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Er sitzt über den Lenker gebeugt,
höchste Konzentration im Gesicht. Ein Mann, der mit einer Tüte
Gemüse im Arm über die Straße eilt, kreuzt seinen Weg. Lucien
bremst so heftig, dass sein Hinterrad wild nach rechts ausschert,
bevor es wieder in die Spur kommt. Der Mann springt zur Seite,
schüttelt schimpfend die Faust, doch Lucien ist schon weiter,
schießt im Zickzack durch den Verkehr, sein Vorderrad knallt auf
den Bordstein, der Motor heult auf.
Baz zieht Demi zurück, während
Domino herumwirbelt, sich auf ein Knie fallen lässt und
gleichzeitig eine Pistole zieht, doch es ist schon zu spät. Lucien
wirft seinen Körper nach rechts, die Maschine schleudert herum wie
ein Klappmesser und trifft Domino voll, katapultiert ihn gegen die
Außenmauer des Krankenhauses, wo er in sich zusammensinkt und
blutüberströmt, der rechte Arm in einem unnatürlichen Winkel
abstehend, liegen bleibt.
Lucien hievt die Maschine wieder
in die Senkrechte, während Baz Demi auf den Rücksitz drängt. Sie
blickt kurz zu Eduardo, der schon halb eingestiegen ist, sich jetzt
mit ungläubigem Gesicht zurückwendet, während sein Fahrer die Tür
öffnet, den Arm über das Dach ausstreckt und in ihre Richtung
zeigt. Ein Knall ertönt und ein kurzes Pfeifen, doch Baz klemmt
sich bereits hinter Demi auf den Rücksitz, schlingt die Arme fest
um ihn, während Lucien das Motorrad in Bewegung setzt, auf die
Straße rumpelt und Gas gibt, und dann schießen sie mit einem jähen
Ruck davon. Vielleicht gibt es noch einen zweiten Schuss,
vielleicht auch nicht – sie weiß es nicht. Sie hat die Augen fest
geschlossen, das Gesicht in Demis Rücken gedrückt. Falls die Kugel
kommt, wird sie es sein, die getroffen wird, und das wäre dann also
die Art, wie sie ihr Leben beendet.
Aber die Kugel kommt nicht, und
Eduardo wird ihnen zwar sicherlich folgen oder es jedenfalls
versuchen, doch sein Auto steht in der verkehrten Richtung, und es
wird ihn wertvolle Sekunden kosten, auf der belebten Straße zu
wenden. Sie haben einen guten Start und er wird sogar noch besser
durch Luciens Fahrweise: Er schlängelt sich zwischen den Autos
hindurch, fährt über einige rote Ampeln, biegt wahllos erst nach
rechts, dann wieder nach links ab und entfernt sich immer weiter
von den Hauptstraßen.
Nach fünf Minuten bringt er das
Motorrad hinter einer Tankstelle in einem Armenviertel auf der
Westseite der Stadt zum Stehen. Für einen kurzen Moment bleiben sie
auf der ruhenden Maschine sitzen, Hitze steigt von dem harten
Untergrund auf, hüllt sie ein, jetzt, wo sie nicht mehr in Bewegung
sind. Auf der anderen Seite der Tankstelle, wo sich möglicherweise
so etwas wie eine Werkstatt befindet, hört man jemanden auf Blech
schlagen, hier jedoch gibt es nichts als kaputte und verrostete
Autoteile und einen Berg von alten Reifen.
Baz ist die Erste, die sich rührt
und vom Rücksitz gleitet. Sie fühlt sich schwindelig, unsicher auf
den Füßen, ein bisschen high sogar, wie die Männer in den
Raucherhöhlen, die es im Barrio gab. Zu viel in zu kurzer Zeit –
aber alles gut jetzt, alles in Sicherheit. Irgendwo heult eine
Sirene, aber weit, weit weg. Hoch über ihnen knattert ein
Hubschrauber, Richtung Norden unterwegs, nicht interessiert an drei
winzigen Gestalten ganz da unten. Vielleicht sind sie
unsichtbar.
