KAPITEL 23

Vincenzo Marino war mit Leib und Seele Neapolitaner, und das nicht nur, weil Neapel als Geburtsort in seinem Ausweis eingetragen war und er seine Heimatstadt immer im Herzen trug. Nein, Neapel war praktisch in seinen Genen verankert. Es gehörte zu ihm wie der Braunton seiner Haare, die in alle Richtungen abstanden, wie die kräftigen Schultern oder seine nicht ganz schlanken Hüften, die dunklen Augen, die sich nicht einmal erwärmten, wenn er lachte, oder die temperamentvolle Redeweise des Südens mit der ständigen Bereitschaft, übergangslos in den Dialekt zu wechseln, unverhältnismäßig zu übertreiben oder für alles bildhafte Vergleiche zu finden.

Vor fünf Jahren hatte man ihn von der Polizei in Neapel nach Mailand versetzt, weil es sich als notwendig erwiesen hatte, eine möglichst große Entfernung zwischen ihn und seine private Vergangenheit zu bringen.

Das war keine persönliche Entscheidung gewesen. Er hatte nur die Wahl zwischen gehen und leben oder bleiben und sterben.

Und zwar nicht etwa an gebrochenem Herzen, sondern durch eine handfeste Kalaschnikow.

Das hatte ihm ein Camorrista geschworen. Eigentlich war der nur ein kleines Licht - durchtrainierter Körper, breites Grinsen im Gesicht, volles Haupthaar, das Hirn mit Koks zugedröhnt -, aber ausgerechnet diesen Mann musste sich seine Frau Lucia unter allen möglichen Kandidaten als Liebhaber aussuchen.

Marino war zufällig auf ihn gestoßen, als er einmal nachmittags überraschend nach Hause kam, ohne vorher wie üblich anzurufen: »Schatz, ich komme jetzt. Brauchst du noch was?«

Als er die Tür aufschloss, war er praktisch über ihre verschlungenen Körper auf dem Wohnzimmerparkett gestolpert.

Marino blieb nicht einmal die Zeit zu begreifen, was dort passierte, da hatte der andere schon seine Glock gezogen.

Von allem völlig überrascht, war der Ispettore nur deshalb mit dem Leben davongekommen, weil Lucia sich nackt, wie sie war, dazwischengeworfen hatte. Das hatte den Camorrista abgelenkt, und so konnte Marino ihn entwaffnen. Dabei hätte es der wütende Ispettore auch belassen, ihn eventuell noch zweimal in den Hintern treten und ihm ein paar Ohrfeigen verpassen und nach einem wütenden »Darüber reden wir noch, Luci’« einfach wieder auf dem Absatz umdrehen sollen.

Schließlich waren ihm bloß Hörner aufgesetzt worden.

Stattdessen hatte er brav Anzeige erstattet: gewaltsamer Angriff auf einen Polizeibeamten, illegaler Waffenbesitz und was ihm seine Fantasie, seine Wut und das Strafgesetzbuch noch so eingaben. Und damit hatte er sein eigenes Todesurteil unterzeichnet.

»Sient’a mme, piezz’e mmerda: tu di’mmorto!- Du elendes Stück Scheiße, du bist tot!«, hatte ihm der Mann noch zugeschrien, als er in Handschellen aus seiner Wohnung abgeführt wurde. Und machte dazu die Geste des Halsabschneidens.

Marino hatte das nicht ernst genommen. Was soll’s, der war doch bloß ein kleines Licht. Einer, der im Viertel als Sasà’o Bellillo bekannt war: ein mieser feiger Wichser.

Doch leider haben auch Mitglieder der Camorra Familie.

Und Sasà war mit einem ziemlich harten Kerl aus Scampìa verwandt.

Alle Neapolitaner wussten, dass man sich von Freunden und Verwandten von Camorristi besser fernhielt wie von Tigern im Zoo, weil sie auf ihre Weise gefährlich und unantastbar waren. Unter gewissen Umständen konnte man, je nachdem, welche Gründe man hatte oder wie mutig man selber war, diese Bestien verprügeln, einsperren, an- oder auch erschießen, aber auf gar keinen Fall durfte man sie anzeigen.

Eine Anzeige war eine feige Beleidigung, und wenn der Camorrista eine einigermaßen mächtige Verwandtschaft hatte, dann überlebte man das nicht.

