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»Glück!«, hat Fay immer gesagt.
»Was soll das schon heißen, Mädchen? Niemand hat einfach Glück. Du
hältst die Augen offen, verstehst du, nutzt die Gelegenheit, wenn
sie kommt. So läuft das Leben. Keiner wird reich und bleibt aus’m
Schloss raus, wenn er sich aufs Glück verlässt. Weißte, was ich
meine?«
Der Polizist ist nicht mehr als
fünf Meter von Baz entfernt, die beiden Jungen baumeln in seinen
Fäusten, als würde er sie zum Trocknen aufhängen, und sie weiß,
dass jetzt keine Zeit zum Überlegen und Abwägen mehr ist.
Garantiert kommen gleich noch weitere Uniformierte, vielleicht
steht schon jetzt irgendein APA-Mann in der Nähe, bereit, auch sie
am Kragen zu packen. Aber das ist jetzt alles egal.
Sie holt einmal tief Luft, dann
stürmt sie vorwärts, wirft sich dem Polizisten mit voller Kraft von
hinten in die Beine, genau auf Höhe der Knie, sodass er umknickt
wie ein großer Baum und im Sturz mit dem Rücken noch halb auf Baz’
Kopf landet.
Es gibt ein Geschrei, jemand zieht
sie in die eine Richtung, jemand anders, der sie am Bein gepackt
hat, in die andere. Sie tritt mit dem linken Fuß um sich, jemand
flucht, und dann ist sie frei, und irgendwie ist jetzt auch Demi
auf den Beinen, mit schmerzverzerrtem Gesicht und Blut, das ihm den
Arm hinunterläuft, aber er hält ihre Hand und sie laufen auf den
Bahnsteig zu. Als sie einmal zurückblickt, sieht sie, dass es ein
neues Handgemenge gibt. Miguel ist auf den Beinen, versucht dem
Polizisten einen Tritt zu verpassen, und dann sieht sie ein hageres
Gesicht in der Menge, das ihr zugrinst, die dazugehörigen Hände
sind erhoben und bilden mit den Fingern ein T, und gleich darauf
schlüpft die ganze Person aus dem Gedränge heraus – Lucien!
Gerade vor ihnen stößt der Zug
nach Tianna einen Pfiff aus und setzt sich in Bewegung.
»Der Zug ist weg, Demi!«
»Komm weiter, Baz!«
Sie rennen, so schnell sie können,
so schnell, dass die Lungen fast platzen, am Gleis sieben vorbei
den Querbahnsteig hinunter und dann auf das Gleis vier. Dort fährt
in diesem Moment ein Nahverkehrszug ab, aber auf den hat es Demi
keineswegs abgesehen. Er drängt Baz die Bahnsteigkante entlang und
springt dann hinunter auf das leere Gleis. Einen Moment lang zögert
sie, blickt sich noch einmal um und muss an den fliehenden Jungen
denken, der von dem APA-Mann erschossen wurde, aber es ist keine
APA hinter ihnen her, nur ein Bahnbeamter, der zornig mit den Armen
rudert und in seine Pfeife bläst. Demi ist bereits dabei, halb
laufend, halb hüpfend über die Schienen zu eilen.
Es ist blanker Wahnsinn, was er da
macht, andererseits gibt es aber auch kein Zurück mehr, also
springt sie hinterher. Am Ende des Gleises setzt Demi über die
Stromschiene und zeigt auf den Zug nach Tianna, der ungefähr
zwanzig Meter weiter gehalten hat, damit ein halbes Dutzend bereits
rangierter Güterwaggons angekuppelt werden kann.
»Schnell!«
Wie viel Zeit bleibt ihnen? Wenn
der Zug erst einmal in Bewegung ist, dann ist es das gewesen. Es
gibt keinen anderen Ausweg für sie. Bitte, denkt Baz, bitte. Nur
ein bisschen Zeit ...
