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Die Stadt ist ein Glutofen.
In dieser Stadt ist es immer glühend heiß.
Der große Fluss ist zu einem Rinnsal aus braunem Wasser ausgetrocknet. In den Hafenanlagen ging es einmal geschäftig zu, jetzt liegen hier die Geister der Schiffe vor Anker und ihre Rümpfe rosten im Schlamm. Obwohl das Meer nur ein paar Kilometer entfernt ist, gehen dort nur die Reichen hin; nur die Reichen können überallhin: hinunter zu den weißen Stränden, hinauf zu ihren Farmen oder fort in fremde Länder. Aber wenn sie sich in der Stadt aufhalten, haben sie’s immer kühl – in ihren kühlen Büros mit den getönten Fensterscheiben, in ihren kühlen Gärten, in denen das Wasser zischt, in ihren kühlen Läden mit den Marmorböden und der Luft, die ihre glatten Gesichter so kühl wie Seide umweht.
Die Stadt ist ein Glutofen.
Aber in den Straßen der besseren Viertel wimmelt es noch immer von Menschen, die sich durch die Hitze schieben. Die Autos kriechen langsam dahin, und die Polizisten – harte Typen mit weißen Hüten, weißen Handschuhen und schwarzen Sonnenbrillen – beobachten die Wagen und die Menschen, sie achten darauf, ob es irgendwo Ärger gibt, und haben ein Auge auf Schmuddelkinder, die besser in ihrem eigenen Viertel bleiben und nicht hier in der Nähe der schicken Läden herumlungern sollten.
Aber das Mädchen sehen sie nicht, das ist nämlich zu schlau, um bemerkt zu werden. Sie weiß, wie man sich anzieht und wo man sich hinzustellen hat. Sie weiß, wie man sich durch die schwitzende Menschenmenge bewegt. Vielleicht hängt sie sich gerade an die Frau da, die ihre Mutter, oder den Mann dort, der ihr Vater sein könnte. Sie weiß, wie man ein so unschuldiges Gesicht macht, dass es keinem auffällt, wenn sie den Blick auf die pralle kleine Handtasche der Frau oder auf die dicke Brieftasche des Mannes richtet, die sich unter seinem Jackett abzeichnet. Sie weiß, wie man sich ernst und vernünftig gibt, ganz wie ein braves Kind.
Vielleicht ist sie ja wirklich ein braves Kind.
Sie ist etwa zwölf Jahre alt, aber so genau weiß sie es selber nicht, genauso wenig wie sie weiß, welches ihr richtiger Name ist oder wo sie herkommt. Sie hat dunkle, mattbraune Haut, ganz anders als die echten Stadtmenschen, von denen manche so blass sind, dass sie fast weiß aussehen. Angeblich kommt sie irgendwo aus dem Landesinnern, aber weil sie keine Angehörigen hat, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen.
Demi hat sie aufgelesen. Sie lag schlafend irgendwo auf offener Straße und war, so behauptet er jedenfalls, nicht größer als ein Sack Süßkartoffeln. In Basquat war das, wo die Kleinbauern ihre Marktstände haben. So ist sie auch zu ihrem Namen gekommen. Fay hat ihn ihr gegeben. »Du brauchst unbedingt einen Namen, Kindchen«, meinte sie. »Wie soll ich dir irgendwas sagen, wenn du ohne Namen rumläufst? Wenn du’s bis zum nächsten Essen schaffen willst, dann musst du kommen, wenn ich dich rufe.« So wurde sie von Fay und Demi eine Zeit lang Basquat genannt. Irgendwann meinte Demi aber, sie könne keinen Namen haben, der länger ist als sie selbst, und darum hieß sie von da an Baz.
Sie hat keine Familie, es sei denn, man würde Fay und Demi als ihre Familie ansehen. Demi wäre dann so etwas wie ein Bruder und Fay vielleicht so etwas wie eine große Schwester. Fay ist der kluge Kopf bei ihnen, sie ist für die Versorgung zuständig und sagt ihnen, wohin sie gehen und wonach sie ausschauen sollen. Sieben Jahre sind sie inzwischen zusammen, sieben Jahre, seit Baz von Demi aufgelesen wurde und Fay ihr den Namen gegeben hat. Sieben Jahre, in denen jeder auf den anderen aufgepasst hat.
