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Als Baz die Frau mit dem großen
gelben Hut, dem eng anliegenden Rock und den goldenen Armreifen am
Handgelenk aus dem Geschäft kommen sieht, weiß sie sofort, dass das
die Gelegenheit ist, auf die Demi gewartet hat. Die Frau trägt in
der einen Hand ein paar schicke Tragetaschen, in der anderen eine
kleine Schachtel. Im Schlepptau hat sie ein niedliches kleines
Mädchen mit niedlichen flachsfarbenen Haaren, das an einem
Wassereis leckt und auf die Frau einplappert. Doch die hat im
Moment nur Augen für ihre Schachtel. Ein Diamant, überlegt Baz.
Vielleicht auch eine Perle.
Wenn Demi zuschlagen will, dann
muss er es jetzt tun, in den paar Sekunden zwischen der Ladentür
und dem Bordstein.
Baz beobachtet, wie die Frau mit
dem gelben Hut die kleine Schachtel in eine Umhängetasche steckt,
die sie sich unter den Arm geklemmt hat, und ein Taxi herbeiwinkt.
Die Tür des Taxis schwingt auf, und als die Frau sich mitsamt ihren
Tragetaschen und ihrer kleinen Tochter an den Passanten
vorbeibugsiert, ist Demi zur Stelle, hebt ein heruntergefallenes
Päckchen auf und reicht es der Frau, dann rückt er zur Seite, damit
sie ins Taxi steigen kann, und macht ihr die Tür zu. Als er sich
wieder zurückzieht, sieht Baz die kleine Schachtel in seiner
rechten Hand. Reine Zauberei, denkt sie.
Aber das kleine Mädchen hat etwas
gemerkt. Das Gesicht an der Wagenscheibe, ruft sie etwas und deutet
mit dem Finger nach draußen. Doch Demi ist längst auf und davon und
bahnt sich rasch einen Weg durch die Menschenmenge. Als die Frau
aus dem Taxi steigt, wie wild mit den Armen wedelt, lauthals nach
der Polizei ruft und der Wachmann aus dem Laden gelaufen kommt, ist
Demi bereits an der Gasse vorbei und Baz hat die kleine Schachtel
in der Hand. Er schaut nicht zurück, um sich zu vergewissern, dass
bei ihr alles in Ordnung ist, sondern sprintet einfach über die
Straße und springt hinten auf eine fahrende Straßenbahn auf. So
arbeiten die beiden. So hat Fay es ihnen beigebracht.
Aber das kleine Mädchen hat
scharfe Augen. Es hat genau mitgekriegt, in welche Richtung Demi
gelaufen ist und wie er an der Gasse einen Schwenk gemacht hat.
Vielleicht hat das Mädchen auch Baz gesehen, denn die hat irgendwie
das Gefühl, dass die ganze Straße zu ihr herüberschaut. Da
durchschneidet auch schon das scharfe Geräusch von Trillerpfeifen
die Luft, und jetzt wartet sie nicht mehr ab, wie es weitergeht,
sondern macht auf dem Absatz kehrt und rennt, die kleine Schachtel
fest in der Hand, so schnell sie kann, die lange, schmale Gasse
hinunter. Jetzt müsste man eine Tasche oder einen Beutel haben,
worin man die Schachtel verstecken könnte. Hat sie aber nicht. Sie
jedoch einfach wegzuwerfen, das kommt ihr gar nicht erst in den
Sinn. So etwas doch nicht. Vielleicht ist es das Kostbarste, was
sie und Demi je in die Finger bekommen haben.
»He! Du! Bleib stehen!«
Baz hat nicht die Absicht, stehen
zu bleiben. Sie ist darauf getrimmt, wie eine Ratte zu rennen,
hüpft über Abfall, über Flaschen und Dosen, und ihre Füße huschen
so leicht und flink dahin, dass die schwerfällig hinter ihr
herlaufenden Männer fast meinen, sie könne fliegen.
