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Er hat sie nicht gebeten, mit ihm
zu kommen! Hat sie auch nicht gebeten, auf ihn zu warten!
Alle ihre Instinkte drängen sie,
hier zu verschwinden, und zwar sofort, solange sie noch die
Möglichkeit dazu hat, aber sie rührt sich nicht. Sie fühlt, wie er
sich nach oben bewegt, geräuschlos, obwohl die Schmerzen in seinem
Bein ihn ein wenig humpeln lassen.
Mit einem Mal weicht alle Wut von
ihr. Man kann andere Leute nicht einfach gehen lassen, selbst wenn
man es eigentlich sollte. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal, holt
ihn auf dem mit rohem Zement bedeckten Absatz vor der Bude
ein.
Sie sehen sich an. »Wisch dir das
Gesicht ab, Baz«, sagt er, aber nicht mit der alten Demi-Stimme,
sondern ganz sanft.
Mit dem Ärmel ihres Shirts
versucht sie sich den Dreck aus dem Gesicht und die Nässe aus den
Augen zu wischen. Gern würde sie ihm sagen, dass er auch nicht so
toll aussieht, aber sie traut ihrer Stimme nicht. Er stößt die Tür
auf.
Es ist keine zwei Tage her, seit
sie die Bude verlassen haben, um den Job zu erledigen, den Fay
ihnen aufgetragen hatte, aber es fühlt sich an, als wäre viel mehr
Zeit vergangen, es fühlt sich irgendwie an, als müsste der Raum
ganz anders aussehen. Tut er natürlich nicht, höchstens, dass er
vielleicht noch ein bisschen unordentlicher wirkt als vorher. Eine
Glühbirne hängt an einem langen Kabel von der Decke, auf dem Tisch
in der Mitte stehen lauter schmutzige Teller und Gläser.
Kleidungsstücke liegen wahllos verstreut auf den Schlafmatten der
Jungen, die Simse unter den großen Fenstern sind nackt mit Ausnahme
dessen, wo Demi seinen Platz hatte: Niemand hat seine Sachen
angerührt, seine Matte ist ordentlich aufgerollt, und obendrauf
steht ein altes Paar Turnschuhe, die wegzuwerfen er sich nicht
entschließen konnte. Demis Fenster geht auf den ausgetrockneten
Fluss, durch die schmierige Scheibe sieht man jedoch nichts als
dunkle Nacht. Das Fenster auf der anderen Seite des Raums ist mit
den Lichtern der Stadt gesprenkelt und dem orange funkelnden Feuer,
das irgendwo im Barrio brennt. Der Herd zur Linken ist offen und
kalt, auch die Tür zu Fays Zimmer rechts in der Ecke steht offen.
Der Raum ist stickig und verströmt einen säuerlichen Geruch nach
Rauch und alten Kleidern.
Fay ist allein, sie sitzt in ihrem
üblichen Sessel am Ende des Tisches, ein Krug mit Wein in
Reichweite, ihr Handy neben dem Glas, aus dem sie trinkt, vor sich
eine Zinnuntertasse, auf der sich Zigarettenstummel türmen. Von den
dunklen Ringen unter den Augen abgesehen, ist ihr Gesicht
totenbleich, ihr Haar bildet ein struppiges Gewirr in Orange, ihre
cremefarbene Jacke ist fleckig und zerknittert. Sie sieht aus, als
hätte sie eine Woche lang nicht geschlafen. Sie rührt sich nicht,
blinzelt nicht einmal, als sie hereinkommen und in der Tür stehen
bleiben, starrt nur zu ihnen herüber, als seien sie eine
Erscheinung, nicht real.
Demi ergreift als Erster das Wort.
