27

Er sitzt über den Lenker gebeugt, höchste Konzentration im Gesicht. Ein Mann, der mit einer Tüte Gemüse im Arm über die Straße eilt, kreuzt seinen Weg. Lucien bremst so heftig, dass sein Hinterrad wild nach rechts ausschert, bevor es wieder in die Spur kommt. Der Mann springt zur Seite, schüttelt schimpfend die Faust, doch Lucien ist schon weiter, schießt im Zickzack durch den Verkehr, sein Vorderrad knallt auf den Bordstein, der Motor heult auf.
Baz zieht Demi zurück, während Domino herumwirbelt, sich auf ein Knie fallen lässt und gleichzeitig eine Pistole zieht, doch es ist schon zu spät. Lucien wirft seinen Körper nach rechts, die Maschine schleudert herum wie ein Klappmesser und trifft Domino voll, katapultiert ihn gegen die Außenmauer des Krankenhauses, wo er in sich zusammensinkt und blutüberströmt, der rechte Arm in einem unnatürlichen Winkel abstehend, liegen bleibt.
Lucien hievt die Maschine wieder in die Senkrechte, während Baz Demi auf den Rücksitz drängt. Sie blickt kurz zu Eduardo, der schon halb eingestiegen ist, sich jetzt mit ungläubigem Gesicht zurückwendet, während sein Fahrer die Tür öffnet, den Arm über das Dach ausstreckt und in ihre Richtung zeigt. Ein Knall ertönt und ein kurzes Pfeifen, doch Baz klemmt sich bereits hinter Demi auf den Rücksitz, schlingt die Arme fest um ihn, während Lucien das Motorrad in Bewegung setzt, auf die Straße rumpelt und Gas gibt, und dann schießen sie mit einem jähen Ruck davon. Vielleicht gibt es noch einen zweiten Schuss, vielleicht auch nicht – sie weiß es nicht. Sie hat die Augen fest geschlossen, das Gesicht in Demis Rücken gedrückt. Falls die Kugel kommt, wird sie es sein, die getroffen wird, und das wäre dann also die Art, wie sie ihr Leben beendet.
Aber die Kugel kommt nicht, und Eduardo wird ihnen zwar sicherlich folgen oder es jedenfalls versuchen, doch sein Auto steht in der verkehrten Richtung, und es wird ihn wertvolle Sekunden kosten, auf der belebten Straße zu wenden. Sie haben einen guten Start und er wird sogar noch besser durch Luciens Fahrweise: Er schlängelt sich zwischen den Autos hindurch, fährt über einige rote Ampeln, biegt wahllos erst nach rechts, dann wieder nach links ab und entfernt sich immer weiter von den Hauptstraßen.
Nach fünf Minuten bringt er das Motorrad hinter einer Tankstelle in einem Armenviertel auf der Westseite der Stadt zum Stehen. Für einen kurzen Moment bleiben sie auf der ruhenden Maschine sitzen, Hitze steigt von dem harten Untergrund auf, hüllt sie ein, jetzt, wo sie nicht mehr in Bewegung sind. Auf der anderen Seite der Tankstelle, wo sich möglicherweise so etwas wie eine Werkstatt befindet, hört man jemanden auf Blech schlagen, hier jedoch gibt es nichts als kaputte und verrostete Autoteile und einen Berg von alten Reifen.
Baz ist die Erste, die sich rührt und vom Rücksitz gleitet. Sie fühlt sich schwindelig, unsicher auf den Füßen, ein bisschen high sogar, wie die Männer in den Raucherhöhlen, die es im Barrio gab. Zu viel in zu kurzer Zeit – aber alles gut jetzt, alles in Sicherheit. Irgendwo heult eine Sirene, aber weit, weit weg. Hoch über ihnen knattert ein Hubschrauber, Richtung Norden unterwegs, nicht interessiert an drei winzigen Gestalten ganz da unten. Vielleicht sind sie unsichtbar.