Jetzt passt gerade mal wieder Baz auf Demi auf. Sie hält für ihn die Augen offen, versucht mögliche Gefahren zu erkennen, während er die eigentliche Arbeit macht und sich wie ein Aal durch das träge Menschenmeer schlängelt. Er ist sehr geschickt, sehr schnell, sehr flink. Da – schon hängt er dicht an dem einen oder anderen Mann dran oder an der Dame dort mit der baumelnden großen Tasche über der mageren Hüfte, und er ist dabei nicht mehr als ein Schatten. Einmal geblinzelt und schon ist er wieder fort. Wie eine Spielkarte: Schaut man sie an, zeigt sie einem ihr Gesicht, dreht man sie aber um, zeigt sie gar nichts mehr, und steckt man sie durch einen Türspalt, ist sie verschwunden. So ist Demi. Manchmal hat Baz das Gefühl, er ist gar kein Junge, sondern ein Rauchfähnchen.
Da! Schon passiert. So geschickt, dass keiner etwas mitkriegt – man sieht keinen Stich und keine Naht. Keiner außer Baz. Ihr Herz macht einen kleinen Hüpfer, während sie Demi in Aktion sieht: Eine kurze Zeit lang und im Abstand von vielleicht zwei Schritten gleitet er unauffällig hinter einer Dame her; sie bleibt vor einem Schaufenster mit eleganten Schuhen stehen, schaut hinein, und im Nu ist er direkt hinter ihr. Dann schlendert er weiter, an Baz vorbei, und steckt ihr ein hübsches kleines Portmonee zu, ein ordentlich pralles Ei. Die Dame betritt den Laden. Es kann noch eine halbe Stunde dauern, bis sie feststellt, dass heute kein Schuhtag für sie ist.
Baz träumt davon, so gut wie Demi zu sein. Wenn sie ihn fragt, wie er das macht, plustert er sich auf. »Irgendwann bist du vielleicht mal so gut wie ich«, sagt er. »Wenn Affen sprechen können und Fische fliegen, dann bist du vielleicht so gut wie ich.« Wenn er sie auf diese Art neckt, versucht sie nach ihm zu treten, aber sie tritt nur in die Luft, denn er bewegt sich so flink, dass sie gar keine Chance hat, ihn zu treffen. Dann hüpft er um sie herum und stimmt einen Singsang an, als wäre er selber ein sprechender Affe. Aber ihr Ärger ist schnell wieder verflogen, denn sie und Demi sind zwei Seiten einer Medaille, das jedenfalls hat Fay gesagt. Und außerdem findet Baz, dass Demi wahrscheinlich besser aussieht als jeder Affe, von dem sie irgendwann mal ein Bild zu sehen bekommen hat.
Demi hat kurze, schwarze, stachelig hochstehende Haare, wie die meisten Stadtjungen, seine Haut hat die Farbe von hellen Oliven und mit seinen braunen Augen wirkt er ein bisschen wie ein herrenloses Hündchen. Wenn eine freundliche Frau ihn für ein Kind hält, das sich verlaufen hat und um das man sich kümmern muss, dann gehört sie meistens schon im nächsten Augenblick selber zu denen, um die man sich kümmern muss – weil ihr nämlich plötzlich das Portmonee fehlt. »Frauen wie die«, sagt Demi, »wenn die ihr Geld verliern, holn sie sich einfach neues aus ihrem Sparschwein. Frauen wie die sind unser Sparschwein. Brauchst kein Mitleid mit ihr zu haben, Baz, sie hat auch keins mit uns. So ist das nun mal. Wir klaun ihr das Portmonee und sie bleibt trotzdem reich; wir klaun ihr Geld und bleiben arm – so lange, bis wir mal ganz groß abräumen, Baz. So sieht’s aus.«
Demi liebt die Stadt, jeden kleinen Winkel darin. Er kennt ihre geheimen Ecken und Sackgassen, ihre breiten Straßen und die geschützten, schattigen Plätze, wo man selbst in dieser großen Hitze noch sauberes fließendes Wasser finden kann. Demi braucht keinen anderen Ort auf dieser Welt. Bei Baz ist es anders, sie fragt sich, wie es dort aussieht, wo sie angeblich herkommt – dem Landesinnern, wo alles grün und weit ist und wo es kaum Straßen gibt, kaum Häuser.
