KAPITEL 21
Donnerstag, 8. Februar, 05:15 Uhr
Nachdem sie die Residence verlassen hatte, erschauerte Nelea kurz in ihrer eng anliegenden Daunenjacke und fühlte, wie die Kälte wie mit feinen, eisigen Nadeln auf sie einstach. Sie hob das Gesicht in den Schneeregen und lächelte. Das war ihr Lieblingswetter. Ein Klima, wie sie es von Geburt an gewöhnt war.
Kälte, Eis, Lichter im Regen.
Und kaum ein Mensch auf der Straße.
Um diese frühe Morgenstunde erwachte Mailand allmählich. Es herrschte ein wenig Verkehr, aber nur, weil diese Stadt eigentlich nie ganz schlief. Taxis brachten Nachtschwärmer nach Hause, Autos waren unterwegs mit Leuten, die früh mit der Arbeit anfingen und einen langen Anfahrtsweg hatten, schwer beladene Lastwagen auf dem Weg zum Obst- und Gemüsegroßmarkt. Und Straßenbahnen, die gerade aus dem Depot kamen und ihre erste Fahrt antraten.
Aber es war still.
Gerade diese Stille, durch die sie das Rauschen der Wagen und das aufspritzende Wasser, die quietschenden Gleise der alten Straßenbahnen aus Holz, von denen nur noch wenige eingesetzt wurden, wie verstärkt wahrnahm, ängstigte Nelea. Das Klappern der eigenen Absätze auf den rutschigen Steinen, mit denen die alten Straßen des Zentrums gepflastert waren.
Als sie den Corso di Porta Nuova entlanglief, bemerkte Nelea, dass sie die herankommenden Wagen wesentlich früher hörte, als sie ihre Scheinwerfer sah. Das beruhigte sie, weil sie so den Bürgersteig rechtzeitig verlassen und hinter parkenden Wagen oder in Hauseingängen Deckung suchen konnte.
Sie hatte Angst.
Während sie rasch, aber nach außen hin ganz normal weiterlief, legte sie den ganzen Corso bis zur düsteren Rundmauer der Arena zurück. Sie beschleunigte ihre Schritte, weil sich in der Dunkelheit bereits ein leichter rosa Schein am Horizont abzeichnete.
Nelea achtete darauf, dass ihre Absätze nicht auf dem Straßenpflaster klapperten, während sie auf ihren langen Beinen immer schneller wurde. Nur ein paar Minuten später hatte sie schon den Anfang der Via Paolo Sarpi erreicht, Mailands Chinatown, der Straße, in der sich die Läden mit chinesischen Billigwaren befanden. Diese stammten mehr oder weniger legal aus den Containern von riesigen Lastschiffen, die in den großen Häfen von Neapel oder Livorno anlegten, und waren bestimmt für Geschäfte vom Typ »Jedes Teil ein Euro« oder Marktstände mit der Aufschrift »Nur bei uns Designerware«.
In der Via Paolo Sarpi gab es auch noch europäische Geschäfte, ein paar wenige nur, aber die hielten sich hartnäckig. Und einige große Kaufhäuser, zwei bis drei Buchhandlungen und zahlreiche Bäckereien. Aber es überwogen vier mal vier Meter große Verschläge, die alle bis zum Rand mit der gleichen Ware vollgestopft waren: mit Pailletten bestickte Blusen, Hosen, Daunenjacken, Jeans, Pullover.
Nelea kniff ihre leicht kurzsichtigen Augen zusammen, um die Hausnummern zu erkennen, die man in Mailand nur an ungefähr jedem fünften oder sechsten Gebäude findet. Sie musste einige Male zurückgehen, bis sie schließlich, hinter den roten Lampions an einem Chinarestaurant verborgen, die gesuchte Nummer ausfindig machte. Sie schaute noch einmal genau hin. Dies konnte nicht der Eingang sein, nach dem sie suchte. Anscheinend galt die Nummer für den gesamten Gebäudekomplex. Als sie ein Stück weiterging, entdeckte sie endlich das große Holzportal mit der in einen Torflügel eingelassenen Tür.
Es war abgeschlossen.
Rechts vom Tor befanden sich das mit in lateinischen Buchstaben oder fremden Schriftzeichen geschriebenen Namen übersäte Klingelbrett und die Sprechanlage. Sie fand den gesuchten Namen und drückte viermal auf die Klingel. Kurz, kurz, Pause, lang, lang.
Kurz darauf hörte sie das Klicken der Anlage, als hätte schon jemand mit dem Finger auf dem Türöffner gewartet, und das Schloss öffnete sich.
Nelea sah sich vorsichtig um. Als sie durch die Tür ging, fand sie sich in einem feuchten, spärlich von einer bläulichen Neonröhre beleuchteten Hausflur wieder, die dem Ganzen eine fahle Friedhofsstimmung vermittelte.
Verwirrt sah die junge Frau sich um. Der Gang führte direkt auf einen kleinen quadratischen, gepflasterten Hof, der mit Fahrrädern und Mopeds vollgestellt war.
Trotz des Regens und der kalten Temperaturen roch es nach Müll und den Abfällen aus der Restaurantküche in den überfüllten Tonnen, deren Umrisse man in der dunkelsten Ecke erahnen konnte.
Auf den kleinen Hof mündeten vier Treppenaufgänge, jeder mit einem separaten Klingelbrett. Nelea überprüfte Namen für Namen, bis sie den gesuchten auf dem des Aufgangs C fand.