Gewohnheitsmäßig kontrolliert sie die nicht einsehbare Seite des Gebäudes: immer wissen, was um die Ecke ist, immer eine Hintertür zur Verfügung haben. Ein alter Mann, der in einer behelfsmäßigen Werkstatt zugange ist, ganz wie sie dachte. Sie winkt den Jungs zu, um anzuzeigen, dass sie sicher sind, und geht zurück. Neben Lucien bleibt sie stehen, berührt seinen Arm und blickt ihm so eindringlich ins Gesicht, dass er den Kopf zu ihr dreht. »Lucien«, sagt sie, »du warst unsere ganz große Rettung. Danke, Lucien. Demi und ich, wir sind dir echt was schuldig.«
»Du hast mir den Schlüssel gegeben, Baz, hast mir Geld für Benzin gegeben. Ist klar, dass ich dann komm.« Er zuckt mit den Schultern und dreht sich, immer noch auf dem Motorrad sitzend, zu Demi um. »He, Demi – siehst ja nicht besonders gut aus.«
Demi hat mit etwas Mühe sein verknackstes Bein angezogen und beugt sich vornüber, um seine Hose hochzuschieben und es ein bisschen zu massieren. »Ich?«, sagt er. »Demi sieht immer gut aus – was erzählst du, Lucien?« Er strafft sich und etwas von der vorübergehend verlorenen Großspurigkeit kehrt in seine Stimme zurück. »Aber wenn du diese Maschine wie ’ne alte Oma steuerst, dann macht einen das natürlich mehr fertig, als wenn man ’n Tritt von ’nem Maultier abkriegt.«
»Da kann einem echt der Kopf abfalln, wenn dieser Typ mit seinem üblen Gelaber loslegt«, sagt Baz, aufgebracht und glücklich zugleich. »Du bedankst dich bei Lucien, Demi, oder ich bring dich wieder in den Bau, ich schleif dich eigenhändig ins Schloss.«
»Hey! Wer is’n dieses Lumpenmädel, das glaubt, es kann mir hier Vorschriften machen? Hast wohl vergessen, dass ich es bin, der die flinken Finger hat, und der ...«
»Demi! Du bist der, der geschnappt worden ist. Lucien und ich ham dich wieder rausgehaun. Hör auf, dummes Zeug zu erzähln.« Sie beäugt ihn kritisch. »Meinste, dass es geht mit deinen Verletzungen?«
Demi grinst. »Du bist echt schnell gewachsen, Baz. Führst dich jetzt schon auf wie Mama Bali ...«
Lucien wechselt einen Blick mit Baz, dann wischt er sich mit seinem Hemdzipfel das Gesicht ab. »Was jetzt, Baz? Würde sagen, wir sollten weiter. Die Uniformierten suchen bestimmt nach dieser Maschine.«
Demis Grinsen schwindet. »Die suchen nach mehr als’m alten Motorrad. Die ham den Wachmann umgebracht, und dieser Goldjunge, die Fay-Ratte, will mir das anhängen.« Er erzählt, wie Eduardo ins Krankenzimmer gestürmt ist, wie er seine Adoptivmutter am Arm mitgeschleift und sie so gestoßen hat, dass sie auf das Fußende von Demis Bett gefallen ist, und die ganze Zeit hat er rumgeschrien. »Hab gedacht, er ist voll ausgeflippt. Irgend ’ne Droge oder was. Hat die Pistole fallen lassen, wisst ihr, direkt neben mir.« Er sieht sie beide an und zuckt mit den Schultern. »Hab sie aufgehoben. Dachte, ich könnte da rausspaziern wie der Held im Kino, aber als ich die Pistole auf ihn gerichtet hab, da ist dieser Eduardo mit’m Mal zu ’ner andern Person geworden, ’n üblerer Schattenmann, als ihr euch vorstellen könnt, ey. Hat nur gelacht, meinte zu mir, ich soll abdrücken. ›Mach schon‹, hat er gesagt. ›Tu den Finger auf den Abzug, Junge. Erschieß den Sohn des Captain, sei der Held des Barrio.‹ Die Frau heult die ganze Zeit und er spottet rum ... Hab dann abgedrückt, wollte ihn ins Bein schießen – Rache dafür, dass er uns reingelegt hat und ich von den Uniformen geschnappt worden bin.«
»Und? Wie geht’s weiter?«, sagt Lucien.
Aber Baz weiß es schon, kann es sich denken. Darum also hat Eduardo die kleine Pistole so sorgsam behandelt, darum hat er sie ins Taschentuch eingewickelt.