Dann platzt sie ins Licht der
nächsten Straße wie der Korken aus einer Flasche und prallt
gradewegs gegen den Bauch eines Polizisten, der sie fest packt in
der Erwartung, sie würde schreien und sich winden, aber stattdessen
macht sie sich auf einmal so steif wie eine Holzpuppe. Der Polizist
grunzt überrascht und lockert seinen Griff, aber da tritt sie
plötzlich nach ihm, schwingt das Bein mit Wucht nach oben und reißt
sich los. Wieder stößt der Mann ein Grunzen aus, doch diesmal
klingt es eher wie Stöhnen, denn Baz hat ihn an einer empfindlichen
Stelle getroffen. Und schon ist sie wieder auf und davon, die
Straße hinunter, mitten durch den dichten Verkehr. Sie huscht und
schlängelt sich einfach hindurch. Eine Sirene beginnt zu heulen,
doch in diesem Verkehrschaos kommt sie nicht näher. Baz hüpft über
Stoßstangen und stößt sich an Motorhauben ab. Alles brüllt und
hupt, aber es könnte sein, dass die Fahrer sich über den stockenden
Verkehr mindestens so aufregen wie über dieses rennende
Mädchen.
Baz hat Glück. Und das weiß sie.
Nirgends ist ein Motorrad oder ein Streifenwagen zu sehen, und auch
keiner der Polizeihubschrauber, von ihr und Demi »Schmeißfliegen«
genannt, brummt am Himmel. Sie kann einfach dahinrennen, sie muss
nicht keuchen und bekommt auch kein Seitenstechen, denn das Rennen
macht ihr Spaß. Sie und Demi rennen andauernd, teils zur Übung,
teils weil sie einfach gerne um die Wette laufen, und Demi hat
inzwischen reichlich Mühe, sie in Schach zu halten, denn Baz ist
verdammt schnell.
Baz hält sich an Seitenstraßen,
kurvt um einen Platz, wo es an der einen Ecke so aussieht, als
hätten sich alle Straßenbahnen hier zum Ausruhen zusammengefunden,
und läuft dann weiter. Die kleine Schachtel haftet in ihrer Hand
wie Klebstoff. Das ist der Gewinn, der glückliche Gewinn. So ist
das Leben. Mal hat man Glück, mal hat man Pech. Und wenn einem das
Glück über den Weg läuft, dann muss man schnell schalten und nicht
erst lange nachdenken, man muss das Glück packen und dann
loslaufen, schnell wie der Wind oder wie ein Messer, das durch die
dicke, stickige Luft gleitet.
Inzwischen trabt Baz nur noch. Als
sie eine Straßenbahn erspäht, die in Richtung Barrio fährt, springt
sie, wie Demi ihr beigebracht hat, hinten auf und hält sich mit
einer Hand fest. Zum ersten Mal dreht sie sich um, sieht aber bloß
Autos, Busse und Passanten, die ihren eigenen Geschäften nachgehen
und sich nicht um das Mädchen kümmern, das aussieht wie ein Junge
und sich hinten an eine Straßenbahn gehängt hat, wie es manche
Jugendliche eben gern tun.
Irgendwo wettert jetzt eine reiche
Dame gegen räuberische und nichtsnutzige Kinder, die mindestens
hinter Schloss und Riegel gehörten, aber Baz macht sich wegen ihr
keine Gedanken. Dafür denkt sie an das niedliche kleine Mädchen und
hofft, dass sie ihm eines Tages begegnet, damit sie ihm das
niedliche Gesicht in den Staub drücken kann. »Du bist schuld, dass
der Greifer mich geschnappt hat, Kleine. Pech für dich, dass ich
viel zu fix bin für den. Mich bringt so schnell keiner ins
Schloss!«
Einmal ist Demi mit Baz
losgezogen, um ihr das Schloss zu zeigen. Es liegt im dritten
Bezirk, und manche sagen, das ist der Ort, von wo die Hölle in die
Stadt kommt. Baz gibt nichts auf solches Gerede, aber die hohen
grauen Mauern und das bedrohlich aussehende Tor haben ihr überhaupt
nicht gefallen. Demi behauptet, nachts könne man das Schloss
stöhnen hören. Eines Nachts ist Baz alleine hingegangen, bloß um zu
sehen, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Sie hat kein Stöhnen
gehört, aber sie konnte fühlen, dass dieser Ort so voll von Schmerz
war, dass es ihr kalt den Rücken runterlief. Nie hat sie jemandem
erzählt, dass sie noch einmal dort war.