Sie drückte auf einen Knopf.
Während sie wartete, dass man ihr die Tür öffnete, stapfte sie mit den Füßen auf den Steinstufen auf, um die Durchblutung in ihren inzwischen durch die Kälte gefühllos gewordenen Zehen anzuregen. Sie musste gut fünf Minuten warten, wobei sie langsam durch den Mund einatmete, damit sie den Gestank nicht so wahrnahm.
In diesem Warten verbrachte sie die letzten Augenblicke ihres Lebens.
Nelea wurde langsam ungeduldig, als ihr plötzlich jemand, der sich leise wie eine Katze angeschlichen hatte, einen schweren schwarzen, innen geteerten Jutesack über den Kopf warf. Sie versuchte, sich zu befreien, verlor aber auf den durch den Schneeregen rutschigen Betonplatten das Gleichgewicht, was ihrem Angreifer bei seinem blitzartigen Überfall half. Zwei kräftige Arme hielten sie fest, während ein weiteres Paar ihr einen dünnen Eisendraht um die Kehle legte und so ihren Kopf in dem festen Stoff einklemmte. An den beiden Enden des Drahts waren zwei kleine Metallzylinder befestigt, die ineinander eingehängt und dann festgedreht wurden.
Eine Garotte.
Nelea machte nicht einmal den Versuch, sich zu wehren. Durch den Luftmangel und die durch den Druck auf den Kehlkopf verursachte Unterbrechung des Blutflusses zum Gehirn verlor sie sofort das Bewusstsein. Sie sank ohne einen Laut in sich zusammen und wurde von vier Armen weich, geradezu freundlich aufgefangen und sanft auf dem Betonboden abgelegt. Als ihre Füße nicht mehr zuckten und sich ihre Muskeln vollkommen entspannten, ein Zeichen, dass die junge Frau tot war, drehte jemand die Zylinder der Garotte in die entgegengesetzte Richtung, so dass man sie entfernen konnte.
Jemand hörte ihr Herz ab: Es schlug nicht mehr.
Dann zog man ihr rasch die Daunenjacke aus, weil sie zu viel Platz eingenommen hätte, und die hochhackigen Stiefel, und verstaute die Leiche in dem geteerten Jutesack. Die beiden Gestalten arbeiteten in vollkommener Harmonie, knickten Neleas Beine ein, bevor die Leichenstarre eintrat, um den Umfang des Körpers so weit wie möglich zu reduzieren. Sack samt Inhalt verstaute man in zwei schwarzen Müllsäcken, die man ineinandergesteckt hatte, um so eine doppelwandige, feste Plastikschicht zu erhalten.
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die zusammengelegte Leiche keine menschlichen Umrisse mehr aufwies, pressten Neleas Angreifer mit dem Gewicht ihrer Körper die gesamte Luft aus den Plastiksäcken. Danach verschlossen sie das Ganze mit einer festen Schnur, die sie gut verknoteten.
Daunenjacke, Stiefel und Handtasche landeten in einer der bereits zur Leerung herausgestellten Mülltonnen. Unter einer Schicht aus verschiedenen stinkenden Abfällen.
Als die Aktion beendet war, wurde Neleas Leiche in einer großen Mülltonne deponiert, einer von denen mit Rädern unten, mit denen die städtische Müllabfuhr ihren Mitarbeitern die Arbeit erleichtern wollte.
Der tödliche Angriff auf Nelea und die Beseitigung ihrer Leiche in der kalten und gedämpften Stille des frühen Morgens hatten alles in allem nicht länger als zwölf Minuten gedauert. Danach verließ eine untersetzte Gestalt den Hof durch die kleine Tür und zog die Tonne mit der Leiche hinter sich her, ganz vorsichtig, um keinen Lärm zu verursachen. Niemand, der ihm begegnete, hätte ihm einen zweiten Blick geschenkt, weil er ihn für einen Arbeiter der Müllabfuhr gehalten hätte, der die Tonnen zur Sammelstelle brachte.
Als der Mann durch das Tor kam, vergewisserte er sich erst, dass niemand ihn beobachtete, dann blieb er einen Augenblick vor dem Klingelbrett stehen und wischte sorgfältig die Metalloberfläche mit einem Taschentuch ab, besonders den Knopf, den die junge Frau kurz zuvor gedrückt hatte. Schließlich überquerte er die Straße so rasch, wie er gekommen war, und verschwand mit seiner Last in einem der zahlreichen Hauseingänge an der Straße.
Sein Komplize wischte das Klingelbrett am Treppenaufgang ab, um auch dort Neleas Fingerabdrücke verschwinden zu lassen. Er überprüfte, ob keine Spuren zurückgeblieben waren oder ihnen irgendetwas zufällig aus der Tasche gefallen war, bevor er zweimal auf einen Klingeknopf drückte: lang - kurz. Er wartete das Geräusch des Türdrückers ab, ging die Treppen bis in den vierten Stock hinauf und verschwand dort hinter der zerkratzten Holztür eines schäbigen Apartments in einem der wenigen Häuser mit außenliegenden Eingängen, die in dieser halbzentralen Gegend Mailands überlebt hatten.
Schade nur, dass sich hier in diesen ärmlichen Wohnungen reiche Leute eingemietet hatten. Sehr reiche sogar.