Gewohnheitsmäßig kontrolliert sie
die nicht einsehbare Seite des Gebäudes: immer wissen, was um die
Ecke ist, immer eine Hintertür zur Verfügung haben. Ein alter Mann,
der in einer behelfsmäßigen Werkstatt zugange ist, ganz wie sie
dachte. Sie winkt den Jungs zu, um anzuzeigen, dass sie sicher
sind, und geht zurück. Neben Lucien bleibt sie stehen, berührt
seinen Arm und blickt ihm so eindringlich ins Gesicht, dass er den
Kopf zu ihr dreht. »Lucien«, sagt sie, »du warst unsere ganz große
Rettung. Danke, Lucien. Demi und ich, wir sind dir echt was
schuldig.«
»Du hast mir den Schlüssel
gegeben, Baz, hast mir Geld für Benzin gegeben. Ist klar, dass ich
dann komm.« Er zuckt mit den Schultern und dreht sich, immer noch
auf dem Motorrad sitzend, zu Demi um. »He, Demi – siehst ja nicht
besonders gut aus.«
Demi hat mit etwas Mühe sein
verknackstes Bein angezogen und beugt sich vornüber, um seine Hose
hochzuschieben und es ein bisschen zu massieren. »Ich?«, sagt er.
»Demi sieht immer gut aus – was erzählst du, Lucien?« Er strafft
sich und etwas von der vorübergehend verlorenen Großspurigkeit
kehrt in seine Stimme zurück. »Aber wenn du diese Maschine wie ’ne
alte Oma steuerst, dann macht einen das natürlich mehr fertig, als
wenn man ’n Tritt von ’nem Maultier abkriegt.«
»Da kann einem echt der Kopf
abfalln, wenn dieser Typ mit seinem üblen Gelaber loslegt«, sagt
Baz, aufgebracht und glücklich zugleich. »Du bedankst dich bei
Lucien, Demi, oder ich bring dich wieder in den Bau, ich schleif
dich eigenhändig ins Schloss.«
»Hey! Wer is’n dieses Lumpenmädel,
das glaubt, es kann mir hier Vorschriften machen? Hast wohl
vergessen, dass ich es bin, der die flinken Finger hat, und der
...«
»Demi! Du bist der, der geschnappt
worden ist. Lucien und ich ham dich wieder rausgehaun. Hör auf,
dummes Zeug zu erzähln.« Sie beäugt ihn kritisch. »Meinste, dass es
geht mit deinen Verletzungen?«
Demi grinst. »Du bist echt schnell
gewachsen, Baz. Führst dich jetzt schon auf wie Mama Bali
...«
Lucien wechselt einen Blick mit
Baz, dann wischt er sich mit seinem Hemdzipfel das Gesicht ab. »Was
jetzt, Baz? Würde sagen, wir sollten weiter. Die Uniformierten
suchen bestimmt nach dieser Maschine.«
Demis Grinsen schwindet. »Die
suchen nach mehr als’m alten Motorrad. Die ham den Wachmann
umgebracht, und dieser Goldjunge, die Fay-Ratte, will mir das
anhängen.« Er erzählt, wie Eduardo ins Krankenzimmer gestürmt ist,
wie er seine Adoptivmutter am Arm mitgeschleift und sie so gestoßen
hat, dass sie auf das Fußende von Demis Bett gefallen ist, und die
ganze Zeit hat er rumgeschrien. »Hab gedacht, er ist voll
ausgeflippt. Irgend ’ne Droge oder was. Hat die Pistole fallen
lassen, wisst ihr, direkt neben mir.« Er sieht sie beide an und
zuckt mit den Schultern. »Hab sie aufgehoben. Dachte, ich könnte da
rausspaziern wie der Held im Kino, aber als ich die Pistole auf ihn
gerichtet hab, da ist dieser Eduardo mit’m Mal zu ’ner andern
Person geworden, ’n üblerer Schattenmann, als ihr euch vorstellen
könnt, ey. Hat nur gelacht, meinte zu mir, ich soll abdrücken.
