KAPITEL 78
Donnerstag, 8. März, 02:00 Uhr
Jeder, der zum ersten Mal nach Mailand kam, besonders an nebligen Tagen, wurde unverzüglich von einem Gefühl beherrscht: Hier gab’s Probleme.
Wegen allem und jedem.
Probleme zu begreifen, wie der Verkehr verlief und warum man, wenn man nach rechts abbiegen wollte, immer nur nach links fahren durfte.
Probleme, Fahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel aufzutreiben, die man nur noch in wenigen U-Bahn-Stationen oder in einigen, immer weit von den Haltestellen entfernten Bars bekam.
Probleme, nein absolut keine Chance, seinen Wagen zu parken, weil alle möglichen Parkplätze entweder mit gelben Streifen markiert waren, also für Anwohner reserviert, oder mit blauen Streifen, und das bedeutete, man musste dafür zahlen und brauchte eines dieser Parktickets, die man genau wie die Straßenbahnfahrkarten kaum fand, da es sich für niemanden lohnte, sie zu verkaufen und deshalb kein Händler sich die Mühe machen mochte, sie zu führen.
Und schließlich Probleme, die eigene Lunge davon zu überzeugen, dass diese zähe, klebrige Mischung, die sich ganz demokratisch über jedes Viertel legte, genug Sauerstoff zum Überleben enthielt.
Ja, das tat sie.
Wenig, aber immerhin genug, um jeden Morgen aufzustehen und bis abends durchzuhalten.
Und obwohl die Mailänder Luft Bronchien und Luftröhre angriff und die Zellen verstopfte, wenn schon Pflanzen jung an Krebs starben und der Rasen bereits krank aus der Erde sprießte, beharrten die Leute darauf zu rauchen.
Die Anwärter auf die Lungenmaschine umgingen das Rauchverbot an öffentlichen Orten, indem sie sich wie streunende Katzen auf dem Bürgersteig versammelten. Tagsüber vor den Geschäften, den Bars, den Büros. Nachts bildeten sich Grüppchen vor den Lokalen, die für die Dauer einer hastig und gierig gerauchten Marlboro Smalltalk machten.
Woher kommst du?
Rho. Und du?
Melegnano.
Bist du mit deinem Freund hier?
Meinem Bruder.
Manche rauchten langsamer. Dann dauerte die Zigarette ein wenig länger, dann blieb es vielleicht nicht beim Smalltalk, sondern man unterhielt sich etwas ausführlicher, man baggerte, tauschte Handynummern aus.
Carmine Micciché, ein neu eingestellter Carabiniere, den man gerade von Salerno nach Mailand versetzt hatte, war um ein Uhr nachts auf dem Rückweg zu seinem Feldbett in der Kaserne der Carabinieristation von Rozzano, nachdem er sich einen Film in der Spätvorstellung angesehen hatte.
Er ging zu Fuß, weil er sich in der Stadt nicht auskannte und kein Auto hatte, doch leider war er zwei Straßenbahnhaltestellen zu früh ausgestiegen.
Er lief rasch vorwärts, aber da er nicht an diese gallertartige Luft gewöhnt war, stieß er den Atem ein wenig keuchend durch die von einem Schal bedeckte Nase und den Mund aus. Deshalb blieb er, als ihn sein Weg an der Diskothek Nadir vorbeiführte, stehen, um zu Atem zu kommen.
Er wollte nur ein wenig Luft holen, sonst nichts. Und dabei schaute er sich um, weil er jung war und aus einem Dorf kam, wo alle einander kannten und grüßten, und er sich hier in Mailand einsam fühlte.
Im Nadir waren sie vor genau einem Monat auf einen Anruf hin erschienen. Ein fünf-acht-acht, schwere Schlägerei, die sich danach als fünf-sieben-fünf herausstellte: Mord.
Als er mit heulenden Sirenen gemeinsam mit den Kollegen im Streifenwagen angekommen war, war er bis zum Morgen vor Ort beschäftigt, um Neugierige ohne Ausweispapiere und widerspenstige Gäste zu identifizieren. Er hatte sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, um von Zeugen, die anscheinend blind, taub und stumm waren, zu erfahren, was sie wussten, während sich in der Zwischenzeit die Hauptpersonen des Zwischenfalls davonmachten.