Marino war sich dessen natürlich bewusst, aber als er die Verstärkung gerufen hatte, um den wie ein Grizzlybär in Unterhosen tobenden Sasà zu bändigen, kam er aus der Sache nicht mehr raus. Gesetz ist Gesetz, und schließlich führten seine Kollegen da einen mehrfach Vorbestraften ab, der trotz der Bewährungsauflagen eine Waffe trug, mit der er einen Polizeibeamten in dessen eigener Wohnung bedroht hatte. Da der zuständige Richter ihm ohnehin die Bewährung streichen und ihn ins Gefängnis schicken würde, sollte der ihm noch ein halbes Strafgesetzbuch oben drauf packen, damit der Kerl so lange wie möglich dort blieb.

Das hatte der Familie selbstverständlich nicht gefallen.

Um den feigen Bullen und Verräter, der so blöd gewesen war, sich Hörner aufsetzen zu lassen, auszuschalten, wurde eine paranza organisiert, und zwei Tage später schnappte die Falle zu.

Der Befehl lautete eigentlich, nur Marino zu töten, aber man weiß ja, wie so etwas läuft: Ein Schuss zieht den nächsten nach sich, und diese mit Kalaschnikows bewaffneten Kerle hatten schließlich einfach losgeballert.

Lucia wurde tödlich getroffen.

Und Vincenzo war mit kollabierter Lunge, durchlöchertem Magen und einem zerschmetterten Knie auf der Intensivstation der Cardarelli-Klinik gelandet.

Erst nach Monaten erwachte er aus dem Koma. Und es hatte weitere Monate gedauert, bis er sich aufrichten und seine Arme und Beine bewegen konnte. Als er wieder zum Dienst antrat, hatte man ihn zum Ispettore Capo befördert und zur Abteilung Verbrechensbekämpfung nach Mailand versetzt, denn als Polizist war er in Neapel verbrannt und als Mensch so gut wie tot, alle schienen auf seiner Uniform über den Rangabzeichen schon ein Kreuz zu sehen, und sein Schicksal galt als besiegelt.

Der Mann, der daraufhin in den Norden gezogen war, war nicht mehr der alte Vince: ein sympathischer, freundlicher Typ, mit viel Humor und Herz. Aus ihm war ein müder, depressiver Mann geworden, ohne Hoffnungen oder Erwartungen, was sein eigenes Leben betraf, und aus diesem Grund hatte er auch wenig Mitgefühl für seine Mitmenschen.

Ein Bulle, den viele nicht mochten, alle jedoch respektierten und fürchteten.

Fernab seiner Heimatstadt leben zu müssen fiel Vincenzo Marino schwer, aber er lebte, zumindest körperlich: Er stand morgens auf, lief durch die Straßen, atmete, arbeitete, aß etwas und brach am Abend todmüde im Bett zusammen.

Wo er in einen bleiernen Schlaf fiel, rabenschwarz wie seine Gedanken und absolut traumlos.

Sein Leben war zu dem eines unfreiwilligen Singles geworden. Ein beschissenes Leben mit Hemden aus der Reinigung und Fertigmahlzeiten, die er sich in der Mikrowelle warm machte und dann direkt aus den Plastikschälchen aß, Möbeln, die immer eine dicke Staubschicht zierte, und einer vor schmutzigem Geschirr überquellenden Spüle.

Eine zornige Existenz, die weder Sehnsucht noch Einsamkeit kannte, denn seine Gefühle waren zu einer merkwürdigen Apathie verkommen, die seine Mitmenschen mit Härte und Gleichgültigkeit verwechselten.

Er lebte in einem Miniappartement im Garibaldi-Viertel, für das er eine unverschämt hohe Miete zahlte. Das ist nur für den Übergang, hatte er sich vor fünf Jahren gesagt, als er den Vertrag für diese vierzig Quadratmeter voller überflüssiger Möbel unterschrieben hatte. Aber mit der Zeit hatte er sich so an diese Zweizimmerwohnung gewöhnt, dass er sie als sein »Zuhause« ansah.

Zuhause im Sinne von »sicherer Zuflucht«: eine Höhle, in der man nachts einschlafen konnten, ohne sich jedes Mal fragen zu müssen, ob man am nächsten Morgen auch wieder aufwachen würde.