›Mach schon‹, hat er gesagt. ›Tu den Finger auf den Abzug, Junge.
Erschieß den Sohn des Captain, sei der Held des Barrio.‹ Die Frau
heult die ganze Zeit und er spottet rum ... Hab dann abgedrückt,
wollte ihn ins Bein schießen – Rache dafür, dass er uns reingelegt
hat und ich von den Uniformen geschnappt worden bin.«
»Und? Wie geht’s weiter?«, sagt
Lucien.
Aber Baz weiß es schon, kann es
sich denken. Darum also hat Eduardo die kleine Pistole so sorgsam
behandelt, darum hat er sie ins Taschentuch eingewickelt.
»Die Pistole hat nur Klick
gemacht. Nix passiert. Er ist gekommen und hat sie mir aus der Hand
genommen. ›Danke‹, hat er gesagt, ›du hast mir grad dein Leben
überschrieben.‹«
»Er hat deine Fingerabdrücke auf
der Pistole«, sagt Baz.
»Hat meine Fingerabdrücke und
meint, er hat auch meine Seele. ›Sicher‹«, äfft er Eduardo nach.
»Er ist da genauso wie Fay. Hast ihn ja gehört vorhin, Baz, redet
die ganze Zeit wie Fay: jedes zweite Wort ist ›sicher‹. Und das
heißt, du brauchst nur einmal aus der Reihe zu tanzen, dann kommt
gleich der böse Onkel, bringt dich auf’n Berg. Er kann diese
Pistole jederzeit der Polizei geben und lacht sich dann ins
Fäustchen, wenn sie nach mir suchen kommen.«
»Erst mal müssten sie dich
fangen«, sagte Baz. »Ich würde sagen, wir machen Folgendes.«
Sie stehen jetzt alle um das
Motorrad herum, und Baz skizziert kurz, was sie sich vorstellt: das
Motorrad verkaufen und dann auf schnellstem Weg zum Bahnhof Norte,
um mit dem Zug in eine der Städte im Norden zu fahren – neu
anfangen, noch mal ganz von vorn. Selbst wenn sie wollten, sagt
sie, gäbe es keinen Weg mehr zurück. Das Barrio wird dem Erdboden
gleichgemacht, Fay hat sie vergessen, und jetzt, wo der
Teufelsjunge drauf und dran ist, die Stadt zu übernehmen, bleibt
ihnen eh keine andere Möglichkeit, als zu fliehen.
Lucien nickt. »Hast recht, Baz. Du
und Demi, ihr solltet besser verschwinden. Ich bring euch hin, kann
euch sogar mit dem Motorrad hinfahrn und es irgendwo da in der Nähe
verkaufen. Vielleicht komm ich später nach.«
»Nichts da, du kommst mit!«
»Nach mir sucht keiner«, sagt er,
den Blick nur auf Baz gerichtet. »Ich muss rausfinden, was genau
mit Mama Bali ist. Falls sie tot ist, will ich sehn, dass sie
anständig begraben wird.«
Demi blickt von einem zum anderen.
»Was ist passiert?«
»Sie ham ihr die Küche
abgefackelt«, sagt Baz. »Jemand hat rausgefunden, dass sie mir
geholfen hat.«
»War dieser Jemand vielleicht
Fay?«, fragt Demi.