»Die Pistole hat nur Klick gemacht. Nix passiert. Er ist gekommen und hat sie mir aus der Hand genommen. ›Danke‹, hat er gesagt, ›du hast mir grad dein Leben überschrieben.‹«
»Er hat deine Fingerabdrücke auf der Pistole«, sagt Baz.
»Hat meine Fingerabdrücke und meint, er hat auch meine Seele. ›Sicher‹«, äfft er Eduardo nach. »Er ist da genauso wie Fay. Hast ihn ja gehört vorhin, Baz, redet die ganze Zeit wie Fay: jedes zweite Wort ist ›sicher‹. Und das heißt, du brauchst nur einmal aus der Reihe zu tanzen, dann kommt gleich der böse Onkel, bringt dich auf’n Berg. Er kann diese Pistole jederzeit der Polizei geben und lacht sich dann ins Fäustchen, wenn sie nach mir suchen kommen.«
»Erst mal müssten sie dich fangen«, sagte Baz. »Ich würde sagen, wir machen Folgendes.«
Sie stehen jetzt alle um das Motorrad herum, und Baz skizziert kurz, was sie sich vorstellt: das Motorrad verkaufen und dann auf schnellstem Weg zum Bahnhof Norte, um mit dem Zug in eine der Städte im Norden zu fahren – neu anfangen, noch mal ganz von vorn. Selbst wenn sie wollten, sagt sie, gäbe es keinen Weg mehr zurück. Das Barrio wird dem Erdboden gleichgemacht, Fay hat sie vergessen, und jetzt, wo der Teufelsjunge drauf und dran ist, die Stadt zu übernehmen, bleibt ihnen eh keine andere Möglichkeit, als zu fliehen.
Lucien nickt. »Hast recht, Baz. Du und Demi, ihr solltet besser verschwinden. Ich bring euch hin, kann euch sogar mit dem Motorrad hinfahrn und es irgendwo da in der Nähe verkaufen. Vielleicht komm ich später nach.«
»Nichts da, du kommst mit!«
»Nach mir sucht keiner«, sagt er, den Blick nur auf Baz gerichtet. »Ich muss rausfinden, was genau mit Mama Bali ist. Falls sie tot ist, will ich sehn, dass sie anständig begraben wird.«
Demi blickt von einem zum anderen. »Was ist passiert?«
»Sie ham ihr die Küche abgefackelt«, sagt Baz. »Jemand hat rausgefunden, dass sie mir geholfen hat.«
»War dieser Jemand vielleicht Fay?«, fragt Demi.
»Vielleicht.«
»Tja.« Er hakt beide Daumen in seine Hosentaschen. »Ich geh auch zurück, Baz. Du kannst machen, was du willst, aber ich hol mir was von dem, was Fay mir schuldet für all die Male, wo ich ihr gute Sachen gebracht hab.«
»Ich hab den Ring schon genommen.«
»Und hast ihn weggegeben! Das Verrückteste, was du je getan hast.« Er hebt die Hand, um ihr das Wort abzuschneiden. »Ja, ich weiß, warum. Ist ja okay, aber ich sag dir, es wird jetzt alles anders. Kann schon sein, dass hier kein Platz mehr für uns ist, aber ich geh hier nicht mit leeren Händen weg. Fahr du los, wenn du willst, aber ich, ich mach mich auf zur Bude und nehm mir, was mir gehört. Lucien, nimmste mich mit?«
Baz mustert die beiden: störrisch wie die Esel. Sie redet auf Demi ein, zeigt ihm das Geld, das Señora Dolucca ihr gegeben hat, doch er will nicht hören. Und sie begreift, dass der Fall bei ihm nicht so viel anders liegt als bei Lucien. Ganz gleich, was er sagt, es ist im Grunde nicht das Geld, das ihn zurückzieht. Wahrscheinlich ist es ihm selbst gar nicht bewusst, aber Baz weiß Bescheid: Was Demi in Wirklichkeit will, ist, Fay noch ein letztes Mal zu sehen, so wie Lucien unbedingt Abschied nehmen muss von Mama Bali.
Das Problem ist nur, dass das Barrio genau der Ort ist, wo Eduardo nach ihnen suchen wird. Und doch, was bleibt ihr anderes übrig? Soll sie allein nach Norden fahren? Natürlich nicht. Sie ist genauso wenig frei in ihrer Entscheidung wie die anderen beiden, sie muss mit ihnen gehen. Wenigstens kann sie auf Demi aufpassen, vielleicht verhindern, dass er dem bösen Wolf blind ins offene Maul rennt. Das Barrio wird ihnen kaum etwas anderes zeigen als scharfe Zähne.