Eine leere und trostlose Existenz? Nein, so sah das der Ispettore gar nicht, denn er hatte zwar kein Privatleben mehr, dafür ging er völlig in seinem Beruf auf.

Vincenzo Marino war ein tüchtiger Ermittler, denn er besaß bei seinen Fällen die stoische Geduld eines Buddha und die grimmige Entschlossenheit eines Missionars. Darüber hinaus verfügte er über viel Intuition und wenig Fantasie, eine Mischung, die ihn davor bewahrte, voreilige Schlüsse zu ziehen, ehe er handfeste Beweise oder zumindest eine solide Grundlage aus Indizien in Händen hatte. An diesem Morgen war er todmüde und äußerst schlecht gelaunt.

Nachdem er am vergangenen Abend das Kindermädchen des entführten Babys hatte gehen lassen, hatte er den Fehler begangen, noch ein wenig im Büro zu bleiben, und dann kam er nicht mehr weg. So hatte er einen Gutteil der Nacht im Verhörraum verbracht, wo er eine Gruppe halb nackter Transvestiten befragen musste, die man im Garibaldi-Viertel aufgegriffen hatte und nun des Drogenhandels, unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit, der Prostitution und des Widerstands gegen die Staatsgewalt beschuldigte.

Die Streifenbeamten hatten Annabelle, Lorena, Lollipop, Sylvania und ihre Gefährtinnen wie aufgescheuchte Hühner über den gesamten Platz getrieben und dann ins Präsidium gebracht, während er noch da war.

Der diensthabende Kollege hatte ihn entdeckt, als er am Ende des Korridors um die Ecke schaute, und ihn gebeten, ihm doch bei der Identifizierung der »Damen« zu helfen: »Das schaffen wir doch im Handumdrehen, oder, Vince?«

Das Ende vom Lied war, dass er bei Sonnenaufgang noch im Präsidium hockte, und weil es nun zu spät war, um nach Hause zu gehen und zu schlafen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Kaffee wach zu halten.

Gähnend überflog er die Rundschreiben vom Vortag, für die er gestern keine Zeit mehr gefunden hatte. Er überlegte gerade, ob er auf einen weiteren Kaffee in den Saloon runterschauen sollte, als ihm ein Fax der Carabinieri vom vergangenen Vormittag in die Hände fiel.

Es war aus Versehen in der Ablage gelandet, obwohl es den Vermerk DRINGEND trug.

Darin ging es um das Verschwinden von zwei Kindern.

 

Carabinieristation von Rozzano
7. Februar 2007, 02:30:35 h

 

 

An alle unsere Einheiten auf italienischem Gebiet, an die Einheiten der Verbrechensbekämpfung der Polizei, an die Ermittlungseinheiten der Mordkommission, an die Jugendbehörde.

Mit vorliegendem Schreiben wird über folgenden Vorfall berichtet:

Die Minderjährigen Ivan Della Seta, 11 (elf) Jahre, und Martina Della Seta, 6 (sechs) Jahre, wohnhaft in Rozzano, Via Alcide de Gasperi 72c, die gestern gegen 18:30 Uhr zu Hause zurückerwartet wurden, sind dort nie angekommen.

Die Vermisstenanzeige wurde auf unserer Station von der Mutter, Annamaria Donadio, gestern Abend um 23:50:27 gestellt.

Obige Annamaria Donadio, Haushaltshilfe und teilzeitbeschäftigt als Putzfrau beim Unternehmen La Pulente, hat folgende Erklärung abgegeben:

»Ich erwartete die Kinder zum Abendessen. Der Größere, Ivan, der den Nachmittag meist im Jugendzentrum der Pfarrkirche Santa Maria della Conciliazione verbringt, die sich in Rozzano, Piazza Giovanni Amendola Hausnummer 12, befindet, sollte nach Hause kommen, nachdem er seine jüngere Schwester Martina nach dem Nachmittagsunterricht um 18 Uhr (der sogenannten ›Nachmittagsbetreuung‹) in der staatlichen Grundschule Tito Speri abgeholt hatte. Von dort sollte er auf direktem Weg nach Hause kommen. Aber das ist nicht erfolgt.«

Dazu gibt es Folgendes zu bemerken:

1) Die Familie lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen, und daher ist eine zweifache Entführung zum Zweck der Lösegelderpressung auszuschließen.