Und so hüpfen und springen sie
über die Schienen, versuchen ihre Schrittlänge dem Abstand der
Schwellen anzupassen, und dann, gerade als sie den Zug erreicht
haben und Demi schon aufgesprungen ist, um die Tür zum hintersten
Abteil aufzuziehen, da setzt sich der Zug mit einem Ruck in
Bewegung. Baz ist dran, doch schon nimmt der Zug Geschwindigkeit
auf. Sie greift nach der Türkante, kommt aus dem Tritt, gerät ins
Stolpern, und plötzlich, als sie den Halt bereits verloren hat,
packt Demi ihre Hand, zieht sie hoch, hält sie fest, bringt sie in
Sicherheit.
Vor ihnen sitzen ein paar
flachgesichtige Frauen vom Land, die ihnen entgegenstarren, aber
nichts sagen, sondern nur die Füße einziehen, als Demi die Tür
zumacht. Ein pingelig wirkender Mann auf der anderen Seite des
Ganges begutachtet sie murrend und drückt seine Aktentasche fest an
die Brust. »Ihr habt kein Recht, in diesen Zug zu steigen. Wir
haben alle für unsere Fahrkarten bezahlt.«
»Wir ham unsere auch bezahlt«,
sagt Demi. »Komm, Baz.«
Der Zug schaukelt und ruckelt,
während die zwei sich durch das Abteil arbeiten und in das nächste
überwechseln. Der Schaffner hält sie an, doch als er die Fahrkarten
sieht, die Demi aus seiner Gesäßtasche zieht, lässt er sie
passieren. »Plätze sind weiter vorn«, sagt er, und wenige Minuten
später sitzt Baz völlig erledigt auf einem Fensterplatz, während
draußen die Randbezirke der Stadt an ihr vorbeiziehen. Demi
dagegen, auf dem Sitz gegenüber, grinst sich eins. »Was würdste
bloß machen, wenn du mich nicht hättest, der für dich mitdenkt,
Baz?«, sagt er.
»Würd ’n schönes, angenehmes Leben
leben«, sagt sie.
»Hättst mich sehn solln, Baz. Als
dieser Uniformierte mich am Wickel hatte, dacht er schon, ich bin
tot, aber dann«, er macht ein Pfeifgeräusch und wischt mit der Hand
durch die Luft, »bin ich lebendiger als der Wundermann. Also, wozu
hast du dich eigentlich in den Uniformierten reingeschmissen, als
wärst du ’n wild gewordener kleiner Elefant?«
»Um dich zu retten, Demi. Wie
ich’s immer tu.«
Er wirft sich in die Brust. »Nicht
nötig. Braucht ’ne ganze Armee, um mich zu fangen.«
»Demi, wann wirst du mal ’n
bisschen erwachsen?«
Er lacht, höchst angetan von sich
selbst. »Wenn wir in Tianna sind, vielleicht.«
»Hast du gesehn, was mit Lucien
passiert ist?«
Sein Grinsen verschwindet. »Nein,
diese Ratte Miguel ist schon um mich rumgeschlichen, als ich die
Fahrkarten gekauft hab, hing mir am Ärmel, wollte mir unser Geld
klauen.« Er klopft auf die Wölbung in seiner Hosentasche.
»Miguel ist gar nicht da gewesen,
um zu klauen«, sagt sie. »Er war da, um zu spioniern. Er ist jetzt
Kundschafter für Eduardo.«
»Dann ist er wohl gierig geworden,
als er mein Dollarbündel gesehn hat.« Demi grinst. »Der wünscht
sich bestimmt, dass er die Finger aus meiner Tasche gelassen hätte.
Hat ihn garantiert ’n Zahn gekostet.«
»Kostet ihn mehr als das, falls
die Uniformen ihn am Kragen ham.«
Demi zuckt mit den Schultern. »Du
hattest von Anfang an recht, Baz. Er ist bloß ’ne Straßenratte. Was
ist mit Lucien?«
»Ich hab ihn gesehen, er ist
seinen Aufpasser wohl losgeworden.«
»Der findet uns in Tianna, Baz.