Baz entspannt sich und lächelt.
Sie ist frei und schaukelt auf der hinteren Querstange der
Straßenbahn. Warum soll sie sich über so ein verzogenes Balg
ärgern? Das Mädchen hat ihr ja nichts weggenommen. Anders als im
Barrio – dort versucht jeder, einem das wegzunehmen, was man
hat.
Bevor die Straßenbahn kreischend
am Agua-Platz, der Haltestelle am Rande des Barrio, einfährt,
springt Baz ab und geht auf die Marktstände zu. Zwanglos bleibt sie
stehen, bückt sich, als ob sie die Schnürsenkel zubinden wollte,
und zieht einen Geldschein aus ihrem Turnschuh. Dann kauft sie zwei
schlichte T-Shirts, eines für sich und eines für Demi, und steckt
die inzwischen ganz zerdrückte und schweißverklebte
Schmuckschachtel unauffällig in die Papiertüte, die ihr der
Standbesitzer für die T-Shirts gegeben hat. Fay wird ihr wegen dem
bisschen Geld, das sie dafür ausgegeben hat, nicht böse sein, schon
gar nicht, wenn sie sieht, was sie ihr mitgebracht haben.
Zusätzlich holt sie sich noch ein paar Tomaten und zwei Äpfel,
stopft sie obenauf in die Tüte und spaziert dann gemächlich über
den Agua-Platz.
Dieser breite, staubige Platz hat
wenig zu bieten außer Verkehr und ein paar schäbigen Läden, in
denen billige Koffer verkauft werden. In der hinteren Ecke steht
ein Brunnen, der manchmal funktioniert und manchmal auch nicht.
Dort würde Demi vielleicht auf sie warten, dachte Baz. Aber Demi
ist nirgends zu sehen. Baz macht sich deswegen keine Gedanken. Wenn
er nicht da ist, wird er wahrscheinlich im Barrio bei Mama Bali
sein, eine Cola schlürfen, Däumchen drehen und sich fragen, was für
eine Kostbarkeit in der Schachtel steckt.
Er darf ruhig ein bisschen warten
– den schweren Teil der Arbeit hat diesmal sie erledigt.
Schließlich wird man nicht jeden Tag auf diese Art und Weise gejagt
und muss dann durch die halbe Stadt rennen. Sie legt die Tüte
vorsichtig auf den Brunnenrand, schaufelt etwas von dem Schaum auf
der Wasseroberfläche beiseite und taucht beide Hände bis zum Gelenk
ein. Trotz der Hitze ist das Wasser kühl und tut ihrer Haut gut. Es
gibt noch einen anderen Grund, weshalb sie sich Zeit lässt. Die
kleinen, gewundenen Gassen, die auf dieser Seite vom Agua-Platz
abgehen, führen ins Zentrum des Barrio, und hier kommen und gehen
ständig Leute, die ihre Augen überall haben. Wenn sie sehen, dass
man es eilig hat und ein Grinsen im Gesicht trägt, wollen sie
wissen, warum. Man lässt es also besser locker angehen, ganz
gemächlich, als wäre es ein Tag wie jeder andere, glühend heiß und
sonst nichts. Heute allerdings ist es doch ein bisschen anders, und
so denkt sie an die Schachtel unter den Tomaten, überlässt sich
ihrer Fantasie und malt sich ein kleines goldenes Armband aus oder
ein Paar Ohrringe oder eine schöne Halskette mit einer
geisterfarben schimmernden Perle oder einem grünen Edelstein, einem
Smaragd ... Was immer es ist, es wird etwas sehr Schönes sein, das
weiß sie einfach, etwas so Schönes, dass Fay lächeln und dann sie
und Demi lachend umarmen wird. Das hat Fay schon sehr lange nicht
mehr getan.