»Vielleicht.«
»Tja.« Er hakt beide Daumen in
seine Hosentaschen. »Ich geh auch zurück, Baz. Du kannst machen,
was du willst, aber ich hol mir was von dem, was Fay mir schuldet
für all die Male, wo ich ihr gute Sachen gebracht hab.«
»Ich hab den Ring schon
genommen.«
»Und hast ihn weggegeben! Das
Verrückteste, was du je getan hast.« Er hebt die Hand, um ihr das
Wort abzuschneiden. »Ja, ich weiß, warum. Ist ja okay, aber ich sag
dir, es wird jetzt alles anders. Kann schon sein, dass hier kein
Platz mehr für uns ist, aber ich geh hier nicht mit leeren Händen
weg. Fahr du los, wenn du willst, aber ich, ich mach mich auf zur
Bude und nehm mir, was mir gehört. Lucien, nimmste mich mit?«
Baz mustert die beiden: störrisch
wie die Esel. Sie redet auf Demi ein, zeigt ihm das Geld, das
Señora Dolucca ihr gegeben hat, doch er will nicht hören. Und sie
begreift, dass der Fall bei ihm nicht so viel anders liegt als bei
Lucien. Ganz gleich, was er sagt, es ist im Grunde nicht das Geld,
das ihn zurückzieht. Wahrscheinlich ist es ihm selbst gar nicht
bewusst, aber Baz weiß Bescheid: Was Demi in Wirklichkeit will,
ist, Fay noch ein letztes Mal zu sehen, so wie Lucien unbedingt
Abschied nehmen muss von Mama Bali.
Das Problem ist nur, dass das
Barrio genau der Ort ist, wo Eduardo nach ihnen suchen wird. Und
doch, was bleibt ihr anderes übrig? Soll sie allein nach Norden
fahren? Natürlich nicht. Sie ist genauso wenig frei in ihrer
Entscheidung wie die anderen beiden, sie muss mit ihnen gehen.
Wenigstens kann sie auf Demi aufpassen, vielleicht verhindern, dass
er dem bösen Wolf blind ins offene Maul rennt. Das Barrio wird
ihnen kaum etwas anderes zeigen als scharfe Zähne.
Seufzend erklärt sie sich
einverstanden, besteht aber darauf, dass sie das Motorrad abstoßen.
Demi mault zwar, muss ihr aber recht geben: Sie alle drei auf
diesem Motorrad – da kämen sie nicht einmal um den Agua-Platz
herum, ohne dass jemand sie oder die Maschine erkennen würde. Sie
schieben das Motorrad ums Haus und bieten es dem Werkstattbetreiber
zum Kauf an. Der wirft ihnen nur einen kurzen Blick zu und kramt
dann einen Fünfzigdollarschein aus der Tasche. »Nehmt’s oder
lasst’s bleiben«, sagt er, »aber ich schätze, dieses Motorrad ist
heißer als die schärfste Braut.«
Sie nehmen das Geld und machen
sich dann mit der Straßenbahn auf den Weg zurück in die Stadt.
Dabei lassen sie sich Zeit, denn sie wollen nicht ins Barrio
kommen, bevor es dunkel wird.
Der Agua-Platz ist von
Polizeikräften besetzt: Uniformierte vor Señor Moros Bar, echte
Schlägertypen, mit Kampfanzügen, Helmen und Automatikgewehren. Beim
Brunnen, wo vier riesige Planierraupen aufgereiht sind, stehen auch
welche. Dennoch sind Leute unterwegs, sie meiden zwar Moros
Etablissement, betreten aber die anderen Bars, als wäre nichts
gewesen. Einige Gruppen haben sich am Hauptzugang zum Barrio
gebildet. Es sieht so aus, als sei ein Gebäude an der Ecke
vollständig niedergerissen worden. »Siehst du das?« Baz packt Demi
am Arm. »Siehst du, was sie da machen? Als würden sie’s Stück für
Stück auffressen wolln.«
Sie schlagen einen Bogen um die
Menge, auch wenn es nicht so aussieht, als würde die Polizei aktiv
irgendjemanden am Kommen oder Gehen hindern. Vielleicht sind ihre
Schlachten bereits geschlagen, alle Schattenmänner aus dem Weg
geräumt. Vielleicht haben sie sich, weil es Abend ist, nur
vorübergehend zurückgezogen. Das Barrio bei Tag ist eine Sache,
aber das Barrio bei Nacht – das ist etwas ganz anderes, selbst für
eine bis an die Zähne bewaffnete Polizei.