Seufzend erklärt sie sich einverstanden, besteht aber darauf, dass sie das Motorrad abstoßen. Demi mault zwar, muss ihr aber recht geben: Sie alle drei auf diesem Motorrad – da kämen sie nicht einmal um den Agua-Platz herum, ohne dass jemand sie oder die Maschine erkennen würde. Sie schieben das Motorrad ums Haus und bieten es dem Werkstattbetreiber zum Kauf an. Der wirft ihnen nur einen kurzen Blick zu und kramt dann einen Fünfzigdollarschein aus der Tasche. »Nehmt’s oder lasst’s bleiben«, sagt er, »aber ich schätze, dieses Motorrad ist heißer als die schärfste Braut.«
Sie nehmen das Geld und machen sich dann mit der Straßenbahn auf den Weg zurück in die Stadt. Dabei lassen sie sich Zeit, denn sie wollen nicht ins Barrio kommen, bevor es dunkel wird.
Der Agua-Platz ist von Polizeikräften besetzt: Uniformierte vor Señor Moros Bar, echte Schlägertypen, mit Kampfanzügen, Helmen und Automatikgewehren. Beim Brunnen, wo vier riesige Planierraupen aufgereiht sind, stehen auch welche. Dennoch sind Leute unterwegs, sie meiden zwar Moros Etablissement, betreten aber die anderen Bars, als wäre nichts gewesen. Einige Gruppen haben sich am Hauptzugang zum Barrio gebildet. Es sieht so aus, als sei ein Gebäude an der Ecke vollständig niedergerissen worden. »Siehst du das?« Baz packt Demi am Arm. »Siehst du, was sie da machen? Als würden sie’s Stück für Stück auffressen wolln.«
Sie schlagen einen Bogen um die Menge, auch wenn es nicht so aussieht, als würde die Polizei aktiv irgendjemanden am Kommen oder Gehen hindern. Vielleicht sind ihre Schlachten bereits geschlagen, alle Schattenmänner aus dem Weg geräumt. Vielleicht haben sie sich, weil es Abend ist, nur vorübergehend zurückgezogen. Das Barrio bei Tag ist eine Sache, aber das Barrio bei Nacht – das ist etwas ganz anderes, selbst für eine bis an die Zähne bewaffnete Polizei.
Sie schlüpfen in die schmale Gasse, die sie für gewöhnlich benutzen und die wie eine Ader tief ins Barrio hineinführt. Als sie bei der Ecke sind, wo Mama Balis Küche einst gestanden hat, trennen sie sich von Lucien. »Norte«, sagt Baz, »morgen – alles klar, Lucien. Du kommst mit uns. Halb neun am Norte. Wir nehmen den Morgenzug nach Tianna.« Sie ergreift seine raue Hand. »Hörst du?«
Lucien zeigt sein scheues Lächeln. »Ich hör dich, Baz. Norte, Morgenzug nach Tianna.«
»Auf dem Querbahnsteig. Wir besorgen deine Fahrkarte. Okay?«
»Okay.« Er hebt die Hand, grüßt mit geballter Faust und wendet sich zum Gehen.
Baz und Demi machen sich auf den Weg zur Bude. »Was! Was sagst du zu dem? Du willst ihm morgen ’ne Fahrkarte kaufen? Hast dich in Lucien verguckt? Dachte, du hättst nur Augen für mich. Wenn du mir gleich wegläufst, nur weil ich mal ’n bisschen Pech hatte, taugste aber nicht besonders viel, eh.«
»Demi, du hast ’n schlimmeres Maul als ’n quiekendes Schwein.«
»Wo hast du denn ’n Schwein gesehn?«
»Auf’m Markt hab ich’s gesehn, bevor sie’s am Schwanz aufgehängt ham. Vielleicht passiert dir das auch mal, wenn du immer so durch die Gegend quiekst.«
Es ist alte Gewohnheit bei ihnen, sich gegenseitig Schmähungen an den Kopf zu werfen – Demi tut großspurig, Baz stutzt ihm den Kopf zurecht. Aber diesmal ist es anders, diesmal verdeckt der atemlos geflüsterte Wortwechsel, so beiläufig er klingt, das, was sie wirklich fühlen, während sie still und leise durch das Labyrinth hasten. Um sie herum atmet das Barrio. Ein wütend orangefarbenes Licht flackert rechts am Himmel – noch ein Gebäude, das brennt. Musik vibriert dumpf in der stickigen Luft. Dunkle Gestalten eilen an ihnen vorbei. Jedes Mal, wenn sie jemand kommen hören, drücken sie sich in irgendwelche Spalten, um sich zu verstecken, halten den Atem an, spähen, alle Sinne angespannt, ängstlich in die Dunkelheit.