»Was soll’n das schon groß sein, Baz? Bloß irgend so’n Traumland, weiter nichts! Kannst mir doch nicht weismachen, dass du da hinwillst. Wie solln wir ohne die Menschen leben? Menschen sind genau wie der Fluss, Baz, und wir müssen drin schwimmen.«
Wenn er so geschwollen daherredet, bleibt sie ihm die Antwort nicht lange schuldig: »Wie kommt’s dann, dass das Flusswasser Taschen hat, in die du dauernd deine Hand steckst?«, fragt sie trocken. »So’n Wasser hab ich noch nie gesehn.«
»Liegt daran, dass du keine Ahnung von nix hast. Heilige Mutter Gottes«, sagt er und verdreht dabei wie zum Gebet die Augen, »was ein Glück, dass dieses Lumpenbalg wenigstens mich hat, der sich um sie kümmert.«
Fay hätschelt ihn, nennt ihn »meine private Kapitalanlage«. Sie sagt, er werde für sie sorgen, wenn sie mal alt ist. Dabei ist Fay noch lange nicht alt, vielleicht Ende zwanzig, vielleicht auch ein bisschen älter. Baz findet, sie könnte echt hübsch aussehen. Ihre roten Haare sind völlig verwuschelt, aber sie möchte nicht, dass Baz sie für sie kämmt, und wenn sie sich mal die Mühe macht, sich zu waschen, ist ihre Haut danach makellos weiß, aber meistens macht sie sich diese Mühe erst dann, wenn sie vor lauter Staub und Schweiß anfängt zu riechen. Irgendwann hat Baz sie einmal gefragt, wieso sie keinen Wert darauf legt, hübsch zu sein. »Das hatten wir schon, Bazzie«, hat Fay geantwortet, »und so wie jetzt bin ich besser dran.«
Sie sorgt dafür, dass Baz ihr Haar immer kurz trägt, darum spürt sie nur weiche Stoppeln, wenn sie sich mit der Hand über den Kopf fährt, und wenn sie sich in einem Schaufenster betrachtet, dann sieht sie einen Jungen, der ihr entgegenblickt. Manchmal wünscht sie sich, sie könnte sich die Haare wachsen lassen und einen Rock tragen, aber sie hört auf Fay. Baz und Demi sind immer gewaschen, ihre Gesichter schimmern vor Sauberkeit, sie tragen neue Jeans und ordentliche T-Shirts. Richtig gepflegt. »Hier in der Stadt musst du immer gepflegt aussehn«, erklärt Fay. »Sonst wirst du von den Greifern geschnappt und abgeführt. Du wanderst ins Gefängnis und da ist dann Endstation.«
»Ich und Baz, wir können schneller rennen als jeder Polizist der Welt«, sagt Demi. »Wozu haben wir denn die Sneakers hier, wenn nicht zum Rennen?« Aber auch er hört auf Fay, ja er bügelt sogar seine Jeans. Schon ein paarmal haben er und Baz beobachtet, wie Kinder, noch richtig kleine Rotznasen, in einen Polizeitransporter verfrachtet wurden. Sie wissen, dass ständig Kinder verschwinden, die nicht adrett genug sind.
