21
Señora Dolucca nimmt ihre Brille
ab und gibt Baz ein Zeichen, als Erste ins Zimmer zu gehen.
Trotz der strahlenden Helligkeit
draußen ist es im Zimmer so düster, dass Baz die im Bett liegende
Gestalt kaum erkennen kann. Ein dunkler Kopf auf einem weißen
Kissen, der sich leicht bewegt, als sie das Zimmer betritt. Baz
hält den Atem an. Ein Deckenventilator rührt die stickige Luft auf.
Die Gestalt stöhnt leise. Sie zögert, atmet noch einmal durch und
bewegt sich dann lautlos auf das Bett zu.
Noch immer kann sie nicht
erkennen, ob er es ist oder nicht, da der Junge sein Gesicht dem
verdunkelten Fenster zugekehrt hat. Sie streckt die Hand aus und
berührt sanft, nur mit den Fingerspitzen, seinen Nacken. Der Junge
regt sich, dreht den Kopf herum, und dann sieht sie die Umrisse
seines Gesichts, das Weiße der Augen, die zur Decke hinaufblicken,
zu dem langsamen Kreisen des Ventilators.
»Demi!« Halb ist es ein Schrei,
halb ein Flüstern. »Demi.« Sie berührt ihn nicht noch einmal,
bleibt einfach dicht neben dem Bett stehen und sieht ihn an.
Er dreht den Kopf noch etwas
weiter zu ihr, und jetzt sieht sie dunkle Ringe unter seinen Augen,
sein Gesicht wirkt verhärmt, seine Atmung ein bisschen
unregelmäßig. »Baz«, sagt er, »bist gekommen, nach mir zu
suchen.«
»Was denkst du denn?«, sagt sie
sanft, bemüht, ihre Besorgnis zu verbergen. »Muss doch kommen und
dich finden – so’n dummen Jungen, der sich einfach schnappen
lässt.«
Und dann, zu ihrer Überraschung,
grinst er und flüstert: »Dieses Mal ham sie mich vielleicht
erwischt, aber sie ham mich nicht ins Schloss gesteckt. Und wenn
ich will, hab ich ’n Deal, Baz – Freifahrtschein hier raus.«
»Was! Alles nur gespielt –
Verletzung und Schmerzen und alles?«
»Teilweise. Die Kugel hat mich
hier erwischt. Glatt durchgegangen.« Er fasst sich an den linken
Arm und hievt sich zusammenzuckend zum Sitzen hoch. »Schätze, ich
kann immer noch schneller laufen als du.«
Sie möchte wissen, wer dieser
andere Besucher war: Señor Moro? Die Polizei? Vielleicht der
Captain selbst. Der Oberste der Greifer macht einen Deal mit einem
Jungen aus dem Barrio. Könnte durchaus sein. Demi hat eine Menge zu
erzählen.
»Hast ’n Deal gemacht?«
»Deal liegt auf’m Tisch. Wenn ich
will, kann ich zugreifen. Gib mal ’n bisschen Wasser, Baz.«
Sie reicht ihm das Glas. »Wer
bietet dir ’n Deal an?«
Er beugt den Kopf ein wenig zur
Seite, nimmt einen Schluck und sieht dabei die vom Licht aus dem
Flur umrahmte Gestalt der Señora Dolucca. »Wer ist das, Baz? Wen
hast du mitgebracht?«
»Die Frau des Captain, Demi. Sie
hat mich hergebracht. Und ich hab ihr den Ring zurückgegeben,
Demi.«
»Sie weiß Bescheid?«
»Sie weiß alles, bis auf
eins.«
Er sieht sie eine Weile an, ohne
etwas zu sagen. Dann, in fast gleichgültigem Ton: »Du hast ihr den
Ring gegeben. Du machst wohl Witze. Nach all den Scherereien, die
ich damit hatte.«
»Du machst nur allen andern Leuten
Scherereien. Ich war’s doch, die durch die halbe Stadt rennen
musste, um das Teil nach Hause zu bringen. Und dann musst ich noch
mal das Gleiche tun, um dich zu finden.«
»Mach die Jalousien auf, Baz. Man
hat das Gefühl, hier ist es immer Nacht.«
Sie geht und zieht die
Holzjalousien auf, worauf helles Sonnenlicht durch das vergitterte
Fenster flutet. Demi lehnt sich in seine Kissen zurück.