Ängstlich und auch resigniert, so jedenfalls empfindet es Baz. Sie waren so nahe daran, frei zu sein, und jetzt könnten sie ebenso gut auf direktem Weg zum Schloss gehen, an die riesigen Türen schlagen und den Greifern zurufen, sie möchten sie bitte einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen, als sich auf diese Art ins Barrio hineinzustehlen.
Wer sollte wohl in der Bude auf sie warten? Fay. Fay weiß bestimmt, dass sie entkommen sind. Fay rechnet damit, dass Demi zurückkehrt. Fay hat Demi so lange an der Leine gehabt, da kann sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass er imstande wäre, selbstständig zu denken.
Sie wird also da sein, wartend, Pläne schmiedend, überzeugt davon, dass sie in Sicherheit ist mit ihrem Engelsjungen und seinen cleveren Winkelzügen. Sie ist allerdings blind, glaubt Baz, blind vor Liebe. Sie hat nicht gesehen, wie er wirklich ist, hat nicht das grobe Lachen gehört, als Baz ihn nach Fay gefragt hat. Doch sie schiebt diese Gedanken beiseite. Das alles spielt jetzt keine Rolle. Jetzt geht es nur noch darum, dass sie und Demi ihre Sache erledigen und verschwinden, bevor die Greifer sie erwischen oder die Planierraupen beim Lagerhaus anrücken.
Sie liegen flach auf dem Bauch und arbeiten sich gerade langsam in dem alten Graben nahe der Bude voran, als sie das erste Mitglied der Bande entdecken: Giacomo, oben neben dem Brett, das den Graben überbrückt. Garantiert ist es so gedacht, dass er sich in den Schatten des Gebäudes hinter ihm drückt, aber Giacomo ist noch nie besonders gut im Verstecken gewesen, es sei denn, Miguel war bei ihm und hat ihm gesagt, was er zu tun hat. Die Tatsache, dass sie ihn sehen können, bedeutet also wahrscheinlich, dass er allein ist. Aber er steht auf Beobachtungsposten, denn einen anderen Grund gibt es nicht, sich um diese Zeit hier draußen aufzuhalten. Baz kann einen leichten Lichtschimmer in seiner Hand ausmachen. Fay hat ihm ein Handy gegeben. Fay wird im Alter noch großzügig, großzügig oder vielleicht einfach nur nervös. Sie hat immer gesagt, dass Handys zu leicht zurückzuverfolgen sind, und sie wollte nichts zulassen, was jemanden auf ihre Spur führen könnte. Zog es vor, Dinge von Angesicht zu Angesicht zu erledigen. »Du kannst sehn, ob jemand dich anlügt, wenn du ihm ins Gesicht guckst«, pflegte sie zu sagen. Baz fragt sich, wie oft Fay sie beide wohl angelogen hat.
Sie berührt Demis heilen Arm, fährt sich mit dem Finger über die Kehle. »Nicht hier lang.« Worauf beide ein Stück zurückkrabbeln. Unter dem Gebäude, vor dem Giacomo steht, befindet sich eine alte Abwasserleitung, die in den Graben führt, und zwar direkt neben dem Eingang zu dem alten Lagerhaus, in dem Fay wohnt. Die Leitung hat in früheren Zeiten Flusswasser und natürlich Abwasser aufgenommen, ist jedoch schon lange trockengelegt, noch bevor Baz, Demi und Fay ins Barrio gekommen sind. Sie und Demi sind wohl hundertmal durch das Rohr gekrochen, als sie noch kleiner waren, haben es manchmal auch für Mutproben benutzt, wenn neue Kinder zu ihrer Bande gestoßen waren, aber das ist alles schon Jahre her. Baz’ Ansicht nach wissen Miguel und die anderen überhaupt nicht, dass es existiert.
