KAPITEL 49

Freitag, 16. Februar, später Nachmittag

»Leo?«

»Ja, Don Mario?« Der Organist brauchte sich nicht einmal die Mühe zu machen aufzustehen, die Chorempore war so schmal, dass er nur den Oberkörper ein wenig zurückzubeugen und den Kopf zu senken brauchte, um den Pfarrer aufrecht im Mittelgang der Kirche stehen zu sehen.

»Ich habe deinen Schal in meinem Wagen gefunden. Komm zu mir ins Pfarrhaus, sobald du runterkommst.«

»Einen Schal? Ich glaube kaum, dass der mir gehört, Don Mario. Mir fehlt keiner.«

»Ich bin aber der Meinung, dass ich ihn an dir gesehen habe. Komm auf jeden Fall bei mir vorbei, bevor du gehst. Ich muss mit dir sprechen.«

»Ja gut. Ich beende noch die Transkription hier, dann komme ich runter.«

Leonardo kehrte an seine Arbeit zurück, die ihn so in Beschlag nahm, dass er darüber Hunger, Durst und den Gang zur Toilette vergaß. Wie sollte er da an einen Schal denken! Er hatte die schwierige Aufgabe, das kraftvolle Tuba mirum aus Mozarts Requiem so aufzuteilen, dass die einzelnen Parts auf den Stimmumfang der Choristen zugeschnitten waren, und ein Arrangement für die Solisten zu finden.

Er seufzte. Das Sopransolo hatte eigentlich Ivan singen sollen. Als ihn schließlich die Kälte von der Chorempore vertrieb, war es bereits acht Uhr abends. Zum Verlassen der Kirche musste er durch die Sakristei gehen, da das große Portal und die Türen, die direkt hinausführten, schon abgeschlossen waren. Auf seinem Weg bemerkte Leo, dass an diesem Abend der erste Küster, Damiano Pulitanò, zum Wegschließen der Wertgegenstände und zum Putzdienst eingeteilt war. Ergraute Haare umrahmten seinen Kopf, seine Haut war gelblich gefärbt wie bei einem Menschen, der nie an die Sonne geht und außerdem ein Leberleiden hat. Pulitanò trug eine vorn gebundene Kittelschürze, dazu Hausschuhe aus Filz mit Reißverschluss. Obwohl er erst knapp über fünfzig war, setzten ihm ein Emphysem und Arthrose, die seine Gelenke auffraß, so zu, als wäre er siebzig. Der erste Küster hatte die Sauberkeit der Kirche zu seinem Lebensinhalt gemacht. Wenn man ihn gelassen hätte, hätte er sieben Tage die Woche von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang daran gearbeitet.

Doch sein Fleiß reichte nicht aus. Da der Gebäudekomplex Kirche-Gemeindezentrum zu groß war, um von ihm allein sauber gehalten zu werden, und der Pfarrer von ihm verlangte, dass er seine Ruhezeiten einhielt, hatte Pulitanò eine kleine Gruppe von ehrenamtlichen Helfern aufgestellt, die sich bei den anstrengendsten Arbeiten abwechselten, doch die Verantwortung lag immer bei ihm, und ihm blieb es auch überlassen, am Abend die letzte Runde zu machen und alles ab- und wegzuschließen. Don Mario hatte von ihm verlangt, die Namen und die Dienste auf einer Tafel zu vermerken, da er mit gutem Recht wissen wollte, an welchem Wochentag welcher Helfer seines Küsters anwesend war. Im Vorübergehen hängte Leonardo den Schlüssel für die Tür zwischen Kirche und Sakristei an das Brett in einem der Schränke, bevor er dann mit seinen eigenen Schlüsseln jede weitere Tür bis zur gepanzerten Außentür hinter sich zuschloss.

Es war eine sternklare Nacht und nicht so kalt, wie er es vermutet hätte. Wenn er zu lange Zeit in der Kirche verbracht hatte, hatte er immer Schwierigkeiten mit den tatsächlichen Außentemperaturen. Dazu kam, dass auf der Empore die obere Hälfte seines Körpers zu Eis erstarrte, weil die undichten Bleifassungen der Glasfenster den mörderischen Luftzug nicht abhielten, die untere Hälfte dagegen langsam geröstet wurde, weil der Platz so begrenzt war, dass er das elektrische Heizöfchen ganz nah bei sich aufstellen musste.

Die kalte Abendluft erinnerte ihn an etwas.

Der Schal!

Als er am Pfarrhaus vorbeilief, schaut er zu Don Marios Fenstern hoch. Nur in der Küche brannte Licht.

Der Pfarrer war gerade beim Essen.

Dann störte er ihn besser nicht. Er würde ihn ohnehin am nächsten Tag sehen.

Das Thema aus dem zweiten Satz der dritten Orchestersuite von Bach pfeifend machte sich Leonardo auf den Weg zur Haltestelle der Straßenbahn Nummer fünfzehn. Sie würde ihn beinahe bis vor die Tür der Zweizimmerwohnung bringen, die er sich mit zwei Studenten vom Konservatorium teilte.

Der Gedanke an den Schal wurde vollständig von den Noten in seinem Kopf aufgesogen in dieser klaren, melancholischen Nacht, bis er nur noch ein winziger Punkt in seinem geistigen Notensystem war. Gerade so groß wie ein Pausenzeichen.

Als ungefähr zwanzig Minuten später die Straßenbahn kam, pfiff Leonardo nicht mehr Bach, sondern war tief in eine Klaviersonate versunken. Er versuchte, im Kopf eine Ariette für Salvo Spanò zu komponieren. Sein Mitbewohner bereitete sich zum zweiten Mal auf die Aufnahmeprüfung für den vierten Kurs Harmonielehre und Komposition am Konservatorium vor, und er musste sie unbedingt bestehen, sonst würden ihn seine Eltern nach Messina zurückholen.

Der arme Spanò war tüchtig und fleißig, aber ihm fehlte es an Fantasie und Gespür, um die heiklen Klippen der Komposition zu überwinden. Er verbrachte ganze Nachmittage und Abende am Klavier, und es war so eine Qual, dass Leonardo ihm ein wenig Unterstützung versprochen hatte. Er wollte für ihn das Stück komponieren. Spanò würde es dann auswendig lernen müssen, um es transkribieren und an das Thema der Prüfung anpassen zu können. Wenn er diesmal die Prüfung wieder vergeigte, würden Leonardo und sein anderer Mitbewohner Spanò mit den Saiten des Klaviers erdrosseln!

Als Leonardo die vorletzte Haltestelle erreichte, hatte er schon die Probleme des Andante mosso überwunden und wollte sich gerade dem Allegretto widmen, als sich die Türen schlossen und die Bahn gleich weiterfahren würde. Leonardo schaute aus dem Fenster. Und da sah er es.

Ein sehr vertrautes Gesicht.

Nein, sogar zwei.

Die Männer standen unter dem Schutzdach der Haltestelle und unterhielten sich angeregt.

Er klopfte ans Fenster, doch sie bemerkten ihn nicht. Die Straßenbahn fuhr an, und Leo fragte sich verwundert, was diese beiden Männer sich eigentlich zu sagen hatten, die doch nichts außer einer Namensgleichheit verband.

Beide hießen Andrea mit Vornamen, aber sie hätten nicht unterschiedlicher sein können.

Denn der eine war ein Pfarrer.

Und der andere ein schlimmer Finger. Vorbestraft.