»Du bist vielleicht ’ne
Dummliese«, neckt er. Und dann, mit leiserer Stimme: »Und hast es
gefunden, wo Fay ihre Schätze versteckt, ja? Die wird toben, wenn
sie merkt, dass der Ring weg ist.«
Baz zuckt mit den Schultern. Fay
spielt in ihren Gedanken keine Rolle mehr, abgesehen davon, dass
sie Demi von ihr weglocken muss, von ihr und der ganzen Gegend,
denn im Barrio gibt es für sie kein Zuhause mehr.
»Das also ist er?« Señora Dolucca
ist neben Baz getreten. Sie hat ihre dunkle Brille wieder
aufgesetzt. »Er ist noch ganz klein. Wie kommt ein kleines Kind wie
du dazu, den Polizei-Captain der Stadt berauben zu wollen? Wer
schickt dich los, so etwas zu tun?« Sie ist nicht verärgert, wie
Baz genau erkennt, sondern ehrlich verblüfft.
Demi schweigt für einen Moment,
als müsse er Kräfte sammeln. »Ich bin gar nicht so klein«, sagt er.
»Ich bin schnell und ich kenn mich in dieser Stadt gut aus.«
»Als du das hier gestohlen hast«,
sie hält den Ring hoch, »da wusstest du nicht, wer mein Mann ist,
nicht wahr?«
»Wenn Ihr Mann neben Ihnen steht,
weiß ich, wer er ist, aber da war nur dieses dünne, kleine Mädchen
mit den scharfen Augen – die war’s, die Sie dabeihatten.«
»Ja.« Ihre Lippen kräuseln sich zu
einem angedeuteten Lächeln, und Baz kann sehen, dass ihr dieser
Junge gefällt, dieser Dieb, der sie bestohlen hat. »Und du hast
dieses Mädchen hier. Ist sie dir genauso wichtig wie du ihr?«
»Die!« Er hustet und zuckt dann
zusammen. »Baz! Hey, die hab ich gefunden, hab ihr ihrn Namen
gegeben – ist doch klar, dass sie nicht ohne mich auskommt, was
soll sie ohne mich auf der Straße machen?« Baz verschränkt die Arme
und wartet. Er ist angeschossen und liegt in einem
Militärkrankenhaus, wo draußen auf dem Flur ein Gefängniswärter
sitzt und ihn bewacht, und trotzdem muss dieser Junge sich schon
wieder aufplustern. »Also muss ich ständig auf sie aufpassen«, sagt
er befriedigt. »So sieht das aus.«
Baz verzieht das Gesicht. Nicht
einmal eine Kugel kann ihm das große Maul stopfen. »Aus deinem Kopf
kommt mehr heiße Luft als aus der Wäscherei Ching Chang!«
»Nun denn«, sagt Señora Dolucca zu
Baz, »ich freue mich, dass du ihn gefunden hast und dass du ihn
hier gefunden hast, nicht an diesem anderen Ort. Und ich habe
meinen Ring zurück, das wäre also jetzt die Hälfte von dem, was wir
vereinbart haben.« Sie steckt ihn sich wieder an den Finger. »Und
jetzt erzählst du mir diese Sache über meine Familie, ja?«
»Ja.« Baz zögert. Diese Wahrheit,
die sie mitzuteilen im Begriff ist, könnte die große Welle sein,
die sie alle hinwegschwemmt, aber sie hat ihr Versprechen gegeben,
und diese Frau hat mehr getan, um ihnen zu helfen, als sie sich je
hätte erträumen lassen. »Eins müssen Sie noch tun, bitte. Wenn ich
Ihnen die Sache erzähle, bringt das mich und Demi in Gefahr. In
große Gefahr, verstehn Sie. Sie müssen versprechen, dass Sie nichts
weitersagen, Ihrm Mann nicht, Ihrer Tochter nicht, niemand. Nur für
eine Weile.«
»Wie lange?«
Wie lange? Sie weiß es nicht.
»Zwei Tage«, sagt sie, in der Hoffnung, dass das reichen
wird.
Señora Dolucca geht zum Fenster
und nimmt sich eine Zigarette. »Zwei Tage«, sagt sie. »Na gut, und
jetzt erzähle.« Sie lässt ein silbernes Feuerzeug klicken und
inhaliert heftig.