»Hey, Fay«, sagt er, »ham dir was mitgebracht.«
Ihr Blick zuckt hinunter zu dem
dicken Kasten, den er in der Hand hält, und ihre Augen weiten sich
ein wenig, als sie erkennt, worum es sich handelt. Baz rechnet
damit, dass sie jetzt anfängt zu toben und sie zu beschimpfen, doch
stattdessen verzieht sich ihr Mund auf eine Weise, die man fast als
Lächeln bezeichnen könnte. Sie schüttelt den Kopf. »Wie seid ihr
hier reingekommen? Ich hab die Jungen alle rausgeschickt, dass sie
nach euch Ausschau halten. Hab ihnen gesagt, wo sie sich hinstellen
solln, jedem Einzelnen. Was habt ihr mit ihnen gemacht,
Demi?«
»Glaubst du nicht, dass wir schlau
genug sind, um an einem Trottel wie Giacomo vorbeizukommen?«
»Hab geglaubt, ihr wärt schlau
genug, euch von hier fernzuhalten. Was hast du gedacht, Baz? War’s
deine Idee, nach Hause zu kommen? Nein.« Sie schüttelt den Kopf.
»Nehm nicht an, dass du’s warst – du hast ’n Sinn dafür, was sicher
ist. Den hat Demi nicht, stimmt’s, Demi?« Sie kippt etwas Wein aus
dem Krug in ihr Glas. Ihre Hand ist unsicher, wie Baz bemerkt, doch
ihre Stimme ist klar. Selbst wenn sie kaum mehr stehen kann vom
Wein, hat Fay trotzdem immer noch eine gestochen scharfe
Aussprache.
»Was soll das heißen, Fay? Wir
sind hier nicht willkommen? Und das hier«, er hält den Kasten hoch,
»das interessiert dich wohl auch nicht, all die wertvollen Sachen,
die wir dir gebracht ham. Hältst es einfach irgendwo versteckt,
dass wir nicht an das Zeug rankommen.«
Fay zuckt mit den Schultern. »Hab
die Jungen da draußen hingestellt, damit sie euch warnen,
herzukommen, Demi, aber es sind nur noch drei da, und die taugen
alle nix. Hab keinen Guten mehr, seit du weg bist und Miguel auch
weg ist, weil er jetzt bei Eduardo ist.« Das Handy vibriert,
rutscht seitwärts über den Tisch, bis Fay es in die Hand nimmt, die
Nachricht liest und es wieder hinlegt. »Eduardo ist der neue große
Mann, Demi, ihm gehört jetzt alles. Der neue Señor. Hat jetzt alle
Schattenmänner unter seiner Gewalt. Moro ist Rattenfutter. Die
Polizei hat ihn gefunden, mit’m Gesicht im Dreck, da, wo er
hingehört. Und jetzt kommt Eduardo her, euretwegen.«
»Wer hat ihm Bescheid
gesagt?«
»Ich hab ihm gar nix gesagt, der
Junge kann selber denken. Lässt die Gegend überwachen. Ihr seid
gut, aber ihr seid nicht unsichtbar.«
»Wenn er so schlau ist, wie
kommt’s dann, dass die Polizei hier alles niederreißt?«, sagt
Baz.
»Wenn hier alles abgerissen ist,
was kommt dann? Schicke Büros, schicke neue Häuser. Der Fluss
fließt bald wieder, das sagen jetzt alle. Das Barrio wird der Traum
eines reichen Mannes, und wer kontrolliert diesen Traum? Wollt
ihr’s wissen?«
»Dein Sohn«, sagt Demi.
»Mein Sohn sitzt bald auf so ’nem
Berg von Geld, dass er ’ne lange Leiter braucht.«
»Und er wird dir Schutz gewährn?«,
sagt Demi bitter. »So wie Señor Moro?«
»Is ’n Unterschied.« Sie nimmt
einen großen Schluck Wein. »Das hier ist Familie.«
In Baz’ Kopf erscheint ein Bild
von Raoul, mit geisterhaftem Lächeln, der Körper gegen den
Drahtzaun gesunken. Raoul war Familie. Und ihr fällt noch etwas
ein. Sie erinnert sich an das, was Señora Dolucca ihr über ihren
Mann und die Straßenmädchen erzählt hat. »Und der Captain – ist der
auch Familie? Hat er dir auch Schutz gegeben?«
Sie runzelt verblüfft die Stirn.