Erfrischt steht sie auf, schnappt
sich die Tüte, holt einen Apfel heraus und beißt hinein. Dann
blickt sie verstohlen über die Schulter, vergewissert sich, dass
niemand ihr folgt, und betritt das Barrio. Die Straßen und Gassen
haben hier keine Namen, keine Straßenkarte zeigt einem den Weg. Wer
nicht hergehört, meidet den Ort. Wen würde es auch hierherziehen?
Das Barrio ist ein Labyrinth, ein düsterer Irrgarten voll
stinkendem Müll, offenen Abflusskanälen und baufälligen Häusern,
die so vielfach aufgeteilt sind, dass jeder kleine Winkel, sogar
das Treppenhaus, irgendeiner Familie als Quartier dient. Es gibt
hier Bretterverschläge und -käfige, einer über den anderen
geschichtet, in denen die Menschen wie Tiere in einem Zoo leben,
nur dass die Tiere im Zoo normalerweise etwas Platz haben, sich zu
bewegen. Hier nicht, dem Barrio hat man jedes bisschen Platz
ausgequetscht. Schuppen thronen auf flachen Dächern, kleine Brücken
aus Metallresten und sonstigem Schrott strecken sich vom einen
Obergeschoss hinüber zum anderen, und über die Gassen ziehen sich
Drahtgeflechte, in denen sich der Abfall verfängt. Wenn der
Sonnenschein durch so ein Geflecht dringt, dann zerfällt das Licht
in einzelne Tropfen, und das sieht, so komisch es klingt, richtig
hübsch aus.
Manchmal denkt Baz, ein Riese ist
in die Stadt gekommen und hat sich ein ganzes Viertel gepackt, das
er nicht mochte, vielleicht weil es so arm war, dass er dort nichts
zu essen auftreiben konnte, und hat alles in die Luft geworfen, und
als es dann wieder herunterfiel, war es ein einziges Kuddelmuddel
und wurde zum Barrio. Aber vor allem hat man das Gefühl, dass es
nicht genug Luft zum Atmen gibt oder Licht, um etwas zu sehen. Der
Ort ist eine Falle: Menschen von draußen ziehen ins Barrio, aber
keiner zieht wieder weg.
Baz kann sich noch daran erinnern,
wie sie von ihrer ersten Unterkunft weggezogen sind, einer
verwahrlosten Hüttensiedlung am Stadtrand. Das Leben dort war hart;
sie und Demi waren immer wieder in Schlägereien verwickelt, aber
keinem von beiden wurde dabei so übel mitgespielt wie Fay. Sie kam
eines Morgens nach Hause und war so ramponiert, dass sie kaum gehen
konnte. Baz hatte schon Angst, dass sie sterben würde, aber Demi
kümmerte sich um sie, säuberte ihr das Gesicht und wusch das Blut
und den Schmutz ab. Ihr Mund war geschwollen und das Kinn sah aus
wie eine einzige große Kugel. Gemeinsam schafften sie es, ihr die
Kleidung auszuziehen. Am ganzen Körper hatte sie blaue Flecken. Als
sie sich wieder erholt hatte, verließen die drei den Ort und zogen
ins Barrio um. Die Nachbarn, Frauen mit verschlossenen Gesichtern
und ihre Männer, standen in den düsteren Eingängen ihrer Hütten und
beobachteten ihren Abgang, ohne ein Wort zu sagen. Fay blickte stur
geradeaus, sie schritt mit erhobenem Kopf davon, hinter ihr Demi
und Baz. Fay erklärte, im Barrio seien sie geschützt. Sie kenne
dort einen Mann, Señor Moro, dem bräuchten sie bloß ein bisschen
von ihrem Geld zu geben, dann würde sie keiner anrühren. Baz’
Vermutung ist, dass wahrscheinlich jeder im Barrio an Señor Moro
Geld zahlen muss.