Und so erzählt Baz, während Señora
Dolucca nervös an ihrer Mentholzigarette zieht. Sie erzählt, wie
sie erfahren haben, dass ihr Junge adoptiert ist, und dass sie
wissen, wer seine Mutter ist. Die Frau ist ganz still, hört
aufmerksam zu. Sie nimmt die Brille ab, sodass man ihr lädiertes
Auge sehen kann. »All das weiß ich«, sagt sie müde. »Kommt noch
mehr?« Baz erklärt so schlicht, wie sie kann, was Fay für sie und
Demi darstellt und für die anderen Kinder, die für sie arbeiten.
»Mein Mann, der Captain«, sagt die Señora mit einem kurzen Lachen,
»hilft immerzu irgendwelchen Mädchen von der Straße. Er meint, er
würde ihnen eine Chance geben, ein neues Leben anzufangen. Er
kannte eure Fay schon, bevor sie an unsere Tür geklopft hat mit dem
Baby. Das weiß ich. Er ist, was er ist, aber sie, sie ist zu einer
Mutter von Dieben geworden?«
»Ja.« Baz wirft Demi einen Blick
zu. »Ihr Sohn sollte froh sein, eine Familie zu haben«, sagt sie,
»aber das, was er hat, will er gar nicht. Er will mehr. Er möchte
wie seine leibliche Mutter sein. Er möchte Dieb sein.« Sie weiß
dies nicht mit Sicherheit, aber sie weiß, dass Eduardo sich bei Fay
einschmeichelt, dass er Lügen erzählt, mit ihrer aller Leben
spielt. Ganz gleich, wie seine Pläne im Einzelnen aussehen mögen,
sie werden nicht zum Wohle dieser Frau ausschlagen.
»Nein!« Señora Dolucca reagiert,
als sei sie gestochen worden. »Er ist ein guter Junge, immer nett
und freundlich, zu seiner Schwester, zu mir ...«
»Und zu Ihrm Mann?«, sagt Demi.
»Steht’s so gut zwischen ihm und Eduardo?«
»Ihr kennt seinen Namen?«, sagt
sie, fast zu sich selbst, dann schüttelt sie den Kopf. »Ich weiß
nicht, Jungen und ihre Väter, manchmal gibt es da Probleme in
diesem Alter.«
Baz wartet einen Moment, dann
fährt sie fort. »Er hat geplant, dass wir in Ihr Haus einbrechen.
Hat es mit Fay geplant. Wir sollten das ganze Geld von Ihrm Mann
nehmen, sein schmutziges Geld, das, was ihm die Verbrecher gegeben
habn. Wissen Sie. Und dann, glaub ich, hat er auch geplant, dass
wir gefangen werden.« Sie blickt zu Boden, möchte nicht in das
verletzte Gesicht dieser Frau sehen.
»Warum sollte er das tun?«
Baz zuckt mit den Schultern.
»Gibt es noch mehr?«
Bevor Baz antworten kann, stößt
Demi ein leises Stöhnen aus und packt sie am Handgelenk, und gleich
bekommt sie es wieder mit der Angst zu tun. »Was ist los? Wo tut’s
dir weh, Demi? Du hast uns nichts weiter gesagt.«
Er zieht sie zu sich heran und
flüstert leise: »Schick sie weg, Baz.« Dann macht er die Augen
zu.
»Die Wunde tut weh«, sagt sie zu
Señora Dolucca. »Er muss schlafen. Dann Medikamente nehmen.«
»Ich sollte gehen. Ich muss meine
Tochter abholen, aber ich hatte versprochen zu helfen.«
»Sie ham geholfen.«
»Nein, ich meine, ihn, deinen
Bruder in Sicherheit zu bringen. Und hier ist es nicht sicher.« Sie
stochert in ihrer Handtasche. »Ich kann dir das hier geben. Das
könnte eine Hilfe sein.« Sie gibt Baz eine Karte mit einer
Telefonnummer und einen Hundertdollarschein und kurz darauf noch
zwei weitere.
Können vor Geld kaum aus den Augen
gucken, denkt Baz, und ohne zu zögern nimmt sie die Karte und die
Scheine entgegen. Vielleicht kann sie die Wache bestechen,
vielleicht ein Auto kaufen, um sie beide an einen sicheren Ort zu
bringen.