Wie auch immer, inzwischen findet Demi Gefallen daran, schick auszusehen. Er tut gerne großspurig und kehrt den Mann heraus. Baz sagt, er sehe aus wie eins von den Stinkehühnern, die im Barrio, wo Baz, Demi und Fay in einem alten Lagerhaus über dem ausgetrockneten Fluss wohnen, nach allem Essbaren picken. Aber Baz hat auch schon beobachtet, wie reiche Damen ihm einen Blick zuwerfen, als wäre er ein Gegenstand, den sie vielleicht mal gerne kaufen würden, wie eine ausgefallene Handtasche oder ein Paar Schuhe aus weichem Leder. Wer weiß schon, was in den Köpfen reicher Damen vorgeht? Sie verbergen die Augen hinter abweisenden schwarzen Sonnenbrillen, und man kann nie erkennen, was ein Mensch grade denkt, es sei denn, man sieht seine Augen, aber selbst dann darf man sich nicht sicher sein, denn Augen sagen nicht immer die Wahrheit. Glaubt jedenfalls Baz.
Ist Demi in großspuriger Laune, erklärt er Baz, dass er sie eines Tages, wenn sie erwachsen ist, vielleicht heiraten wird, falls sie Glück hat. Dasselbe sagt er übrigens auch zu Fay, doch die gibt ihm dann einen Klaps auf den Kopf und meint, er solle sie in Ruhe lassen. Aber lächeln tut sie trotzdem, auch wenn sie für Baz und Demi im Augenblick nicht so viel Zeit hat. Es gibt nämlich noch andere Kinder, die ihr über den Weg gelaufen sind, Kinder, die eine Bleibe suchen, die kein Zuhause haben und etwas zu essen brauchen. Fay bringt ihnen die Arbeit auf der Straße bei, zum Beispiel Schuheputzen, und wenn sie begabt sind, zeigt sie ihnen ein paar von den Tricks, die sie auch Demi und Baz gelehrt hat. Die Kinder bleiben eine Weile bei ihr – aber nur, wenn sie’s schaffen, ihren Unterhalt zu verdienen. »Ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein«, gibt sie ihnen zu verstehen. »Wohltätigkeit ist in dieser Gegend nicht angesagt. Die haben ihr Leben, wir haben unsres«, erklärt sie, und damit hat sich’s.
Señor Moro ist der König des Barrio, keiner kommt ihm in die Quere, nicht mal die Polizei. Fay sagt, dass Moro so große Hosentaschen hat, dass sogar der Polizei-Captain hineinpasst. Baz dachte lange, Moro müsse ein Riese sein, wenn er so große Hosentaschen hat. Inzwischen weiß sie, was für ein Mann das ist. Demi hat ihr einmal eine Stelle im Barrio gezeigt, die »Moros Mauer« genannt wird. Eigentlich gibt es dort nichts zu sehen. Irgendwann war es wohl mal die Außenmauer eines großen Gebäudes. Von dem Gebäude ist inzwischen nichts mehr übrig, bloß die Mauer und ringsum ein Haufen Schutt und Müll. Als Demi Baz die Stelle zeigte, standen dort ein paar Leute herum und auf dem Boden lag ein Toter. »Señor Moro hat ihn umbringen lassen«, erklärte Demi. Baz fragte ihn, warum – worauf Demi nur mit den Schultern zuckte. »So macht er’s halt.«
Mittlerweile ist Baz klug genug, sich nicht allzu auffällig für Señor Moro oder dessen Geschäfte mit Fay zu interessieren, und so schließt sie denn, wenn sie mit Fay und den anderen Kindern zusammen ist, einen Teil von sich weg und achtet darauf, zu den Kleinen nicht allzu freundlich zu sein. Wenn sie weinen, dann weinen sie eben. Jeder muss mal weinen. Wenn man auf der Straße ist, bringt einem Weinen überhaupt nichts ein. Trotzdem stellt Baz sich Fragen. So manche Gedanken gehen ihr durch den Kopf, auch wenn sie sich bemüht, sie abzuwehren. Sie fragt sich, was mit den Kindern passiert, wenn sie wieder wegmüssen. Einige bleiben so lange, dass sie glaubt, Fay werde sie vielleicht dabehalten, ein paar Jungen, die Demi alles Mögliche abzugucken beginnen, sein Großtun, sein Geprotze, sein Grinsen, und die sich dabei leicht etwas zu wohl fühlen. Baz fragt sich, ob auch Raoul sich zu wohl fühlt.