»Was willst du damit sagen?«
»Der Captain, er hat dir Schutz
gegeben, als du zuerst in die Stadt gekommen bist.«
»Typisch Baz. Weißt immer mehr,
als du sagst. Aber bei dieser Sache liegste verkehrt: Der Captain
gibt niemals, der Captain nimmt. Als dieser Captain noch ’n
einfacher Uniformträger war, auf der Straße seine Runden gemacht
hat, da hat er mich genommen, hat mich genommen, als ich noch nicht
wusste, wie die Stadt funktioniert, hat erst mich genommen und
dann, als das Kind kam, hat er’s Kind genommen ...«
»Der Captain ist Eduardos
wirklicher Vater!«
»Wirklich ist er auf jeden Fall,
der Captain. Vielleicht hat Blutsverwandtschaft nicht so viel zu
bedeuten, Baz ...«
»Dein Sohn geht uns nix an, Fay.«
Demis Stimme ist hart, ganz geschäftsmäßig, will es jedenfalls
sein. »Wir sind gekommen, um uns einen Anteil von dem zu holn, was
uns zusteht.« Er hält den Kasten hoch. »Durch drei teilen klingt
fair. Was sagst du?«
Fay zuckt mit den Schultern und
zeigt wieder ihr Beinahelächeln. »Nur zu, Demi. Mach das alte Ding
auf.«
»Deine Rente«, sagt Demi. »Bringt
uns von hier weg. Weißte das noch?« Er klappt den Deckel auf,
blickt hinein, und dann weiten sich seine Augen, als wäre er von
einer Wespe gestochen worden. »Was ist das?« Er kippt den Kasten.
Es fällt nichts heraus außer einem bisschen Kleingeld und einigen
kleinen Plastiktüten mit weißem Zeugs. »Baz!«
»Ich? Ich hab nur den Ring
genommen und ein paar Dollar, um dich freizukriegen.«
Fay grunzt. »Jeder fasst mal rein
in den Honigtopf. Glaubst du, ich lass ihn da stehen, bis die ganze
Welt reingefasst hat? Vergiss es, Demi. Dieser Kasten hier, das
warn immer nur kleine Fische, und wir sind jetzt der kleinste Fisch
im ganzen Fluss.« Sie greift plötzlich zum Glas und nimmt einen
Schluck. »Kleine Fische werden gefressen, es sei denn, sie
verändern sich oder sie sind verdammt schnell und schlau genug,
sich keinen Ärger einzuhandeln.«
»Der Fluss ist tot«, sagt Baz.
»Niemand würde neben diesen Schlammstreifen irgendwas
hinbauen.«
Fay schiebt ihren Sessel zurück
und erhebt sich etwas unsicher. »Ihr seid beide tot, wenn ihr nicht
verschwindet. Tot oder Lumpenfetzen und Haut und Knochen auf’m
Berg. Wollt ihr das? He? Er ist nämlich unten. Also, wollt ihr das?
Könnt gern gucken, hier.« Sie zeigt auf das zur Stadt gelegene
Fenster. Demi wirft ihr einen Blick zu, und Baz kommt
herbeigelaufen, um zu gucken.
Wenn sie sich ein bisschen den
Hals verrenken, können sie auf die Gasse hinunterspähen, die an dem
Haus vorbei zum Fluss führt. Dort unten sind etwa fünf, sechs,
vielleicht sieben Gestalten zu erahnen, einige von ihnen mit
Taschenlampen, und sie sind offenbar schon dabei, das Haus zu
betreten.