Sie schlüpfen in die schmale
Gasse, die sie für gewöhnlich benutzen und die wie eine Ader tief
ins Barrio hineinführt. Als sie bei der Ecke sind, wo Mama Balis
Küche einst gestanden hat, trennen sie sich von Lucien. »Norte«,
sagt Baz, »morgen – alles klar, Lucien. Du kommst mit uns. Halb
neun am Norte. Wir nehmen den Morgenzug nach Tianna.« Sie ergreift
seine raue Hand. »Hörst du?«
Lucien zeigt sein scheues Lächeln.
»Ich hör dich, Baz. Norte, Morgenzug nach Tianna.«
»Auf dem Querbahnsteig. Wir
besorgen deine Fahrkarte. Okay?«
»Okay.« Er hebt die Hand, grüßt
mit geballter Faust und wendet sich zum Gehen.
Baz und Demi machen sich auf den
Weg zur Bude. »Was! Was sagst du zu dem? Du willst ihm morgen ’ne
Fahrkarte kaufen? Hast dich in Lucien verguckt? Dachte, du hättst
nur Augen für mich. Wenn du mir gleich wegläufst, nur weil ich mal
’n bisschen Pech hatte, taugste aber nicht besonders viel,
eh.«
»Demi, du hast ’n schlimmeres Maul
als ’n quiekendes Schwein.«
»Wo hast du denn ’n Schwein
gesehn?«
»Auf’m Markt hab ich’s gesehn,
bevor sie’s am Schwanz aufgehängt ham. Vielleicht passiert dir das
auch mal, wenn du immer so durch die Gegend quiekst.«
Es ist alte Gewohnheit bei ihnen,
sich gegenseitig Schmähungen an den Kopf zu werfen – Demi tut
großspurig, Baz stutzt ihm den Kopf zurecht. Aber diesmal ist es
anders, diesmal verdeckt der atemlos geflüsterte Wortwechsel, so
beiläufig er klingt, das, was sie wirklich fühlen, während sie
still und leise durch das Labyrinth hasten. Um sie herum atmet das
Barrio. Ein wütend orangefarbenes Licht flackert rechts am Himmel –
noch ein Gebäude, das brennt. Musik vibriert dumpf in der stickigen
Luft. Dunkle Gestalten eilen an ihnen vorbei. Jedes Mal, wenn sie
jemand kommen hören, drücken sie sich in irgendwelche Spalten, um
sich zu verstecken, halten den Atem an, spähen, alle Sinne
angespannt, ängstlich in die Dunkelheit.
Ängstlich und auch resigniert, so
jedenfalls empfindet es Baz. Sie waren so nahe daran, frei zu sein,
und jetzt könnten sie ebenso gut auf direktem Weg zum Schloss
gehen, an die riesigen Türen schlagen und den Greifern zurufen, sie
möchten sie bitte einsperren und den Schlüssel wegwerfen.
Vielleicht wäre das sogar besser gewesen, als sich auf diese Art
ins Barrio hineinzustehlen.
Wer sollte wohl in der Bude auf
sie warten? Fay. Fay weiß bestimmt, dass sie entkommen sind. Fay
rechnet damit, dass Demi zurückkehrt. Fay hat Demi so lange an der
Leine gehabt, da kann sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen,
dass er imstande wäre, selbstständig zu denken.