»Tunnel«, flüstert sie Demi ins Ohr, und er nickt, weiß sofort, was sie meint. »Schaffst du das mit deinem verletzten Arm?«
»Mach dir nicht schon wieder ins Hemd, Baz«, zischt er.
»Okay.« Sie merkt aber, dass die Wunde ihm Schmerzen bereitet.
Sie schleichen sich etwa zehn Meter rückwärts, dann räumt Baz leise und schnell allerlei Abfall beiseite, bis die Öffnung freiliegt. Schwarz und rund, wie ein Schlangenmaul. Ganz kurz hat sie den Gedanken, Demi einfach allein loskriechen zu lassen, schließlich ist er derjenige, der so scharf darauf ist, sich das zu holen, was Fay ihm seiner Ansicht nach schuldet. Doch was nützt dir alles Geld, wenn du hier unter all dem Dreck begraben bist? Was nützt dir alles Geld, wenn Fay und irgendwelche Schattenmänner dich dabei ertappen, wie du deine Finger durch die Lücke in der Mauer steckst und Fays Schatzkiste herausziehst?
Aber was sollte sie hier solange machen, auf dem Bauch liegen und warten? Was würde sie tun, wenn sie seinen Schrei hörte, wenn er erwischt und verprügelt würde? Sie müsste dann sofort hinterherkrabbeln und sich auch erwischen lassen. Sie atmet einmal durch und schätzt die Größe des Lochs ab. Eigentlich müssten sie sich noch immer hindurchquetschen können, notfalls halt wie die Paste aus einer Tube, aber es sollte gehen. Klar ist jedenfalls, dass keiner damit rechnet, dass sie gleich neben der Haustür direkt aus der Erde kommen.
Sie blickt zu Demi zurück – das Weiße seiner Augen schimmert ihr im Dunkeln entgegen. Er tätschelt ihr Bein, sie holt noch einmal Luft, und dann schiebt sie sich, die Arme nach vorn ausgestreckt, in das Abwasserrohr hinein und versucht dabei nicht an Spinnen, Ratten und Schlangen zu denken. Im Barrio gibt es Ratten, die so groß sind wie Hunde. Ihr Mund ist fest zugepresst. Dreck rieselt ihr in den Nacken, Dreck bedeckt ihr Gesicht, bröckelt auf ihre Lippen, verstopft ihr die Nase, macht es ihr schwer, die stinkende Luft einzuatmen.
Die Seitenwände des Rohrs fühlen sich an wie Schmirgelpapier, und während sie sich langsam vorwärtsschiebt, merkt sie, wie ihr neues sauberes Shirt sich allmählich auflöst. Ihr Unterkiefer ist verspannt, die Fingerspitzen wund, die Augen fest zugekniffen. Und wütend ist sie jetzt auch, aber Wut ist gut, sie hält sich daran fest, gibt sich ihr ganz hin, lässt ihren Gedanken keinen Spielraum, um sich vorzustellen, was vor ihr liegen mag, keine Gelegenheit, sich die hundegroßen Ratten auszumalen, die ihr auflauern. Sie schleift sich einfach immer weiter voran. Die halbe Strecke müssten sie jetzt geschafft haben. Ein Zurück gibt es nicht. Nicht mal ein Wurm könnte sich rückwärts durch dieses Rohr schlängeln.
Irgendwas packt sie am Fuß, und beinahe fängt sie an zu schreien, bevor ihr klar wird, dass es Demi ist. »Hier, Baz?« Er unterdrückt ein Husten.
Quälend langsam wälzt sie sich herum, bis sie auf dem Rücken liegt, dann untersucht sie die Oberseite des Rohrs mit den Fingern, tastet nach der nicht abgerundeten Fläche der Abdeckung. »Nein, ich finde nix.«
Es folgen schabende und schrammende Geräusche sowie ein unterdrücktes Stöhnen, als auch Demi sich mühsam umdreht.