»Sie kommen, Demi!«
Fay steht am anderen Ende des
Zimmers, müht sich mit einer Rolle Seil ab. »Keine Zeit mehr fürs
Dach, ihr müsst durchs Fenster. Dieses hier. Baz, die Tür!«
Immer einen Ausweg zur Verfügung
haben, das hat sie ihnen gepredigt.
Baz rennt zur Tür, schließt sie
und schiebt den Riegel vor. Demi lässt den Kasten fallen, reißt das
Fenster auf der Flussseite auf, verknotet das Seil und wirft es
hinaus. Hier geht es weiter nach unten als im Haus der
Doluccas.
Demi kann ihre Gedanken lesen.
»Sieh’s positiv, Baz – wenigstens fahrn keine Polizeiautos da unten
rum.«
Nein, es ist eine andere Sorte
Haie, die ihnen dort ans Leder will.
Sie klettert auf die Fensterbank,
doch bevor sie ihre Beine nach draußen schwingt, dreht sie sich
noch einmal um und sieht Fay an, die hinter ihnen steht, ganz
dicht, voller Sorge. So hat sie Fay noch nie erlebt, nicht einmal,
wenn Señor Moro seine Besuche gemacht hat. Baz möchte etwas sagen,
aber es ist zu schwer. Auch Demi scheint im Moment eher klein als
groß, kein Aufplustern, kein prahlerisches Gerede. Wie ein
geprügelter Hund sieht er Fay an, doch Fays Blick ist auf Baz
gerichtet.
»Los, Baz!«, sagt Fay. »Sieh zu,
dass du hier wegkommst.«
Baz hört Schritte auf der Leiter,
ein Rütteln an der Tür, und sie schwingt sich über den Sims, packt
das Seil fest mit beiden Händen, klemmt es sich zwischen die
Schenkel und lässt sich nach unten gleiten. Gleich darauf folgt
Demi, rutscht mehr, als dass er klettert, verbrennt sich die Hände,
rauscht fast in sie hinein. Die letzten zwei Meter springt sie,
landet weich, kauert sich sofort in den Schatten. Demi trifft eine
Sekunde später auf dem Boden auf, grunzt und fasst sich ans Bein.
Das Seil kommt sogleich hinterher gesegelt.
Baz blickt nach oben, sieht gerade
noch Fays weißes Gesicht im Fenster, bevor es verschwindet. Es gab
Zeiten, da pflegte Baz, wenn sie auf dem Weg zu ihrem Boot war,
sich noch einmal umzudrehen und zu diesem Fenster in dem alten,
baufälligen Gebäude hochzublicken, und da leuchtete dann dieses
Licht. Sie musste dabei immer an weiches Gold denken.
Sie wendet sich ab und geht, ohne
etwas zu Demi zu sagen, los, am Ufer entlang Richtung
Flusskrümmung, instinktiv auf ihr Boot zusteuernd, ihren
Unterschlupf. Wie viel Zeit bleibt ihnen, bevor die Männer, eilig
die Treppe heruntergepoltert in ihren italienischen Schuhen, wieder
aus dem Haus heraus sind, um nach ihnen zu suchen? Wenige Minuten
höchstens. Sie geht schneller. Fay wird ihnen Auskunft geben ...
Paquetito, Raoul, Jungen, an deren Gesichter sie sich schon kaum
mehr erinnern kann, alle weg, weil Fay es gemeldet hat, wenn sie
ihr Ärger gemacht haben, und Demi und Baz haben ihr jetzt großen
Ärger eingebrockt, haben ihn ihr direkt an die Tür gebracht, ihr
vor den Füßen abgeladen, und dieser Ärger wird nicht so einfach
wieder verschwinden wie das Eis, das Demi für so kostbar hielt und
das einfach weggeschmolzen ist.
Vielleicht ist es diesmal anders.
Fay hat einen anderen Eindruck gemacht als sonst, hat ihnen
geholfen zu fliehen. Vielleicht wird sie doch nichts sagen?