Sie wird also da sein, wartend,
Pläne schmiedend, überzeugt davon, dass sie in Sicherheit ist mit
ihrem Engelsjungen und seinen cleveren Winkelzügen. Sie ist
allerdings blind, glaubt Baz, blind vor Liebe. Sie hat nicht
gesehen, wie er wirklich ist, hat nicht das grobe Lachen gehört,
als Baz ihn nach Fay gefragt hat. Doch sie schiebt diese Gedanken
beiseite. Das alles spielt jetzt keine Rolle. Jetzt geht es nur
noch darum, dass sie und Demi ihre Sache erledigen und
verschwinden, bevor die Greifer sie erwischen oder die
Planierraupen beim Lagerhaus anrücken.
Sie liegen flach auf dem Bauch und
arbeiten sich gerade langsam in dem alten Graben nahe der Bude
voran, als sie das erste Mitglied der Bande entdecken: Giacomo,
oben neben dem Brett, das den Graben überbrückt. Garantiert ist es
so gedacht, dass er sich in den Schatten des Gebäudes hinter ihm
drückt, aber Giacomo ist noch nie besonders gut im Verstecken
gewesen, es sei denn, Miguel war bei ihm und hat ihm gesagt, was er
zu tun hat. Die Tatsache, dass sie ihn sehen können, bedeutet also
wahrscheinlich, dass er allein ist. Aber er steht auf
Beobachtungsposten, denn einen anderen Grund gibt es nicht, sich um
diese Zeit hier draußen aufzuhalten. Baz kann einen leichten
Lichtschimmer in seiner Hand ausmachen. Fay hat ihm ein Handy
gegeben. Fay wird im Alter noch großzügig, großzügig oder
vielleicht einfach nur nervös. Sie hat immer gesagt, dass Handys zu
leicht zurückzuverfolgen sind, und sie wollte nichts zulassen, was
jemanden auf ihre Spur führen könnte. Zog es vor, Dinge von
Angesicht zu Angesicht zu erledigen. »Du kannst sehn, ob jemand
dich anlügt, wenn du ihm ins Gesicht guckst«, pflegte sie zu sagen.
Baz fragt sich, wie oft Fay sie beide wohl angelogen hat.
Sie berührt Demis heilen Arm,
fährt sich mit dem Finger über die Kehle. »Nicht hier lang.« Worauf
beide ein Stück zurückkrabbeln. Unter dem Gebäude, vor dem Giacomo
steht, befindet sich eine alte Abwasserleitung, die in den Graben
führt, und zwar direkt neben dem Eingang zu dem alten Lagerhaus, in
dem Fay wohnt. Die Leitung hat in früheren Zeiten Flusswasser und
natürlich Abwasser aufgenommen, ist jedoch schon lange
trockengelegt, noch bevor Baz, Demi und Fay ins Barrio gekommen
sind. Sie und Demi sind wohl hundertmal durch das Rohr gekrochen,
als sie noch kleiner waren, haben es manchmal auch für Mutproben
benutzt, wenn neue Kinder zu ihrer Bande gestoßen waren, aber das
ist alles schon Jahre her. Baz’ Ansicht nach wissen Miguel und die
anderen überhaupt nicht, dass es existiert.
»Tunnel«, flüstert sie Demi ins
Ohr, und er nickt, weiß sofort, was sie meint. »Schaffst du das mit
deinem verletzten Arm?«
»Mach dir nicht schon wieder ins
Hemd, Baz«, zischt er.
»Okay.« Sie merkt aber, dass die
Wunde ihm Schmerzen bereitet.
Sie schleichen sich etwa zehn
Meter rückwärts, dann räumt Baz leise und schnell allerlei Abfall
beiseite, bis die Öffnung freiliegt. Schwarz und rund, wie ein
Schlangenmaul. Ganz kurz hat sie den Gedanken, Demi einfach allein
loskriechen zu lassen, schließlich ist er derjenige, der so scharf
darauf ist, sich das zu holen, was Fay ihm seiner Ansicht nach
schuldet. Doch was nützt dir alles Geld, wenn du hier unter all dem
Dreck begraben bist? Was nützt dir alles Geld, wenn Fay und
irgendwelche Schattenmänner dich dabei ertappen, wie du deine
Finger durch die Lücke in der Mauer steckst und Fays Schatzkiste
herausziehst?