Baz durchquert eilig das Labyrinth
des Barrio, bis sie bei Mama Bali ankommt, einer schäbigen
Eckkneipe, deren Raum von Mama Bali selbst fast ganz ausgefüllt
wird, denn sie ist so dick wie ein Kürbis. Baz bezweifelt, dass sie
ihre Hütte je wird verlassen können, es sei denn, sie würde um die
Hälfte schrumpfen, sonst bliebe sie nämlich einfach stecken. Und
wer im Barrio stecken bleibt, dem kommt keiner zu Hilfe. Es gibt
dort nicht besonders viele warmherzige Leute, aber Mama Bali ist
trotzdem gut zu ihnen. Bereitwillig gibt sie den Kindern dies und
jenes zu trinken, versucht nicht, ihnen so viel Geld abzunehmen,
als wären sie Millionäre, und macht ihnen auch sonst keinen
Ärger.
Irgendwann behauptete sie, sie sei
früher mal Tänzerin gewesen. Daraufhin meinte Demi, wenn sie eine
Tänzerin sei, dann sei er der Präsident der Vereinigten Staaten.
Mama Bali gab zurück, wenn er so schlau sei, wie er ihr immer
erzähle, dann könne er vielleicht mal Präsident werden, aber
höchstens Präsident der Sprücheklopfer. Das fände er gar nicht so
übel, erklärte Demi, er wolle ja eh sonst nirgendwohin, das Barrio
sei seine Heimat. Mama Bali machte sich nicht die Mühe, darauf zu
antworten, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie das nicht
für besonders schlau hielt.
An ihren Wänden hängen Bilder von
Tänzern und Tänzerinnen, und in einem Punkt hat Demi recht: Keiner
von ihnen ist so dick wie Mama Bali. Die Arme der Tänzer sind
ausgestreckt wie Flügel und ihre Körper gebogen, als würden sie
schweben. Im Barrio tanzt niemand – nicht genug Platz, um auch nur
eine Katze herumzudrehen; Zeit auch nicht, keine Zeit für
irgendetwas, das nicht Essen in den Bauch oder Geld in die Tasche
bringt. Baz träumt davon, dass sie sich eines Tages ins
Landesinnere davonstehlen, wo sie ganz viel Platz haben, und
vielleicht wird sie dann mal versuchen, so zu tanzen wie die Leute
auf den Bildern.
Als Baz die Kneipe betritt, sitzt
Demi an einem der beiden Tische. Im Hinterzimmer ist Mama Bali am
Kochen, singt mit ihrer Krächzstimme vor sich hin und macht ab und
zu eine Bemerkung in Richtung Demi. Demi schiebt Baz einen Stuhl
heran. Sie spürt, dass er aufgeregt ist, aber genau wie sie lässt
er sich nichts anmerken. »Hast rennen müssen?«, fragt er, die
Stimme so weit gesenkt, dass sie praktisch über den Fußboden
kriecht.
»Der Uniformtyp hätt mich beinah
geschnappt, Demi. Die halbe Straße war hinter mir her. Weißt du,
warum? Das Mädchen hat mitgekriegt, wie du mir die Schachtel
gegeben hast.«
Demi runzelt die Stirn und zuckt
gleichzeitig mit den Schultern, so als hätte er mit der Sache
nichts zu tun, aber Baz weiß, dass er das gar nicht gerne hört. Er
hält sich für zu raffiniert und zu fix, um sich von kleinen Mädchen
ertappen zu lassen. Baz muss über seine Eitelkeit lächeln. »Wirst
wohl ’n bisschen langsam im Alter, Demi.«
»Kein Stück werd ich langsam.