Ihre Schritte klingen furchtbar
laut, es geht über Kieselsteine und allerlei Gerümpel und die ganze
Zeit rauscht das Barrio leise im Hintergrund.
Sie wird langsamer, als sie
plötzlich merkt, dass Demi nicht neben ihr ist. Er schlurft hinter
ihr her, hält sich den verletzten Arm.
»Alles klar bei dir?«
Er antwortet nicht, versucht nur
verbissen Schritt zu halten, aber sie kann hören, dass er heftig
atmet, als würde bei jedem Schritt, den er macht, ein empfindlicher
Nerv gereizt.
Wenn die Männer jetzt kommen,
haben sie keine Chance.
»Du musst dich beeiln,
Demi!«
»Was glaubst du, was ich
tu?«
Und dann gibt es, irgendwo um die
Ecke, einen hohen dünnen Schrei. Es könnte ein Kind, könnte auch
eine Frau sein. Dergleichen hört man so manches Mal im Barrio und
kümmert sich nicht weiter darum, aber Demi erstarrt, und es sieht
so aus, als würde er umkehren wollen. »Es war nicht Fay, Demi!« Baz
packt ihn am Arm, schüttelt ihn. »Niemand tut Fay was. Was glaubst
du denn? Eduardo wird sie nicht anrühren. Sie ist seine Mutter,
seine richtige Mutter. Komm weiter.«
Sie zieht an ihm, einmal, zweimal,
doch erst als eine Gestalt am Fenster erscheint und eine
Taschenlampe ihren Strahl aufs Geratewohl über den Uferweg schickt,
setzt er sich ruckartig in Bewegung und folgt ihr.
Sie haben kaum zehn weitere Meter
zurückgelegt, da ertönt vom Fenster her ein Ruf, und als Baz sich
umdreht, sieht sie, dass der Lichtstrahl jetzt systematisch
vorgeht, sich langsam und sorgfältig in alle dunklen Winkel und
Ecken gräbt, die sich zwischen Gerümpel, Bauschutt und den
verrottenden umgestürzten Bootsrümpfen bilden. Sie gehen, so
schnell sie können, so schnell Demi kann, ein Zwischending aus
Gehen und Laufen. Sie gelangen an die Krümmung. Wenige Sekunden
noch, dann sind sie außer Reichweite, aber der Lichtstrahl hat sie
fast eingeholt. Sie packt Demi, zieht ihn zur Seite, schiebt ihre
Finger unter den Rand des Bootsrumpfes, wo sie ihr Wasser lagert,
und stemmt ihn hoch. »Kriech da rein, Demi«, sagt sie hastig. »Ich
führ ihnen ein Tänzchen vor. Du bist zu langsam.«
»Okay, aber nur dies eine Mal.
Nächstes Mal ich wieder.«
»Klar doch.«
Er krabbelt unter den umgedrehten
Rumpf, sie schiebt von hinten nach. »Rühr dich nicht vom Fleck,
hörst du. Lieg einfach still, bis ich dich hole.«
»Ich kann nicht atmen.« In
gedämpftem Klageton.
»Wenn sie dich erwischen, atmest
du gar nicht mehr.« Sie lässt den Rumpf herunter und sprintet dann
zurück ins offene Gelände. Augenblicklich wird sie vom Lichtstrahl
erfasst.
»Da ist einer!«
Sie rennt, als wolle sie das Licht
abschütteln, schlägt Haken nach recht, nach links, läuft im
Zickzack, als hätte sie etwas verloren. Sie will, dass sie etwas
näher kommen, dass sie das Gefühl haben, sie könnten sie problemlos
einfangen, ohne groß nachdenken zu müssen.
Die Männer rufen, ihre Schritte
trommeln durch die Nacht, einer flucht vor sich hin, vielleicht
weil der Schlamm ihm die feinen italienischen Schuhe
ruiniert.