Nach Baz – und Demi natürlich – ist Raoul jetzt am längsten bei Fay, über zwei Jahre. Er ist richtig gut, flink auf der Straße, und alle mögen ihn. Er trägt stets ein großes Lächeln zur Schau, und Baz glaubt, dass er auch ein großes Herz hat. Immer ist er für die übrigen Mitglieder der Bande da, selbst für die Kleinsten, die Fay herbeischleppt. Aber er hat auch ein großes Mundwerk, und manchmal weist Fay ihn scharf zurecht und schneidet ihm das Wort ab, wenn es zu viel wird.
Baz geht hinüber zur schattigen Straßenseite und kauft sich eine Cola. Sie betastet die Geldbörse, die Demi ihr zugesteckt hat und die nun hinterm Bund ihrer Jeans klemmt. Feines Leder, doch Fay sagt, sie sollen nur das Geld mitbringen. »Sobald du das Geld in der Hand hast, ist es deins, aber das Portmonee gehört immer jemandem. Wenn man’s bei dir findet, komm bloß nicht zu mir gerannt und schrei um Hilfe.« Baz verdrückt sich in eine ruhige Seitenstraße. Im Nu hat sie das Portmonee geleert – die Scheine verstaut sie im Schuh, die Münzen in der Hosentasche – und sich wieder unter die Passanten gemischt.
Dann sieht sie Demi auf der anderen Straßenseite vor einem Zeitungskiosk stehen. Er schaut sich die Zeitschriften an. Der Kioskbesitzer beobachtet ihn – Kioskbesitzer sind immer auf der Lauer, wenn Kinder oder Jugendliche vor ihrem Kiosk stehen, ganz gleich, ob sie gepflegt aussehen oder nicht. Wer einen Stand auf der Straße hat, hält jedes Kind für einen Dieb. Wahrscheinlich sogar zu Recht. Aber Baz bemerkt noch eine andere Person, einen jungen Mann mit bleichem Gesicht und blonden Locken, der Demi ebenfalls zu beobachten scheint. »Könnte reich sein«, überlegt sie, das Aufblitzen von Silber an seinem Handgelenk ist ihr nicht entgangen. Er steht einfach nur da und raucht eine Zigarette. Vielleicht wartet er auf jemanden.
Demi erhascht ihren Blick, und Baz weiß, dass er sich nun gleich zum Stadtzentrum aufmachen will. Sie nimmt noch einen Schluck von ihrer Cola und wirft dann die Dose direkt vor der Nase eines Polizisten in eine Mülltonne. Der Polizist hat ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, die Augen sind hinter einer dunklen Brille verborgen. Baz kehrt ihm den Rücken zu und zieht los. Während sie die Straße entlanggeht, wirft sie kaum einen Blick hinüber zu Demi, bleibt ihm aber wie ein Schatten immer auf den Fersen.
Wie sie es gelernt hat, beobachtet sie ihre Umgebung genau und hat dabei ständig ein Auge auf die weit geöffnete Einkaufstasche oder die dicke Brieftasche, die geradezu darum bettelt, aus der offenen Hosentasche gezogen zu werden. Es juckt sie in den Fingern, als sie einen Mann sieht, der ein ganzes Bündel Banknoten in der Hand hält, einen einzelnen Schein hervorpult, sich eine Zigarre kauft und dann das dicke Bündel wieder in die Gesäßtasche steckt. Ein richtiger Fettwanst mit watschelndem Gang und großen Schwitzflecken unter der Baumwolljacke. Wär ganz leicht, denkt Baz, geht dem Mann aber trotzdem nicht hinterher. Heute ist sie nur Beobachter, ihre Aufgabe besteht darin, dem Dieb Deckung zu geben. Demi würde toben vor Wut, wenn sie nebenbei noch in Taschen langt, anstatt auf ihn aufzupassen. Schlagen würde er sie deswegen allerdings nicht, das hat er noch nie getan – anders als Fay. Fay behauptet, wer Schläge kriegt, lernt schnell.