Alle außer dem Toten natürlich.
Nachdem die Richter eine Schließung angeordnet hatten, war die Diskothek erst seit kurzem wieder geöffnet. An diesem Abend war gerade eine private Party in vollem Gange. Ein ortsansässiger Bikerclub feierte die Wahl seines Präsidenten mit Mitgliedern, Anhängern und den dazugehörigen Frauen. Carmine, der davon nichts wusste, wunderte sich, was die Ansammlung von Rauchern vor dem Lokal zu bedeuten hatte.
Er blieb ein paar Minuten an der Straßenecke stehen und sah sich um. Und dann beging er seinen ersten und letzten Fehler: Er begegnete dem Blick eines gefährlich wirkenden Typen und sah nicht schnell genug weg.
»Hast du Feuer?« Nackte muskelbepackte Oberarme, bis zu den Achselhöhlen tätowiert, ein T-Shirt, das an den Brustmuskeln spannte, kahlrasierter Kopf, Piercings in Ohrläppchen, Wangen, in Nasenflügeln und Augenbrauen. Der Kerl wirkte wie die Werbung für eine Eisenwarenhandlung. Jeder Quadratzentimeter seines Körpers strahlte Bedrohlichkeit aus, was andere Details nur noch bestätigten: das gebrochene Nasenbein, der angespannte Gesichtsausdruck, die zusammengepressten Zähne und die unvermeidlichen DocMartens mit der verstärkten Metallspitze …
Ein Naziskinhead und dann noch im Kreise seiner Freunde, denn er schien sich mit einigen Rauchern um ihn herum ausgezeichnet zu verstehen.
»Tut mir leid, ich rauche nicht. Ich nehme einfach einen tiefen Zug aus der Luft hier, das reicht schon für den Kick.« Carmine lachte gern über seine eigenen Witze, und das war nun keiner seiner glücklichsten.
»Warum? Was ist denn mit dieser Luft, he? Du beschissener Sizilianer!«
Blitzschnell fand sich der Carabiniere in Zivil von vier zugedröhnten Riesenkerlen umringt. Er bekam noch aus dem Augenwinkel mit, wie der Türsteher des Nadir schnell im Lokal verschwand und die Tür verriegelte.
»He, das war nur ein Witz, was habt ihr denn kapiert?«
»Dass du ein Bulle bist, das haben wir kapiert.«
»He, was?« Carmine witterte die Gefahr und machte einen Satz nach hinten, bereit loszurennen, aber er kam nicht schnell genug vom Bürgersteig weg.
Die vier kreisten ihn ein. Bevor das Lächeln aus seinem Gesicht gewichen war, traf ihn schon der erste Schlag. Ein brutaler Kinnhaken mit einem Schlagring brach ihm den Unterkiefer.
Der lähmende Schmerz brachte ihn ins Schwanken, er fiel zu Boden, rollte sich zusammen und versuchte seine Muskeln möglichst stark anzuspannen, schützte seinen Kopf und das Gesicht mit den Händen, während ein Fußtritt sein Knie traf und ein anderer direkt seine Stirn, so dass er bewusstlos wurde.
Bis zum Rand abgefüllt mit Kokain, aufgepumpt mit Anabolika und Hormonen wie Kampfstiere, traten ihn die vier systematisch zusammen. Als der Streifenwagen kam, den der eine neuerliche Schließung des Lokals befürchtende Geschäftsführer der Diskothek gerufen hatte, atmete Carmine Micciché nicht mehr. Zweiundzwanzig Jahre alt, ein Carabiniere, der in den Norden gekommen war, »weil es südlich von Rom viel zu riskant ist, wenn man eine Uniform trägt«.
Das Nadir wurde vollkommen abgeschottet.
Der Tod eines Carabiniere, selbst wenn er nicht im Dienst war, konnte mit Recht eine Razzia und die dauerhafte Schließung des Lokals bedeuten, selbst wenn der Carabiniere auf der Straße davor zusammengeschlagen wurde. Um die schlimmsten Folgen abzuwenden, war der Geschäftsführer sofort kooperativ. Und zwar so kooperativ, dass er sich aus dem Stand an die Namen von zweien der vier Schläger erinnerte. Er hatte sie auf der Gästeliste: Namen, Vornamen und Adressen.