Nachdem diese Frau so ruhig war
bei ihrem Treffen und dann im Schloss alles unter Kontrolle hatte,
ist es seltsam, sie jetzt nervös zu sehen, aber tatsächlich, genau
das ist sie. Sie weiß nicht, was sie ihnen noch sagen soll.
Vielleicht hat sie mehr erfahren, als sie erwartet hat. Oder
vielleicht war es etwas, das sie zwar vermutet hat, aber lieber
nicht bestätigt haben wollte. Schon möglich, dass sie ihnen helfen
möchte, vor allem aber möchte sie sich selbst helfen. Sie
verspricht, zurückzukommen. Sie sagt, sie werde versuchen mit ihrem
Mann zu sprechen, aber das klingt nicht sehr überzeugend. Baz hat
schon etliche junge Frauen gesehen, die die gleiche Verfärbung am
Auge hatten wie Señora Dolucca. Sie hat den Captain im Fernsehen
erlebt, und sie kann sich gut vorstellen, dass er ein Mann ist, der
seine Frau verprügelt.
Als die Señora gegangen ist,
betrachtet Baz die Geldscheine in ihrer Hand und muss fast lachen.
Ihr ganzes Leben lang haben sie und Demi alles riskiert, um solches
Geld zu stehlen, und jetzt hält sie es in der Hand, ohne irgendwas
dafür getan zu haben. Nein, das stimmt nicht: Sie hat etwas
zurückgegeben, das sie gestohlen hatten, und dafür haben sie mehr
Geld bekommen, als sie je besessen hat.
Sie wendet sich zu Demi zurück,
und Demi, der eben noch auf halb tot gemacht hat, sitzt aufrecht im
Bett in seinem weißen Krankenhauskittel, grinst und ist dermaßen
zufrieden mit sich, dass er, wäre er ein Hahn, wohl anfangen würde
zu krähen. »Wie viel hat sie dir gegeben, Baz? Bist ’ne sagenhafte
Schnorrerin. Hab noch keinen gesehn, der den Leuten so das Geld aus
der Tasche leiert.«
»Ich hab einen Deal mit ihr
gemacht, das ist alles. He«, sagt sie, als Demi die Decke
zurückschlägt und seine Beine aus dem Bett schwingt. »Lass
das!«
»Wenn du glaubst, dass ich hier
Wurzeln schlagen will, bist du doch nicht so schlau, wie ich eben
dachte.«
Sein ganzer linker Arm ist fest
verbunden. Er muss stark geblutet haben, sie kann orangefarbene
Flecken durchschimmern sehen.
Er hält ihn stolz hoch. »Der
Doktor meint, jeder Schuss kann tödlich sein, aber das hier war nur
’ne kleine Kugel. Siehste? Ist nichts. Nichts, was mich abhalten
kann, aufzustehn, Baz. Haste dir irgendwas überlegt, wie wir hier
wegkommen?«
»Was! Glaubst du, ich hätt draußen
’n Wagen stehen?«
»Hab ’n Motorrad versteckt. Wenn
du das herholst, kann uns keiner aufhalten.«
Das sind Traumgespinste. Dies ist
zwar nicht das Schloss, aber die Fenster sind vergittert, der Flur
abgesperrt und bewacht, und so gibt es für Demi kein Rauskommen, es
sei denn, er hätte gelernt, sich in eine Rauchwolke zu verwandeln,
sodass er zum Beispiel durch einen Luftschacht entweichen könnte.
Die Uniformierten werden ihn über kurz oder lang holen kommen, und
wenn sie wollen, stecken sie ihn dann ins Schloss. Mit dem Geld
kann sie versuchen, den Wächter zu bestechen, aber so etwas hat sie
noch nie gemacht – und würde der Mann, wenn er das Geld sieht, es
ihr nicht einfach wegnehmen? So würde es jedenfalls im Barrio
laufen. »Was ist das für’n Deal, den der Mann dir vorgeschlagen
hat?«, sagt sie. »Hoffentlich was Bessres als dein Traum, dass du
einfach aufstehen und hier aus der Tür rausspaziern kannst?«
»Weißt du, wer vor dir zu Besuch
war?«
Baz wartet.
»Fays Junge war’s.«
Nickend nimmt er ihre Überraschung
zur Kenntnis. Dann erzählt er ihr, wie Eduardo ins Zimmer
marschiert gekommen ist, als sei er der Präsident höchstpersönlich.