Sie wartet, versucht regelmäßiger und vor allem langsamer zu atmen, die aufsteigende Panik einzudämmen. Sie hört ihn tasten und stochern, hört das Bröckeln und Rieseln von noch mehr Dreck und dann das Knirschen von Metall, und schon ist ein Luftzug zu spüren. Für einen Moment verhält sich Demi ganz still. Sie weiß, was er denkt: Ist die Luft rein? Sie stößt ihn mit dem Fuß an, eine Aufforderung, sich in Bewegung zu setzen. Wozu warten? Wenn sie hier liegen bleiben, sind sie eh tot. Lieber gefangen genommen werden, als in einem Abflussrohr begraben zu sein und nichts als Ratten und Insekten zur Gesellschaft zu haben.
Sie hört ihn nach draußen kriechen, und gleich darauf fühlt sie seine Hand, die sie an den Beinen rückwärtszieht, bis auch sie sich durch die Luke nach oben winden kann. In einer einzigen fließenden Bewegung rollt sie sich in die Hockstellung und blickt forschend durch die Gasse. Es wird jemand an der Ecke sein, jemand auf dem Dach, vielleicht noch jemand unten am Fluss, lauter Rattenaugen, die nach ihnen Ausschau halten. Ausschau aber heißt, dass sie von der Bude wegschauen – auf die Tür, die in Fays Haus führt, achtet keiner.
Stumm, in blindem Einvernehmen, schlüpfen sie schattengleich in die geisterhafte Leere des Lagerhauses, halten dann inne, um erneut zu lauschen und sich umzublicken. Niemand im Treppenhaus. Sie eilen hinunter in den Keller, tasten sich durch die Tintenschwärze hindurch zu Fays Versteck, ertasten auch den losen Ziegelstein und ziehen ihn aus der Mauer.
Kinderleicht. Es ist so einfach, denkt Baz. Das gibt’s gar nicht, dass etwas so leicht geht. Nie.
Jeden Moment rechnet sie mit dem Geräusch von Schritten, die von hinten die Treppe herunterkommen, dem Flackern einer Taschenlampe, Stimmen, Fay.
»Schwer«, flüstert Demi. »Als hätt sie alles, was wir ihr gebracht ham, in diesen kleinen Kasten gepackt.«
»Biste zufrieden? Willste die ganze Nacht hier stehn und träumen oder können wir jetzt wieder gehn?«
»Ich bin am Überlegen«, sagt Demi.
Baz schiebt sich zurück zur Treppe und wartet dort. Warum können sie nicht einfach abhauen? Was ist los mit ihm? Was will er noch? Er braucht nichts zu überlegen; Demi ist Bewegung, schnelle Bewegung, so schnell, dass keiner erkennt, dass er da ist, was er tut. Seine Hände besorgen das Überlegen für ihn, also was macht er da jetzt?
Ganz oben im Gebäude hört sie eine Tür auf- und wieder zugehen.
»Ich denke, wir sollten Fay sagen, was wir gerade tun.« Demis Stimme ist so leise, als würde er zu sich selbst sprechen.
»Bist du verrückt?«, zischt sie. Das ist es also. Sie wusste doch, dass er mit so etwas kommen würde, aber das hindert sie nicht daran zu versuchen, ihm ein bisschen Verstand einzuhämmern. »Glaubst du im Ernst, sie lässt uns danach einfach gehn?«
»Sie soll wissen, dass ich sie nicht bestehle«, sagt er, »sondern nur nehme, was uns gehört. Wir ham das Recht, das zu tun.« Baz kann ihn im Moment überhaupt nicht sehen, die Dunkelheit hat ihn vollkommen verschluckt. Eine Stimme ohne Körper.
»Du hältst das, was du wolltest, in der Hand«, sagt sie verzweifelt. »Nimm einfach einen Teil raus und lass den Rest. Wenn du dich ihr zeigst, biste deinen Kopf los.« Sie spürt, dass er sich auf sie zubewegt, fühlt seinen Atem in ihrem Gesicht.
»Ich muss, Baz. Sie –«
»Sie hat sich verändert. Wir bedeuten ihr überhaupt nix mehr. Hast es doch gesehn, Demi. Hör auf zu träumen, wach auf.«
»Für mich hat sich nix geändert.«
Und damit hat sich’s. Er schlüpft an ihr vorbei, ein Schatten in der Dunkelheit, der plötzlich Gestalt annimmt, als er sich die Treppe hinauf von ihr entfernt.