die blaue Mütze bemerkte, knurrte sie sie an.
Luna blieb sofort stehen. Sie richtete ihre Taschenlampe auf die zusammengekrümmte Gestalt und sah, dass sie erstaunlich gut gekleidet war, teure Schuhe trug und etwas an ihre Brust presste.
Einen Schatz, den sie verteidigen wollte.
Luna kam näher.
Der Schatz bestand aus einer ziemlich großen schwarzen Lederhandtasche. Morena war in eine weiche schwarze Daunenjacke gehüllt, unter der ein Paar sicher sehr teurer Lederstiefel hervorschauten, und hielt die Tasche wie ein Baby im Arm.
Im Schein von Lunas Taschenlampe konnte man deutlich erkennen, dass es sich um eine Tasche aus teurem weichem Leder handelte. Misstrauisch informierte sie die anderen durch ein Zeichen mit der Taschenlampe. Pedro eilte ihr zu Hilfe.
»Wir müssen herausbekommen, wo sie diese Sachen herhat. Versuch du sie zu fragen.«
»Okay.« Pedro holte ein Päckchen Marlboro aus der Manteltasche und schwenkte es vor Morenas Augen hin und her.
»Hey, schau mal, was ich dir heute mitgebracht habe.«
Morena streckte eine Hand danach aus.
Pedro zog das Päckchen zurück.
»Nein, meine Liebe. Erst musst du mir zeigen, was du da hast.«
Morena knurrte wieder.
»¡Hijo de puta!«, fluchte sie. Und presste die Tasche noch enger an sich.
»Komm, mach schon, zeig sie mir. Ich nehm sie dir schon nicht weg.«
»Nein.«
»Dann gibt es heute Nacht eben keine Zigaretten. Nada de nada.Schade. Das war die doppelte Ration.«
Pedro machte das Päckchen ganz langsam auf, zeigte Morena den Inhalt, schloss es wieder und tat so, als wollte er es wieder einstecken. Morena streckte ihre Hand aus und wollte es sich trotzdem angeln, aber dafür musste sie die Tasche loslassen. Blitzschnell stürzte sich Luna darauf und entriss sie ihr.
Während Pedro sich um die rasende Morena kümmerte, durchsuchte Luna die Handtasche.
Hausschlüssel. Schminksachen. Ein Päckchen Papiertaschentücher. Ein abgeschaltetes Mobiltelefon ohne SIM-Karte, Luna kontrollierte genau. Ein Portemonnaie mit ein paar Geldscheinen. Ein Reisepass der Republik Moldawien.
Im Licht der Taschenlampe konnte sie erkennen, dass er auf Nelea Eminescu ausgestellt war, dem Foto nach zu urteilen ein hübsches Mädchen mit ausgeprägt slawischen Gesichtszügen. In dem Ausweis war eine Plastikhülle mit einer Fotokopie: die Empfangsbestätigung des Antrags auf eine Aufenthaltsgenehmigung für Nelea Eminescu, Beruf Kindermädchen, den ein gewisser Luciano Simonella gestellt hatte.
»Hast du diese Tasche geklaut?«, fragte Luna ganz sanft, um die arme Obdachlose nicht zu verschrecken, die auf der Bank herumzappelte.
Dann bemerkte sie die Stiefel und die Jacke.
Ein ganz schlechtes Zeichen!
Die Handtasche konnte gestohlen sein. Auf der Straße leben heißt schließlich von der Straße leben. Aber wenn außer der Tasche auch noch Kleidungsstücke und Schuhe existierten, die nicht so aussahen, als stammten sie aus einem Altkleidercontainer der Caritas, hieß das, das Opfer wurde ausgezogen, und dazu musste man es vorher bewegungsunfähig gemacht haben.
Oder getötet.
Sie mussten Morena zum Reden bringen. Damit sie sagte, wo sie diese Sachen gefunden hatte.
Luna, Pedro und Mirko waren mit dem Leben auf der Straße vertraut. Sie wussten, wie sie ihre Klienten anzupacken hatten. Außerdem kannten sie Morena, seit sie sich vor Jahren hier im Sempione-Park zusammen mit dem Capitano häuslich niedergelassen hatte, einem alten Penner, der, wäre er nicht in so schlechter Verfassung gewesen, durchaus als Doppelgänger von Sean Connery hätte durchgehen können.
»Los, Morena, du kannst das Geld behalten, aber den Rest muss du uns geben. Dieser Frau ist etwas Schlimmes zugestoßen, und damit willst du doch nichts zu tun haben, oder?«
»¿Quién sabe? La cartera y el resto estaban en …«, hier folgte etwas Unverständliches.
»¿Qué dijiste? Was hast du gesagt?« Pedros Spanisch war zwar nicht besonders gut, falsche Verben, im Infinitiv, aber es war klar und verständlich.
»Que todo estaba en el basurero. Yo no he … no robé. Todo estaba allá.« - Das war alles im Müllcontainer, ich … habe nicht gestohlen. Das war alles dort drin.
»Bien.«
Luna warf ihrem Mitstreiter einen besorgten Blick zu. Als sie sich Morena genähert hatten, hatte sie gesehen, dass die Daunenjacke über und über von dunklen Flecken überzogen war, die nun eingetrocknet waren, wodurch der Stoff hart wie Pappe geworden war. Und sie hatte auch den Geruch wahrgenommen, der von ihr ausging. Pedro verstand sofort, was das zu bedeuten hatte, und zog sein Handy aus der Tasche, um den Notruf der Polizei zu wählen.