Baz und Demi haben ihr ganzes Leben lang schnell gelernt. Sonst hätte Fay sie nicht bei sich behalten, das weiß Baz ganz genau. Keine Fehler. Niemals. »Wenn ihr einen Fehler macht«, sagt Fay, »dann bin ich diejenige, die sie drankriegen. Sobald das passiert, ist keiner mehr sicher. Jeder, den ich kenne«, und sie meint damit nicht nur die Kinder, Baz vermutet, dass auch all die zwielichtigen Leute gemeint sind, mit denen Fay ihre Geschäfte macht, »jeder Name kommt aufs Tablett und jeder wandert ins Schloss. Und da ist dann Endstation.« Ins Schloss will keiner wandern. Das Schloss ist das städtische Gefängnis.
Baz erinnert sich nur dunkel und bruchstückhaft an das erste Mal, als sie allein war. Es war Abend, die ganze Zeit herrschte Lärm, Lichter huschten vorüber, vielleicht Autos, auch bunte Lichter waren dabei. Jemand zog sie ständig an der Hand, und ihre Beine waren so müde, dass sie kaum Schritt halten konnte. Sie kann sich kein Bild mehr machen von der Person, die sie damals bei der Hand hielt. Wahrscheinlich war’s eine Frau, vielleicht ihre Mutter, sie weiß es nicht mehr. Sie weiß nur noch, dass sie ununterbrochen weiterging, bis der Lärm nachließ, es aber dafür so dunkel wurde, dass sie nicht mal mehr ihre Füße sehen konnte. Sie fing an zu weinen und wollte hochgenommen werden, aber die Person, die sie an der Hand hielt, zerrte sie einfach mit sich fort, immer weiter voran.
Baz erinnert sich, dass sie irgendwann die Hand wegzog, weil sie einfach nicht mehr weitergehen wollte. Vielleicht blieb die Frau stehen und sagte etwas zu ihr, vielleicht auch nicht. Sie erinnert sich jedenfalls, dass sich die dunkle Gestalt dann entfernte, ein wenig gebückt, als würde sie etwas tragen. Baz fragt sich manchmal, ob die Person ein kleines Baby im anderen Arm hatte und ob das der Grund war, warum sie Baz nicht hochnehmen wollte. Vielleicht war sie auch krank, oder vielleicht wollte sie einfach kein ständig quengelndes Kind an der Hand hängen haben; vielleicht hielt sie es für besser, Baz gehen zu lassen und sich nicht darum zu kümmern, was mit ihr passierte. So allein im Dunkeln.
Baz bemüht sich, nicht an diese Frau zu denken, macht sich aber trotzdem Gedanken über sie und stellt sich vor, dass sie, wenn sie ihr einmal begegnen sollte, sie fragen würde, warum sie damals ihre Hand losgelassen hat. Baz ist der Meinung, dass jemand, der das Glück hat, eine Familie, eine echte Familie, zu haben, nicht einfach die Hand loslässt, die sich an ihm festhält. Jeder Dummkopf weiß doch, dass Familie das Kostbarste überhaupt ist.
Es war am Morgen darauf, als Demi sie eng zusammengerollt und fest schlafend auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Marktes fand. Als er auf sie zugegangen wäre, erzählte er, hätte direkt neben ihr ein Hund zu knurren begonnen. Dieser Teil der Geschichte hat Baz schon immer gefallen. Es wäre gewesen, so Demi, als hätte der Hund sie für sein Junges gehalten, aber er, Demi, hätte ihn trotzdem weggescheucht. Baz muss oft an diesen Hund denken – vielleicht würde sie ihn eines Tages finden, obwohl sie natürlich weiß, dass er inzwischen ziemlich alt wäre. Aber sie stellt sich vor, wie sie sich um ihn kümmern und ihm in Milch aufgeweichtes Brot geben würde, weil er wahrscheinlich keine Zähne mehr hätte.
Sie weiß noch, wie sie aufwachte und Demi, die Sonne direkt im Rücken, auf sie herabblicken sah und wie sie ihn nach seinem Namen fragte.