Noch nicht, sagt sie sich. Sie
müssen ganz nahe sein, die Hände schon nach ihr ausstrecken, sie
muss ihren Atem praktisch im Nacken spüren. Also bleibt sie stehen,
blickt wie zu Tode erschrocken zurück, lässt sich vom Lichtstrahl
blenden, damit sie sie deutlich sehen und erkennen können, was für
ein verschüchtertes kleines Ding sie ist, harmlos, leichte
Beute.
»Du da! Bleib stehen. Du kommst eh
nicht weit!«
Sie kneift die Augen zu, zählt
langsam bis drei, schützt sich vor dem blendenden Licht und gibt
ihnen Zeit, noch näher zu kommen.
Einer der Männer schreit
plötzlich: »Das ist das kleine Miststück, das meine Maschine
geklaut hat!«
Baz wirbelt davon, öffnet ihre
Augen in die Dunkelheit, lässt die Pupillen sich weiten. Jetzt kann
sie sehen. Sie wirft Blicke nach links und rechts, um sich zu
orientieren, rennt zum Rand des getrockneten Schlamms und begibt
sich auf ihren Weg in den Fluss hinein, wobei sie sich möglichst
schnell und ungezwungen bewegt, damit es leicht aussieht und ganz
ungefährlich scheint. Sie blickt sich um, hält diesmal eine Hand
vor die Augen, um sie vor dem Licht abzuschirmen. Dann verschärft
sie das Tempo noch ein bisschen, damit sie sich sicher fühlen auf
dem Untergrund, erreicht die Boje und hält sich daran fest, als
wäre sie außer Atem und wüsste nicht mehr ein noch aus.
Die Männer, vier an der Zahl,
kommen ihr in einer Linie nach, erst mit schnellen Schritten, dann
aber plötzlich langsamer, als der Schlamm weicher wird und sie bis
zu den Knöcheln einsinken. Noch ein Stück weiter, und sie versinken
richtig, so wie Demi, aber sie wird keinen Finger rühren, um ihnen
zu helfen. Ihr Herzschlag beruhigt sich, während sie das Geschehen
beobachtet und die Entfernung abschätzt.
»Komm her, du! Ich reiß dich in
Stücke, das schwör ich dir!«
Das ist wieder der Wütende, jung
und schmalgesichtig, der den anderen ein Stück vorausgeeilt ist. Er
ist der Mann, der von Demi vom Motorrad geworfen wurde, der Wächter
vom Berg, den sie eingeschnürt haben wie ein Stück Schweinebauch.
Er will sie verprügeln, will ihr heimzahlen, was sie ihm angetan
haben. Bestimmt war das ein übler Gesichtsverlust für ihn. Niemand
verliert gern sein Gesicht, schon gar nicht diese Männer, lieber
würden sie dich töten und den Hunden und Ratten zum Fraß
überlassen.
Kommt, sagt sie im Stillen, noch
ein kleines bisschen näher. Und alle stapfen sie weiter, waten
hinein in den Schlamm, knietief inzwischen, der Wütende fünf
Schritte voraus. Sie kann den Schweiß auf seinem Gesicht glänzen
sehen, Schlammspritzer auf seinem Jackett, und schon schwappt der
Schlamm um seine Oberschenkel. »Hey!«, ruft er und jetzt klingt
Anspannung und Besorgnis in seiner Stimme durch. »Ich kann mich
nicht bewegen.«
Die anderen drei beachten ihn
nicht, haben genug mit sich selbst zu tun, schreien Baz an, rufen
sich gegenseitig etwas zu. Einer von ihnen hat sein Handy gezückt,
ein anderer fuchtelt mit einer Pistole und schießt eine Ladung ab,
die an Baz vorbeipfeift.