Er hat dem Wächter irgendeinen Schein unter die Nase gehalten,
worauf dieser vor ihm salutierte und sogar anbot, ihm einen Tee zu
holen. Eduardo war’s, der ihm den Deal angeboten hat: Demi brauche
weiter nichts zu tun, als zu gestehen, dass der Einbruch von Moro
geplant gewesen sei, mehr nicht. Ganz einfach. Und dann werde
Eduardo seine Freilassung regeln.
»Das kann er?«
Demi zuckt mit den Schultern. »Was
hab ich zu verliern? Wenn die kommen und mich befragen, erzähl ich
ihnen, was er mir gesagt hat. Was kümmert es mich, wenn Moro dafür
bluten muss? Uns liegt doch nix an diesem Mann. Er hat sich Raoul
und Paquetito geschnappt, vergiss das nicht.«
Baz versucht zu begreifen, warum
das für Eduardo so wichtig ist. Natürlich will er nicht, dass Demi
die Wahrheit sagt, die Wahrheit, die Señora Dolucca jetzt kennt,
sondern er will offenbar ganz großen Ärger im Barrio stiften. Wenn
der Captain glaubt, dass Moro ein falsches Spiel mit ihm treibt,
dann wird er diesem Mann vielleicht das Handwerk legen wollen. Sie
sieht Demi an. »Eduardo will, dass es Krieg gibt zwischen der
Polizei und Moro, ja?«
»Nehm ich an.«
»Und dann will er das Barrio
selbst übernehmen. Ob Fay das alles weiß, was glaubst du?«
Demi macht sein
»Mir-doch-egal«-Gesicht, aber Baz lässt nicht locker. Sie will es
wissen. Wenn sie überleben wollen, müssen sie verstehen, was läuft.
Der Krieg wird alle in Mitleidenschaft ziehen, nicht nur die
Gangster und die Greifer, sondern auch Leute wie Mama Bali, jeder
im Barrio wird zu Schaden kommen. Immer wieder hat es Forderungen
gegeben, das Barrio abzureißen, es dem Erdboden gleichzumachen und
etwas Neues zu bauen. Die Zeitungen waren voll von solchem Gerede,
aber es ist nie etwas danach gekommen. Ist es das, worauf Eduardo
abzielt? Nein, er will nur Moros Platz einnehmen und selbst der
Herrscher sein. Aber er ist zu jung – wer wird für ihn arbeiten
wollen? Niemand, es sei denn, er erweist sich als noch
skrupelloser, als noch schlauer und besser organisiert als
Moro.
Und vielleicht ist er das auch,
überlegt Baz. Er weiß genauso viel wie der Captain. Er weiß, wer
wen bezahlt und wofür. Und jetzt hat er, dank des Einbruchs, auch
eine Kriegskasse, um seine eigenen Schattenmänner zu bezahlen. Auch
über Fay macht sie sich Gedanken. Fay wollte nie etwas anderes als
ihre kleinen Geschäfte machen und dann irgendwann den Weg aus dem
Slum herausfinden, aber durch diesen Jungen hat sich die Lage
geändert. Jetzt will sie ihn, sie will ihren Jungen, will
eine richtige Mutter sein. Baz glaubt, dass es dafür zu spät ist.
Wenn es etwas gibt, worauf Eduardo ihrer Ansicht nach gut
verzichten kann, dann ist es eine Mutter wie Fay. Er wird sie
benutzen, so wie er Demi und Baz benutzt hat, und sie sich dann vom
Hals schaffen. Hat sie ihn nicht weggegeben? Das kann der
Engelsjunge ihr bestimmt nicht verzeihen. Er wird sie alle
bestrafen: die Familie Dolucca, Fay und vielleicht sogar die ganze
Stadt. Sie und Demi sind für ihn nur Fliegen, die man im
Vorbeigehen erschlägt. Dies ist die Ansicht, zu der sie gelangt und
die sie Demi jetzt mitteilt. »Keine Chance, dass Eduardo dich hier
lebend rauslässt«, sagt sie. »Du weißt zu viel. Ist vielleicht
besser, wenn du gar nichts sagst, Demi. Halt ihn hin, und wir sehen
zu, dass wir dich hier rauskriegen ...«
»Baz, ich hab ihm schon gesagt,
ich tue, was er möchte, und zeig mit dem Finger auf Moro. Und ich
hab mir überlegt: Es ist gut so, Baz. Vielleicht hat er all diese
Leute in der Tasche, den Captain zum Beispiel, aber ich wette, die
warten alle nur auf die Chance, ihn abzusägen. Und jetzt ist es so
weit. Jetzt ist es nicht mehr aufzuhalten. Es hat schon angefangen,
Baz. Jeden Moment rückt die Polizei an, um Moro zu holn. Dann
gibt’s Krieg im Barrio. Aber was für einen. Moros Leute werden
kämpfen. Und alle laufen durcheinander wie die Hühner.« Er ist
plötzlich ganz aufgeregt. »Das ist vielleicht unsere Chance, Baz.