Dieser Typ hat mich mein Leben lang zum Narren gehalten. Sieht nach
nix aus, nur Haut und Knochen, geht aber ran wie ’n Bulle, wenn du
weißt, was ich mein. Wie er da auf der Maschine gefahrn ist ...«
Demi bläst die Backen auf und schüttelt den Kopf. »Voll auf die
Pistole drauf. Er hat uns da rausgeholt, Baz.«
»Das weiß ich, Demi.« Sie lächelt.
Es kommt selten vor bei Demi, dass er jemand anderes bewundert als
sich selbst. Und sie erinnert sich an Luciens Zeichen, T für
Tianna. Er wird sie finden und dann sind sie zu dritt.
Demi dreht den Kopf und guckt aus
dem Fenster.
Baz betrachtet die durchhängenden
Telefonleitungsdrähte, die an ihnen vorüberziehen. »Werden sie alle
nicht mehr wiedersehen, Demi. All die Leute aus dem Barrio.«
Er nickt. »Fay auch.« Für eine
Weile ist er still, dann sagt er: »Hat uns all das Geld gegeben,
das sie gespart hat. Ich glaub, sie wollte, dass wir unser eigenes
Leben leben können. Ja, genau, ich glaub, so ist es.«
Baz weiß nicht recht, was sie
glauben soll, aber sie erinnert sich an das, was sie sich immer
erhofft hat – dass Fay und Demi immer da sein, dass Fay immer eine
Schwester für sie sein würde. Aber sie war niemals eine Schwester.
Vielleicht hat sie etwas so Ungeheuerliches getan, als sie ihr Baby
weggab, dass sie davon irgendwie einen Knacks gekriegt hat.
Vielleicht hat Fay so lange Kinder weggegeben, hier mal eins, dort
mal eins, dass jedes Gefühl in ihr gestorben ist. Dass ihr alles
egal war. Und dann ist er, ihr eigenes Kind, zurückgekommen, und da
hat sie angefangen, wieder etwas zu fühlen. Vielleicht hat Sol doch
die Wahrheit gesagt. Vielleicht wollte Fay wirklich wissen, ob sie
beide in Sicherheit sind.
Draußen verschwinden jetzt die
letzten Ausläufer der Stadt hinter ihnen und werden von staubigen
Feldern abgelöst. Baz spürt einen Schmerz in den Augen und in der
Brust, als würde etwas in ihr zusammenschrumpfen. Es ist ein
Gefühl, das sie in dieser Art noch nie kennengelernt hat, nicht
einmal, als sie Raoul hinter dem Drahtzaun auf dem Berg
zurücklassen mussten. Es ist die Trauer um das, was hätte sein
können. Sie weint nicht, das hat sie nie getan, auch Demi nicht,
nicht einmal, wenn Fay sie geschlagen hat. Sie reibt sich mit dem
Handballen das Auge. »Demi, glaubst du, dass jemand nach uns suchen
kommt?«
Er schüttelt den Kopf. »Die können
so viel suchen, wie sie wolln, aber wir werden anders sein, wenn
wir nach Tianna kommen, Baz. Werden ganz andere Menschen
sein.«
Sie sieht ihn an, will ihm sagen,
dass er sich schon jetzt ganz anders anhört, aber er hat die Augen
geschlossen und daher sagt sie nichts.
Eine Weile später kommt eine Frau
ins Abteil und nimmt auf der anderen Seite des Ganges Platz. Sie
bietet Baz etwas Obst an, dicke, saftige Pflaumen, und fragt:
»Willst du noch ein paar nehmen, für deinen Bruder, wenn er
aufwacht?«
»Mein Bruder«, sagt sie. »Ja, die
nimmt er bestimmt gerne. Danke.« Dann schließt auch sie die Augen
und lässt sich vom Rattern des Zuges, der sie nach Norden bringt,
in den Schlaf wiegen.