Aber was sollte sie hier solange
machen, auf dem Bauch liegen und warten? Was würde sie tun, wenn
sie seinen Schrei hörte, wenn er erwischt und verprügelt würde? Sie
müsste dann sofort hinterherkrabbeln und sich auch erwischen
lassen. Sie atmet einmal durch und schätzt die Größe des Lochs ab.
Eigentlich müssten sie sich noch immer hindurchquetschen können,
notfalls halt wie die Paste aus einer Tube, aber es sollte gehen.
Klar ist jedenfalls, dass keiner damit rechnet, dass sie gleich
neben der Haustür direkt aus der Erde kommen.
Sie blickt zu Demi zurück – das
Weiße seiner Augen schimmert ihr im Dunkeln entgegen. Er tätschelt
ihr Bein, sie holt noch einmal Luft, und dann schiebt sie sich, die
Arme nach vorn ausgestreckt, in das Abwasserrohr hinein und
versucht dabei nicht an Spinnen, Ratten und Schlangen zu denken. Im
Barrio gibt es Ratten, die so groß sind wie Hunde. Ihr Mund ist
fest zugepresst. Dreck rieselt ihr in den Nacken, Dreck bedeckt ihr
Gesicht, bröckelt auf ihre Lippen, verstopft ihr die Nase, macht es
ihr schwer, die stinkende Luft einzuatmen.
Die Seitenwände des Rohrs fühlen
sich an wie Schmirgelpapier, und während sie sich langsam
vorwärtsschiebt, merkt sie, wie ihr neues sauberes Shirt sich
allmählich auflöst. Ihr Unterkiefer ist verspannt, die
Fingerspitzen wund, die Augen fest zugekniffen. Und wütend ist sie
jetzt auch, aber Wut ist gut, sie hält sich daran fest, gibt sich
ihr ganz hin, lässt ihren Gedanken keinen Spielraum, um sich
vorzustellen, was vor ihr liegen mag, keine Gelegenheit, sich die
hundegroßen Ratten auszumalen, die ihr auflauern. Sie schleift sich
einfach immer weiter voran. Die halbe Strecke müssten sie jetzt
geschafft haben. Ein Zurück gibt es nicht. Nicht mal ein Wurm
könnte sich rückwärts durch dieses Rohr schlängeln.
Irgendwas packt sie am Fuß, und
beinahe fängt sie an zu schreien, bevor ihr klar wird, dass es Demi
ist. »Hier, Baz?« Er unterdrückt ein Husten.
Quälend langsam wälzt sie sich
herum, bis sie auf dem Rücken liegt, dann untersucht sie die
Oberseite des Rohrs mit den Fingern, tastet nach der nicht
abgerundeten Fläche der Abdeckung. »Nein, ich finde nix.«
Es folgen schabende und
schrammende Geräusche sowie ein unterdrücktes Stöhnen, als auch
Demi sich mühsam umdreht.
Sie wartet, versucht regelmäßiger
und vor allem langsamer zu atmen, die aufsteigende Panik
einzudämmen. Sie hört ihn tasten und stochern, hört das Bröckeln
und Rieseln von noch mehr Dreck und dann das Knirschen von Metall,
und schon ist ein Luftzug zu spüren. Für einen Moment verhält sich
Demi ganz still. Sie weiß, was er denkt: Ist die Luft rein? Sie
stößt ihn mit dem Fuß an, eine Aufforderung, sich in Bewegung zu
setzen. Wozu warten? Wenn sie hier liegen bleiben, sind sie eh tot.
Lieber gefangen genommen werden, als in einem Abflussrohr begraben
zu sein und nichts als Ratten und Insekten zur Gesellschaft zu
haben.
