KAPITEL 70
Dienstag, 6. März, 20:00 Uhr
Nicht Angst war die Ursache für Leonardos Krämpfe, sondern eine Magen-Darm-Grippe, die ihn einige Tage lang mit Bauchschmerzen und hohem Fieber ans Haus fesselte. Maestro Lucio Lovati hatte ihn mit dem Keyboard bei den Chorproben am Donnerstag ersetzt, die von düsteren Vorahnungen über die Zukunft des Gemeindezentrums und des Chores geprägt waren. Doch obwohl Leonardos Gesicht leichenblass war und er mitgenommen aussah, beschloss er an jenem Dienstag, dass es endlich Zeit war, seine Wohnung zu verlassen. Nach einer ganzen Woche ohne Spielpraxis waren seine Finger gefährlich aus der Übung. Deshalb erschien Leonardo schon zwei Stunden vor der Probe in der Kirche, damit er genug Zeit hatte, sie ein wenig geschmeidiger zu machen.
Mit fiebrig glänzenden Augen und in eine gefütterte dicke Jacke eingemummelt, obwohl es inzwischen wärmer geworden war, steuerte er direkt die Chorempore der Kirche an. Er flog beinahe die Stufen hinauf, und als er oben angekommen war, stellte er das Heizöfchen an und legte sich auf dem Notenständer die Hefte mit den Fingerübungen bereit. Oben war es noch sehr kalt. Während er darauf wartete, dass sich die Luft etwas erwärmte, sah er hinunter, und sein Blick fiel auf Don Marios Beichtstuhl.
Leonardo stiegen die Tränen in die Augen.
In den Tagen, die er zwischen Schlafzimmer und Toilette verbracht hatte, hatte er sich nicht mehr um den Pfarrer gekümmert. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Saß er noch in Untersuchungshaft? Leonardo las keine Zeitung, und durch das Fieber und die Übelkeit war ihm sogar die Lust auf Fernsehen vergangen, wo Don Mario nach dem Aufsehen, das die Nachricht von der Selbstanzeige und seiner folgenden Verhaftung hervorgerufen hatte, seither nicht mehr in den Nachrichten erwähnt wurde.
Untersuchungsgeheimnis, hieß es.
Aus Respekt den Opfern gegenüber.
Und wer hatte sich um den alten Mann gekümmert?
Leonardo hatte ein schlechtes Gewissen und nicht einmal der Gedanke, dass er trotz seines Fiebers gut für Tea und Meo gesorgt hatte, vermittelte ihm ein besseres Gefühl.
Er musste wieder an seine letzte Begegnung mit Don Mario denken, an den Abend, als der ihm seinen Schal zurückgegeben hatte.
Bei der Erinnerung daran bekam er gleich wieder heftige Krämpfe.
Der Schal!
Der hing bei ihm zu Hause auf dem Garderobenständer. Er musste etwas tun. Zum Beispiel zur Polizei gehen und erzählen, dass er ihn Ivan geliehen hatte und der Schal dann auf geheimnisvolle Weise wieder in Don Marios Panda aufgetaucht war.
Nein, lieber doch nicht.
Das würde die Lage von Don Mario noch verschlimmern.
Leonardo begann zu spielen, doch die Anstrengung, die Füße auf den Pedalen und die steif gewordenen Finger auf der Tastatur zu bewegen, erschöpfte ihn schnell. Er war eben noch geschwächt.
Er gönnte sich einen Augenblick Pause. Weil ihm einfach danach war, drehte er sich auf dem Schemel um, legte die Arme auf die Balustrade und lehnte den Kopf daran. Die Kirche war seit mehr als einer Stunde geschlossen. Die einzige Beleuchtung im Raum waren die Lampen auf dem Hauptaltar und die flackernden Flammen der Opferkerzen in den Seitenkapellen.
Vielleicht lag es an der Erschöpfung durch das Fieber oder an diesen Ereignissen, die seine Welt auf den Kopf gestellt hatten, doch zum ersten Mal, seit er diesen heiligen Ort besuchte, mit dem ihn so viel verband und wo er sich beschützt fühlte, empfand Leonardo hier Einsamkeit und Angst wie einen kalten Hauch.
Ehe er weiter auf diese Gefühle eingehen konnte, hörte er leise Schritte auf dem Marmorboden. Er sah genauer hin, doch er konnte einige Zeit niemanden im Kirchenschiff ausmachen. Außerdem blendete ihn der Lichtschein der oberhalb der Orgel hängenden Halogenlampe so, dass er in der Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte. Plötzlich entdeckte er eine finstere Gestalt, nicht mehr als ein Schatten, der sich vor den Kerzen des heiligen Franziskus bewegte. Er kniff die Augen zusammen in dem Versuch, diesem Schatten einen Namen zu geben, während er sich instinktiv an die Balustrade presste, um nicht gesehen zu werden. Allerdings war seine Mühe vergeblich, da er mitten im Licht in einem sonst dunklen Raum auffiel wie ein Schauspieler auf einer Bühne.
Die dunkle Gestalt durchquerte in aller Ruhe das linke Kirchenschiff. Leonardo brannten die Augen von der Anstrengung, sie im flackernden Licht der Kerzen zu verfolgen, die ihre Umrisse auch noch verzerrten.
»Hallo, wer ist da unten?«
Schweigen.
»Ist da jemand?«
Immer noch Schweigen.
»Um diese Zeit ist die Kirche geschlossen«, sagte Leonardo mit zitternder Stimme, weil er allmählich wirklich Angst bekam.
»Für mich ist sie das nie, Leo. Keine Sorge, ich bin’s.«
Als er die Stimme erkannte, stieg vor Erleichterung ein hysterisches Kichern in ihm auf.
»Ach, Gott sei Dank! Ich habe mich vielleicht erschreckt!«, rutschte ihm heraus. »Ich komme gleich runter.«
»Ja gut, ich warte auf dich, dann können wir zusammen gehen.«
Erst als sein Fuß die unterste Stufe berührte, wurde Leonardo klar, was da nicht stimmte.
Dann können wir zusammen gehen? Wenn doch in einer halben Stunde die Chorprobe begann? Als er am Ende der Treppe erschien, wollte er gerade sagen, dass sie nicht gehen konnten, weil doch in Kürze die Chorsänger kommen würden, als ihm etwas Schweres auf den Kopf fiel. Leonardo fühlte keinen Schmerz, und ihm blieb nicht einmal die Zeit, Angst zu empfinden. Es war einfach so, als hätte ein Kurzschluss sämtliche seiner Lebensfunktionen auf einmal unterbrochen.
An diesem Abend kamen keine Chorsänger. Jemand hatte jedem von ihnen eine E-Mail nach Hause geschickt.
An die Chorsänger
An die Eltern der im Chor singenden Kinder
Dieser Zeitpunkt scheint unpassend, um das heilige Osterfest mit einem Konzert zu feiern. Die Freude über die Auferstehung unseres Herrn wird in unseren Herzen sein, die im Augenblick bei unserem geliebten Pfarrer Don Mario Speroli sind, dem unsere Liebe und unser Mitleid gelten. Wir laden Sie alle ein, dafür zu beten, dass der Heilige Geist die Herzen derer erleuchten möge, die die Schuld und das Unrecht ermitteln müssen, und wir teilen Ihnen mit, dass von heute an keine Chorproben abgehalten werden, bis es neue Anordnungen gibt.
Der Rat der Kirchengemeinde