Zeit, was andres zu machen, das willst du doch, oder?« Sie nickt.
»Fay wird nicht wissen, was sie tun soll«, fährt Demi fort. »Wir
können nehmen, was uns gehört, Baz. Du hast den Ring genommen. Wir
nehmen was von dem, was sie uns schuldet, fangen neu an. Machen
vielleicht ’n Geschäft auf.«
Er ist schon wieder dabei,
fantastische Zukunftsbilder zu malen, aber in der Wirklichkeit hat
er immer noch ein Loch im Arm, ein verknackstes Bein und Gitter vor
dem Fenster.
Andererseits: Was hätten sie sonst
für eine Wahl? »Wann kommt Eduardo wieder zu Besuch?«
An der Tür gibt es ein Geräusch,
hastig rollt Demi sich ins Bett zurück und schafft es gerade eben,
flach hingestreckt dazuliegen, als der Wächter hereinkommt. Der
macht einen recht gehetzten Eindruck, sein rundes Gesicht glänzt
vor Schweiß. »Ist Zeit«, sagt er. Er wirft einen Blick auf Demis
dunklen Umriss und zeigt dann auf Baz. »Du musst gehn. Frau vom
Captain hat mich gebeten, dass du noch ’n bisschen bleiben darfst,
aber jetzt schnell raus, okay. Der Dieb hier hat noch ’n Besucher.«
Er wischt sich mit dem Hemdsärmel übers Gesicht. »Der Captain kommt
gleich. Möcht echt gern wissen, was dieser Junge gemacht hat, dass
er so viel Besuch kriegt.«
»Er hat einfach nur Pech gehabt«,
sagt Baz. Sie verlässt das Zimmer, ohne sich noch einmal zu Demi
umzudrehen, und folgt dem Wächter durch den Flur, allerdings nicht
dahin, wo sie hergekommen sind, sondern in entgegengesetzter
Richtung. Am Ende des Flurs befindet sich ein Eisentor, das der
Wächter aufschließt. Der Schlüssel, vermerkt Baz, steckte lose in
seiner Jackentasche. Wo bewahrt dieser Mann wohl seine Schlüssel
auf? In seinem kleinen Büro? Oder nimmt er sie vielleicht mit nach
Hause? Wie sie so überlegt, kommt ihr eine Idee.
»Señor«, sagt sie, »ich weiß, Sie
haben’s eilig, aber ...« Sie hält einen der Scheine in der Hand,
die ihr Señora Dolucca gegeben hat, einen großen Schein, einen
Hunderter.
Der Mann beäugt ihn gierig. »Hast
plötzlich ’ne Zunge, ja?«, sagt er, wirft nervös einen Blick über
die Schulter, als könnte der Captain schon dastehen und ihn
beobachten, und schiebt den Schein dann rasch in die Tasche.
»Lassen Sie mich später noch mal
rein. Ich bring Ihnen ’n bisschen was zu essen mit, was
Süßes.«
»Okay.«
»Vielleicht kocht die Frau vom
Captain Ihnen was, ist wahrscheinlich eine der besten Köchinnen der
Stadt.« Sie legt ein bisschen Weinerlichkeit in ihre Stimme. »Sie
mögen süße Sachen, ja? Und dann lassn Sie mich wieder zu meim
Bruder. Abgemacht?«
»Okay. Okay.«
»Ham Sie hier den ganzen Tag
Dienst?«
»Klar. Die ganze Zeit. Langer Tag.