Sie hört ihn nach draußen
kriechen, und gleich darauf fühlt sie seine Hand, die sie an den
Beinen rückwärtszieht, bis auch sie sich durch die Luke nach oben
winden kann. In einer einzigen fließenden Bewegung rollt sie sich
in die Hockstellung und blickt forschend durch die Gasse. Es wird
jemand an der Ecke sein, jemand auf dem Dach, vielleicht noch
jemand unten am Fluss, lauter Rattenaugen, die nach ihnen Ausschau
halten. Ausschau aber heißt, dass sie von der Bude
wegschauen – auf die Tür, die in Fays Haus führt, achtet
keiner.
Stumm, in blindem Einvernehmen,
schlüpfen sie schattengleich in die geisterhafte Leere des
Lagerhauses, halten dann inne, um erneut zu lauschen und sich
umzublicken. Niemand im Treppenhaus. Sie eilen hinunter in den
Keller, tasten sich durch die Tintenschwärze hindurch zu Fays
Versteck, ertasten auch den losen Ziegelstein und ziehen ihn aus
der Mauer.
Kinderleicht. Es ist so einfach,
denkt Baz. Das gibt’s gar nicht, dass etwas so leicht geht.
Nie.
Jeden Moment rechnet sie mit dem
Geräusch von Schritten, die von hinten die Treppe herunterkommen,
dem Flackern einer Taschenlampe, Stimmen, Fay.
»Schwer«, flüstert Demi. »Als hätt
sie alles, was wir ihr gebracht ham, in diesen kleinen Kasten
gepackt.«
»Biste zufrieden? Willste die
ganze Nacht hier stehn und träumen oder können wir jetzt wieder
gehn?«
»Ich bin am Überlegen«, sagt
Demi.
Baz schiebt sich zurück zur Treppe
und wartet dort. Warum können sie nicht einfach abhauen? Was ist
los mit ihm? Was will er noch? Er braucht nichts zu überlegen; Demi
ist Bewegung, schnelle Bewegung, so schnell, dass keiner erkennt,
dass er da ist, was er tut. Seine Hände besorgen das Überlegen für
ihn, also was macht er da jetzt?
Ganz oben im Gebäude hört sie eine
Tür auf- und wieder zugehen.
»Ich denke, wir sollten Fay sagen,
was wir gerade tun.« Demis Stimme ist so leise, als würde er zu
sich selbst sprechen.
»Bist du verrückt?«, zischt sie.
Das ist es also. Sie wusste doch, dass er mit so etwas kommen
würde, aber das hindert sie nicht daran zu versuchen, ihm ein
bisschen Verstand einzuhämmern. »Glaubst du im Ernst, sie lässt uns
danach einfach gehn?«
»Sie soll wissen, dass ich sie
nicht bestehle«, sagt er, »sondern nur nehme, was uns gehört. Wir
ham das Recht, das zu tun.« Baz kann ihn im Moment überhaupt nicht
sehen, die Dunkelheit hat ihn vollkommen verschluckt. Eine Stimme
ohne Körper.
»Du hältst das, was du wolltest,
in der Hand«, sagt sie verzweifelt. »Nimm einfach einen Teil raus
und lass den Rest. Wenn du dich ihr zeigst, biste deinen Kopf los.«
Sie spürt, dass er sich auf sie zubewegt, fühlt seinen Atem in
ihrem Gesicht.
»Ich muss, Baz. Sie –«
»Sie hat sich verändert. Wir
bedeuten ihr überhaupt nix mehr. Hast es doch gesehn, Demi. Hör auf
zu träumen, wach auf.«
»Für mich hat sich nix
geändert.«
Und damit hat sich’s. Er schlüpft
an ihr vorbei, ein Schatten in der Dunkelheit, der plötzlich
Gestalt annimmt, als er sich die Treppe hinauf von ihr
entfernt.