2) Die Minderjährigen werden seit vier Jahren vom Jugendamt von Rozzano (Mi), dem Wohnort, betreut.

3) Der Lebensgefährte der Mutter, Giulio Della Volpe, wohnhaft unter derselben Adresse wie die Minderjährigen, ist mehrfach vorbestraft wegen Drogenhandels, Vermögensdelikten und schwerer Gewaltanwendung. Als er wegen des Vorfalls einvernommen wurde, hat er angegeben, den gestrigen Nachmittag in der Werkstatt von Mauro Dinuccio, Via Genova Nr. 9, in Pieve Emanuele verbracht zu haben, wo er gelegentlich arbeitet. Dieses Alibi wurde vom Inhaber Mauro Dinuccio, seinem Auszubildenden Luca Cordin und der Angestellten Maria Stella Colzacò bestätigt.

Für die Suche der obengenannten Minderjährigen wurden sofort die zuständigen Hundestaffeln zum Einsatz gebracht, und gegenwärtig werden Ermittlungen im familiären Umfeld und im üblichen Bekanntenkreis der Familienmitglieder angestellt. Sollte es sich aus den gesammelten Fakten ergeben, wird eine Suche im Naviglio unter Einsatz von Tauchern veranlasst.

Diensthabender Offizier:

Tenente Nicola Amoruso

 

Zwei Kinder. Das traf ihn wie zwei Faustschläge mitten in den Bauch. Eigentlich waren es ja sogar drei Kinder, wenn man den kleinen Giovanni Simonella mitrechnete.

Aber das Kindermädchen war richtig was für’s Auge!

Da er in der Entführung des Säuglings ermittelte, würde er sich auch um die beiden Kinder aus dem Schreiben kümmern müssen, sollte sich herausstellen, dass sie entführt oder sonst einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren.

Wie viele seiner Kollegen hasste Vincenzo Marino Ermittlungen, in denen es um Minderjährige ging. Und das vor allem aus zwei Gründen.

Erstens: War das Kind nicht einfach von zu Hause fortgelaufen oder von einem Elternteil, der es ganz für sich haben wollte, entführt worden, wurde der Fall selten aufgeklärt. Wenn die Ermittlungen nach den ersten achtundvierzig Stunden nichts ergeben hatten, bedeutete dies meist, dass das Kind tot war und man begann, nach einer Leiche zu suchen, selbst wenn man sich natürlich bemühen musste, den Eltern noch Hoffnung zu machen.

Zweitens: Wenn die Suche erfolgreich verlief und man die Entführer tatsächlich fand, war es für die Leute, die die Verhöre führten, wirklich hart, nicht durchzudrehen und vor allem nicht Hand an sie zu legen.

Doch die schlimmste aller Möglichkeiten trat am häufigsten ein. Dass trotz umfassender Ermittlungen in alle Richtungen und des Einsatzes von Sondereinheiten und -kommissionen überhaupt nichts dabei herauskam.

Keine Beweise.

Keine Nachrichten über den Vermissten.

Keine Tipps von Informanten.

In diesem Fall verbrachten die Angehörigen Monate, ja Jahre in Angst und Sorge, gepaart mit viel Misstrauen gegenüber den Behörden, denen man unterstellte, sie würden nicht ihr Bestes tun, während bei den Ermittlern das frustrierende Gefühl zurückblieb, etwas Wichtiges außer Acht gelassen, etwas ganz Offensichtliches übersehen oder nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben.

Und es blieb ihnen eine keineswegs tröstliche Hoffnung, eine weitere Qual, die erst endete, wenn in einem Busch, einer Mülltonne oder einer Grube ein missbrauchter Körper gefunden wurde oder wenn sich überraschend jemand entschloss zu erzählen, was er wusste oder was er gesehen oder gehört hatte.

Zu entdecken, wozu Eltern, Freunde der Familie, Verwandte, Nachbarn fähig waren, war für Marino wie für viele seiner Kollegen immer wieder eine schreckliche, ekelhafte und … ja, auch immer wieder überraschende Erfahrung. Genau die Mischung von Gefühlen, die vielleicht ein Höhlenforscher durchlebt, wenn er beim Vordringen in bedrückende unerforschte Winkel plötzlich auf die Überreste eines Festmahls von urzeitlichen Kannibalen stößt.