Will sonst keiner diesen Job machen, aber kranke Leute
eingeschlossen zu halten, ist doch gar nicht so schwer.«
»Abends gehn Sie nach Hause, wett
ich.«
»Abends geh ich nach Hause. So,
und jetzt geh, bevor ich den Job deinetwegen verlier. Dann komm
morgen um die gleiche Zeit wieder. Wenn der Junge noch hier ist,
lass ich dich rein. Gleiche Zeit wie heute, verstanden?«
Sie zwingt sich, nicht zu lächeln.
Natürlich. Drei Uhr, das ist die Zeit, wenn seine Lieblingssoap
läuft. Darum hat er sie heute Nachmittag so lange in Ruhe gelassen
– weil er an den Fernseher gefesselt war. Drei Uhr nachmittags. Das
ist okay. Dann ist es ruhig in der Stadt, die Geschäftsleute essen
zu Mittag, halten ein Schläfchen.
»Danke«, sagt sie, windet sich um
seinen Bauch herum und durch die Tür. Er schließt hinter ihr ab und
eilt zurück in sein Büro, knöpft sich unterwegs die Jacke zu.
Das Tor liegt am oberen Ende einer
steilen Treppe, auf der sie rasch nach unten geht. Im Erdgeschoss
befindet sich eine kleine Verladezone, die sich auf einen Hof
öffnet, wo die Lkws vorfahren können, aber im Moment ist hier kein
Betrieb und das hintere Zugangstor ist verschlossen. Baz schlüpft
nach draußen und läuft rechtsherum am Gebäude entlang, bis sie
wieder beim Haupteingang ankommt, wo gerade ein Krankenwagen neben
einem parkenden Polizeiauto anhält. Zwei Beamte lehnen rauchend am
Auto, offenbar warten sie auf den Captain, der in diesem Moment, so
vermutet sie, bei Demi ist.
Sie geht, langsamen Schrittes
jetzt, auf das Tor zu. Zwei Ärzte überholen sie. Der Wachmann sieht
nicht einmal richtig hin, öffnet ihnen automatisch die Schranke und
lässt auch Baz anstandslos passieren.
Nachdem sie das Gelände verlassen
hat, überquert sie die Straße und setzt sich an einen der Tische,
die dort vor dem Café stehen. Der Betreiber, ein breitschultriger
Mann mit einem borstigen Schnauzbart, beäugt sie misstrauisch, doch
sie bittet höflich um einen eisgekühlten Fruchtsaft und legt einige
Münzen auf den Tisch, damit er sieht, dass sie bezahlen kann. Er
nickt und bald darauf wird das Getränk gebracht. Unauffällig stopft
sich Baz die Geldscheine, die sie von Señora Dolucca bekommen hat,
in den Hosenbund, und dann blickt sie, während sie bedächtige
Schlucke aus ihrem Glas nimmt, über die Straße zum Tor des
Militärkrankenhauses und denkt nach.
Angenommen, Demi folgt Eduardos
Anweisungen und erzählt dem Captain die Geschichte, die ihm Eduardo
vorgesagt hat – dass Señor Moro den Diebstahl geplant hat –, was
kommt dann als Nächstes? Würden sie Demi in einem Prozess gegen
Moro als Zeugen auftreten lassen? Könnte sein. Aber würde der
Captain solch einen Prozess überhaupt wollen? Vielleicht denn doch
nicht. Nein, er wird einfach nur wissen wollen, wer ihn da beraubt
hat, und wenn er erfährt, dass es der Mann ist, mit dem er
Geschäfte macht, von dem er sich abhängig gemacht hat, dann wird er
diesen Mann töten wollen. Und was Demi betrifft, so wird der
Captain, sobald er überzeugt ist, aus Demi alle Informationen
herausgequetscht zu haben, die der zu bieten hat, seine Anweisungen
geben, und Demi wird, wie alle Straßenjungen, die das Pech haben,
der Polizei in die Hände zu fallen, einfach verschwinden, und einen
Tag später, vielleicht auch zwei, wird man irgendwo seine Leiche
finden, auf einer Müllkippe am Stadtrand, unter einer Brücke, wo
auch immer, oder vielleicht wird sie auch gar nicht gefunden
werden.
So sind die Verhältnisse eben, und
es ist besser, das ist Baz klar, dieser Tatsache ins Auge zu
blicken, als zu hoffen, dass die Probleme irgendwie verschwinden
werden.