»Demi«, antwortete er. »Hast du auch ’n Namen?«
Sie erinnert sich an das leere Gefühl in der Magengrube, an ihren Hunger und an ihre Panik, weil sie überhaupt nicht wusste, was los war, und wahrscheinlich hätte sie wieder angefangen zu weinen, wenn dieses schattenhafte Gesicht über ihr nicht gelacht hätte. Das Lachen ließ sie an Sonnenschein denken, und da fühlte sie sich sofort wohler. »Wieso heißt’n du Demi?«, fragte sie ihn.
»Weißt du denn gar nix?«, fragte er zurück. »Demi bedeutet ›halb‹, weil ich erst halb erwachsen bin. Wenn ich mal groß bin, werd ich ein Riese sein.« Sie kann sich erinnern, wie er das sagte und dass sie ihm glaubte, weil er damals so viel größer war als sie. Mittlerweile hat sie einiges aufgeholt, und auch wenn er sich noch so aufplustert und große Reden schwingt, rechnet sie nicht mehr damit, dass Demi jemals ein Riese sein wird.
Er brachte sie zu seiner und Fays Unterkunft, einer Bretterbude mit Dach und einem nicht befestigten Fußboden. Der Weg dorthin zog sich in die Länge, aber Demi redete die ganze Zeit, und dann stand Fay in der Tür, nahm Baz in Empfang und umarmte sie, als hätte sie sie schon ein Leben lang vermisst, und sie wischte ihr das Gesicht ab, gab ihr gleich an Ort und Stelle ihren Namen, und was zu essen hatte sie auch, also hockten sie zu dritt auf dem Fußboden und aßen zusammen, und so wurden sie denn zu einer Art Familie. Fay sah damals viel jünger und hübscher aus, wirkte auch weicher. Männer kamen und gingen mit ihr aus, und sie brachte den beiden Kindern bei, wie man Dinge mitgehen lässt, ohne dass es jemand merkt.
Schon bald darauf gingen Demi und Baz zusammen auf Tour, aber erst einmal keine Diebstähle in den vornehmen Vierteln, sondern kleinere Sachen: Mal putzten sie Schuhe, mal gingen sie auf den Markt und ließen an einem Stand ein Stück Obst mitgehen, oder sie schauten so verloren drein, dass ihnen hin und wieder jemand ein Geldstück zusteckte. Irgendwann verlegten sie sich darauf, in fremde Taschen zu greifen. Da mussten sie lernen zu rennen.
Inzwischen haben sie längere Beine und sind viel schneller geworden. Sie sind ein gutes Team, jeder weiß meist schon im Voraus, was der andere vorhat. Baz weiß, wohin Demi sich jetzt aufmachen wird, nämlich zu der Straße mit den supereleganten Geschäften, wo die Türen im Vorbeigehen wie von Zauberhand aufschwingen und man plötzlich das Zittern kriegt, weil die herausströmende Luft so kalt ist wie Hexenatem. Wirklich wahr. Und in diesen Läden gibt es mehr Schmuck, als man sich vorstellen kann, aber wenn man nicht aussieht wie jemand, dem das Geld aus den Taschen quillt, kann man nicht mal ins Schaufenster blicken, ohne dass einem irgendein Wachmann über die Schulter atmet.
Demi wartet jetzt an der Ecke. Baz geht hinüber auf seine Straßenseite, bleibt dann aber ungefähr zwanzig Schritte von ihm entfernt stehen, direkt an der Mündung einer schmalen Gasse. Sie weiß, er hofft auf eine glückliche Gelegenheit; vielleicht kann er sich ein Päckchen mit einem kostbaren Schmuckstück drin schnappen.
Die beiden warten.
Hin und wieder fahren Taxis vor, reiche Männer und Frauen steigen ein. Die Päckchen hängen an ihnen wie exotische Früchte.
Sie warten.
Fünf Minuten. Baz ist kribbelig. Es dauert schon zu lange. Eben hat sie einen Streifenwagen ganz langsam vorbeifahren sehen. Sie tritt zurück in den Schatten, ist sich aber sicher, dass Demi auffallen wird – auch wenn er gut aussieht, gehört er einfach nicht hierher. Kinder kommen normalerweise nicht in diesen Stadtteil, jedenfalls nicht allein.
Dann passiert es.