»Daro!«, schreit einer der
anderen. »Bist du bescheuert? Hör auf damit, sonst legst du uns
noch alle um, eh!« Aber Daro, der Mann mit der Pistole, verliert
sein Gleichgewicht, rudert mit den Armen wie eine Windmühle und
gibt noch einen Schuss ab, bevor er in den Schlamm kippt. Die
anderen beiden waten weiter. »Warum bleibste stehen, Rico?«
Rico, der Schmalgesichtige,
antwortet nicht. Er hat seine Pistole gezogen, richtet sie mit
zitterndem Arm auf Baz. Der Schlamm geht ihm bis zum Bauch. Sein
Mund zuckt angespannt, denn jetzt hat er richtig Angst, seine Worte
klingen wie ausgespuckt. »Du hast uns reingelegt, du Aas. Uns
hierhergelockt. Ich knall dich ab, ich schwör’s«, aber er schießt
nicht. »Ich schwör’s, außer wenn du was holst ...« Er beginnt
vornüberzukippen, versucht sich nach hinten zu lehnen, schafft es
jedoch nicht. Die Pistole fällt ihm aus der Hand, hektisch greift
er danach, bekommt dadurch noch mehr Schlagseite. Die Pistole sinkt
unter die Oberfläche. »Jesus, Maria ...« Keine drohenden Worte mehr
jetzt.
Wenn er stillhält, dann kann er,
vermutet sie, sein Gesicht vielleicht noch fünf Minuten aus dem
Schlamm heraushalten. Sie tritt aus der Deckung der Boje heraus.
»Du hast Freunde«, sagt sie. »Vielleicht helfen die dir.«
»Du könntest ’n Seil holn,
irgendwas ...«
»Du musst stillhalten, sonst
verschluckt dich der Schlamm.«
»Was bist du für eine?« Seine
Atmung ist abgehackt, panisch, aber er hat das Zappeln eingestellt,
das Kinn ist nach oben gereckt, der Nacken steif. »Du hast kein
Mitgefühl ... Herrgott!«
Sie denkt darüber nach. Mitgefühl?
Haben diese Leute Mitgefühl für Raoul oder irgendein anderes Kind
gezeigt, das sie auf dem Berg eingesperrt haben? Sie kann jetzt
gehen, die Männer stecken alle fest: in ungerader Linie, bis zu den
Bäuchen, stumm, jeder völlig der eigenen Anstrengung hingegeben,
sich aus dem Schlamm zu befreien. Wie die Klammern auf Mama Balis
Wäscheleine hängen sie da, bald in die eine, bald in die andere
Richtung geneigt. Drei sind es noch, der, den sie Daro nannten, ist
fast verschwunden.
»Für euch hab ich kein Mitgefühl«,
sagt sie.
Sie hat sieben Leute gesehen, als
sie in der Bude aus dem Fenster blickte, daher können die übrigen
jeden Moment nachkommen, um zu sehen, was los ist. Drei Personen
also, eine von ihnen Eduardo. Vielleicht kommen sie angelaufen, um
diese vier zu retten. Vielleicht auch nicht. Baz hat nicht die
Absicht, es abzuwarten. Sie wirft einen letzten Blick zum Boot
hinaus. Keiner hat jemals den Weg dorthin gefunden, nicht einmal
Demi. Und in ihrem Traum ist das Wasser gekommen und das Boot ist
darauf geschwommen ... Für einen kurzen Moment ist sie versucht,
hinauszugehen und sich dort zu verstecken, dort, wo ihr nichts und
niemand etwas anhaben kann, aber das sind törichte Gedanken,
kindische Gedanken, reine Träumerei.
Träumereien bringen nichts,
bringen einen vor allem nicht in Sicherheit. »Halt still«, sagt sie
zu Rico. »Der Schlamm verschluckt dich in null Komma nix, wenn du
zappelst.«
Er hält den Kopf zum Ufer
zurückgebogen, vielleicht um nicht sehen zu müssen, wie nahe sein
Gesicht dem Schlamm ist. Er antwortet nicht. Diese Männer sind
nicht daran gewöhnt, sich von Kindern etwas sagen zu lassen, sich
von irgendjemandem außer ihrem Boss etwas sagen zu lassen. Sie
jagen. Sie handeln. Sie schüchtern Leute ein. In Zukunft vielleicht
nicht mehr.