Baz kann nicht in die Bude
zurückkehren. Sie hat Fay bestohlen und Fay wird es früher oder
später bemerken. Jetzt, wo Raoul nicht mehr da ist, gibt es unter
den Jungen keinen, dem sie auch nur halbwegs trauen könnte, und
tatsächlich wäre es sogar besser für sie, ihnen ganz und gar aus
dem Weg zu gehen. Ob Fay wohl weiß, wo Demi ist? Gut möglich.
Sicher ist jedenfalls, dass der Junge, dieser Eduardo, seiner
leiblichen Mutter nicht alles sagt.
Die gelbe Sonne schiebt sich über
den Himmel und der Schatten kriecht an der Krankenhausmauer
entlang. Der Wachmann am Eingang ist am Ende seiner Schicht
angelangt und wird von einem anderen Soldaten abgelöst, der erst
einmal sein Gewehr ablegt und sich dann einen Hocker in den
Schatten rückt, wo er es sich, mit dem Rücken ans Wachhäuschen
gelehnt, bequem macht.
Baz trinkt langsam aus ihrem Glas
und konzentriert sich auf angenehme Dinge. Die sind nicht sehr
zahlreich, dafür aber bedeutsam. Demi ist nicht im Schloss und er
ist nicht so schwer verletzt wie befürchtet: Er kann gehen, wenn
auch vielleicht nicht rennen. Es ist nicht allzu schwierig, ins
Krankenhaus hinein- und wieder herauszukommen. Der für Demis Flügel
zuständige Beamte ist weich und träge und hat bereits zugesichert,
Baz wieder Zugang zu verschaffen. Sie hat Geld, genug, um damit
etwas in Bewegung zu setzen. Und dann ist da noch die reiche Frau,
die allerdings, so vermutet Baz, genug eigene Sorgen hat, auch ohne
dass sie ihnen noch mehr von ihrer Zeit opfert.
Zeit ist überhaupt etwas, von dem
Baz nicht allzu viel zu haben glaubt. Der Captain kann sich
jederzeit entschließen, Demi aus dem Krankenhaus holen zu lassen.
Möglicherweise schon heute – warum nicht?
Sie weiß, was sie zu tun hat. Sie
betritt das Café und macht die Toilette ausfindig. Sie hat Glück –
ein kleines Stück Seife, vom Gebrauch weich geworden, liegt am Rand
des Waschbeckens. Sie drückt es zu einer Scheibe zusammen und
steckt es in ihre Tasche. Sie wird daraus einen Schlüssel machen
lassen. Dass so etwas geht, weiß sie, und Mama Bali wird jemanden
kennen, der das für sie besorgen kann. Dann wird sie Demi durch den
Korridor und aus dem Tor bei der Verladezone hinausführen, während
der dicke Wachmann seine Fernsehsoap glotzt. Nicht so
schwierig.
Aber erst einmal muss sie den
Schlüssel von dem Wachmann bekommen. Dafür muss sie flink sein. Sie
biegt und streckt ihre Finger. So flink wie Demi.
Sie geht zu ihrem Tisch zurück,
wartet, beobachtet. Zwanzig Minuten vergehen. Der Betreiber kommt
und bleibt demonstrativ neben ihrem Tisch stehen, daher lässt sie
sich noch ein Bohnengericht bringen, und beim Essen stellt sie
fest, dass sie doch ganz schön Hunger hat, was kein Wunder ist,
denn außer einem kleinen Stück Schokolade hat sie seit dem frühen
Morgen nichts mehr gegessen.
Nach einer halben Stunde fährt der
Polizeiwagen an der Schranke vor. Baz springt auf und rennt zur
Ecke, damit sie erkennen kann, wer im Auto sitzt. Kein Demi zu
sehen, nur der Captain, der auf dem Rücksitz grimmig vor sich hin
starrt, und die beiden Beamten auf der Vorderbank. Es kann nur
einen Grund geben, warum der Captain so ein Gesicht macht: Demi
muss ihm erzählt haben, dass er von Moro hintergangen wurde, und
jetzt überlegt der Captain, wie er darauf reagieren soll.
Bald wird es Krieg geben im
Barrio.
Sie kehrt an den Cafétisch zurück,
isst ihre Bohnen auf und wartet.