Sie waren Gäste der Motorradfahrer, sagte er. Aber da er ihren Ruf kannte, hätte er sie eigentlich ausschließen müssen. Zwei Schlägertypen, die nichts als Ärger im Kopf hatten und die Frauen belästigten. Ihre Kumpels dagegen schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Keiner der ordentlichen Mitglieder des Bikerclubs erinnerte sich an ihre Namen.
Der Fall war gelöst: Als die Carabinieri sie in ihren mit Hakenkreuzen, Standarten, Ketten, Totenschädeln, Schlagringen und Ähnlichem geschmückten Zimmern festnahmen, schliefen die beiden Naziskins einen festen Drogenschlaf. Einer von beiden hatte sogar auf einer mit einem schwarzen Tuch bedeckten Konsole eine Art Altar errichtet, auf dem die Büsten von Mussolini und Hitler standen. Der andere hatte in seiner Sporttasche ein Waffenarsenal versteckt.
Beide hatten faschistische Symbole mit denen des Satanismus gemischt. Schwarze Kerzen, auf den Kopf gestellte Kruzifixe, die Zahl 666 mit roter Farbe auf die Wand geschrieben, vermeintlich Blut, sollte sich aber als Lippenstift herausstellen, Strähnen von weiblichen Kopf- und Schamhaaren, ausgebleichte Tierknochen.
Gott mit uns!
Die beiden nannten einander Acido und Klaus, die gleichen Nicknames benutzten sie auch im Chat. Als man sie in die Kaserne der Carabinieri brachte und dort strengen, nicht gerade freundlichen Verhören unterzog, erwiesen sich die beiden als weit weniger hart, als ihr Aussehen vermuten ließ.
Anfangs schoben sie sich gegenseitig die Schuld zu. Bei einer Gegenüberstellung, beide hatten diverse Wunden: aufgeplatzte Lippen, abgeschürfte Augenbrauen, eine gebrochene Nase und eine genähte Wunde auf der Wange, erklärten sie sich allerdings bereit, als gute Kameraden gemeinsam die Verantwortung für den Mord zu übernehmen. Und sie nannten nicht nur die Kampfnamen der beiden anderen Täter, Mastino und Fritz, sondern ließen den Staatsanwalt, der sie wegen Vergehen, die das halbe Strafgesetzbuch gefüllt hätten, anklagte, durch ihre Verteidiger wissen, dass sie zu einem Deal bereit seien und wertvolle Informationen gegen ein wenig Milde eintauschen würden. Zum Beispiel: wenn man ihnen nur einen fünfhundertachtundachtzig, schwere Körperverletzung, dazu eventuell einen sechshundertzehn, Nötigung, statt des berüchtigten Paragraphen fünfhundertfünfundsiebzig, Totschlag, vorwerfen würde, würden sie singen wie zwei Kanarienvögel.
Und sie hatten einiges zu erzählen.
»Gut, verhandeln wir«, sagte der Staatsanwalt. »Aber ich will alles, aber wirklich alles über eure Organisation wissen, wenn es eine gibt. Wie und wann sie entstanden ist, die Namen ihrer Anführer, wer sie beschützt, wer die Geldgeber sind, alles!«
So kam heraus, dass Fritz und Mastino keiner Organisation angehörten. Sie waren käufliche, professionelle Schläger, beide über dreißig, die für jeden zuschlugen, der ihnen Geld gab, oder auch umsonst, wenn es ihnen einfiel. Aber Acido und Klaus, der eine fünfunddreißig, der andere achtunddreißig Jahre alt, gehörten zu einer Zelle. Und was für einer Zelle!
Die beiden redeten wie ein Wasserfall, füllten seitenweise Aussageprotokolle und forderten am Ende, ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden.
»Sie erfüllen die Voraussetzungen«, erklärte Ispettore Capo Vincenzo Marino, als er einige Tage später das Rundschreiben der Carabinieri über die den Fall Simonella betreffenden Fakten erhielt, die in den Verhören ans Licht gekommen waren und eine ebenso überraschende wie erfolgversprechende Spur eröffneten. »Aber trotzdem sind das richtige Schweine.«