Sie läuft mit leichten Schritten
davon, lässt die Männer zurück, ohne auf die Beschimpfungen der
beiden hinter Rico zu achten. Jetzt ist nur noch eins zu tun:
abhauen, in die Nacht verschwinden, das Barrio verlassen, die Stadt
verlassen, weit, weit weg gehen, dahin, wo sie keiner kennt.
Sie sieht den Strahl der
Taschenlampe, gerade als sie das umgestürzte Boot erreicht – sie
kommen.
Als sie den Rumpf anhebt, liegt
Demi zusammengerollt da, ganz wie ein braver Hund. Er dreht den
Kopf und greift dann nach der Hand, die sie ihm hinhält. »Ziehst
mich immerzu hoch, Baz.«
»Hast ja kaum Gewicht.«
Er legt seinen Arm um ihre
Schulter, sie einen Arm um seine Taille, und so, halb gehend, halb
humpelnd, lassen sie den Fluss rasch hinter sich, schlagen den Weg
ein, den Baz kurz zuvor schon einmal benutzt hat und der sie in die
Nähe des Marktes führen wird.
Nach zwanzig Minuten machen sie
Rast. Der Fluss liegt weit hinter ihnen und das Barrio ist für
seine Verhältnisse sehr still. Nach Baz’ Schätzung ist Mitternacht
längst vorüber und sie ist hundemüde. Sie macht sich Gedanken um
Lucien. Fragt sich, ob sie wirklich am Norte-Bahnhof auf ihn warten
können. Dürfen sie das wagen? Wird Eduardo sich wirklich so viele
Umstände machen, um sie zur Strecke zu bringen? Warum sollte
er?
Schließlich erreichen sie den
Markt und bauen sich ein Nest unter einem der Verkaufsstände, aus
Plastikstreifen, Papier und Pappe. Baz stöbert ein paar zerdrückte
braune Bananen auf und sinkt dann neben Demi nieder. Das
Fruchtfleisch ist so weich, dass es fast zerfließt, und hilft
wenig, den Hunger zu stillen, doch sie sind an Hunger gewöhnt. Sie
werden morgen essen. »’n ganzen Teller mit Wurst, so hoch, dass
kein Hund drüberspringen kann«, murmelt sie.
»Fettsack-Gebäck, Baz. Wenn ich
mal reich bin, ess ich nix andres als Fettsack-Gebäck.«
»Ich werd nie mit ’nem Fettsack
zusammenarbeiten, Demi. Fettsäcke bleiben stecken, wenn sie durch
’ne enge Gasse rennen, bleiben stecken, wenn sie durch ’ne Tür
gehn. Wenn du fett werden willst, such dir ’ne neue
Partnerin.«
Sie rollt sich neben ihm zusammen,
legt einen Arm unter ihren Kopf und schließt die Augen. Sie hat ein
Gefühl von Sicherheit, die Nacht ist warm, jegliche Probleme
scheinen weit weg.
Lange schweigen beide, und Baz ist
schon fast eingeschlafen, als Demi sagt: »Sie wollte mir Geld
geben, Baz. Hat keinen Wirbel um den Kasten gemacht, hat nur
versucht, mir einen Haufen Dollars in die Hand zu drücken. Grade
als ich aus dem Fenster raus bin – genau so war’s.« Seine Stimme
scheint aus großer Entfernung zu kommen.
»Das ist gut, Demi«, bringt sie
noch heraus. »Wir brauchen Dollars für die Zugfahrt.«
Doch sie hört ihn nicht mehr
sagen: »Darum geht’s nicht, Baz, das ist nicht das, was ich dir
sagen will«, denn da ist sie schon eingeschlafen.