Vielleicht bist du zu schnell los und da hat sie dich gesehn. Bist
halt immer zu ungeduldig.«
»Quatsch. Meinst du, ich steh
drauf, rennen zu müssen und mich von dem Typen abgreifen zu lassen,
damit er mich ins Schloss steckt? Kein Mensch hat mich gesehn und
das weißt du. Nee, Alter, du bist halt einfach nicht fix
genug.«
Demi schiebt Baz die halb
ausgetrunkene Coladose rüber und lässt sich erzählen, wie sie sich
aus dem Griff des Polizisten befreit hat – das gefällt ihm – und
wie sie mitten durch den Verkehr geflüchtet ist, »Flohhüpfen«, so
nennt sie das.
Baz bricht ihre Schilderung ab,
als ein Mann, den sie vom Sehen kennt, einer von Señor Moros
Leuten, hereinstolziert kommt, als würde die Kneipe ihm gehören,
und laut auf den Tresen klopft, um Mama Bali auf sich aufmerksam zu
machen. Die kommt auch gleich herbeigewieselt, serviert erst mal
einen Kaffee, um ihn zu beschwichtigen, und dann sieht Baz, wie sie
ihm ein paar Zwanziger übergibt. Mama Bali fürchtet sich vor
niemandem, aber um im Geschäft bleiben zu können, muss sie Señor
Moro bezahlen. Jeder muss ihn bezahlen, auch Fay.
Die Scheine zwischen Zeige- und
Mittelfinger geklemmt, schwingt sich der Mann auf dem Hocker herum
und schaut zu den Kindern hinüber. Demi schlürft seine Cola. Baz
will etwas sagen, sich ganz ungezwungen geben, aber sie kann den
Blick des Mannes spüren, als würde er sich ihr in den Nacken
brennen.
»Wie laufen die Geschäfte, Demi?«,
sagt der Mann.
»Hab nichts am Laufen.«
»Na, immerhin genug, um dir ’n
Getränk zu leisten.«
»Hab zufällig ’n Dollar
aufgegabelt«, sagt Demi. »Einfach mal Glück gehabt, sonst
nichts.«
Der Mann lacht. »Ganz zufällig«,
äfft er ihn nach. »Ein Dieb wie du gabelt wahrscheinlich ständig
Dollars auf. Wird wohl langsam Zeit, dass du anfängst den
Schattenmann zu bezahlen.«
»Alles, was wir kriegen, geht an
Fay. Sie regelt die Geschäfte.«
Der Mann geht darauf nicht ein.
»Und das kleine Schätzchen da – was hat das denn in der Tüte? Hat’s
auch einfach mal Glück gehabt?«
Er weiß natürlich nicht, was sie
in der Tüte hat. Er spielt bloß mit den beiden, aber Baz hat das
Gefühl, dass sich die Gefahr wie ein Netz um sie zusammenzieht.
Wenn er beschließt, die Tüte an sich zu nehmen, dann war’s das,
dann ist das ganze Glück wie weggeblasen, dann sind alle Chancen
vertan. Der Mann rutscht vom Hocker und tritt an den Tisch. »Na,
was ham wir denn eingekauft, Schätzchen?« Er weiß ganz gut, wie sie
heißt, will einfach ein bisschen sticheln. Ein Mann wie er, der
langweilt sich, wenn er nicht gerade Geldscheine faltet oder
jemandem Schmerzen zufügt.
Ohne aufzublicken, hält Baz ihm
die Tüte hin. »Wolln Sie den Apfel?«, fragt sie. »Hab ihn extra
aufgehoben.« Ihre Stimme schwankt nicht, ihre Hand zittert
nicht.
»Apfel«, sagt der Mann. »Adam hat
von Eva einen bekommen und auf einmal ist die ganze Welt den Bach
runter.« Er lässt sich die Frucht geben und nimmt einen saftigen
Biss. »Aber wen kümmert’s«, sagt er lachend und poltert aus der Tür
hinaus auf die Gasse. Baz beobachtet, wie er noch mal in den Apfel
beißt und ihn dann einfach wegwirft.
Baz atmet durch. Demi schaut sie
an, sein Blick ist fest. »Hast du’s noch?«
»Klar. Meine Finger lassen so
schnell nix los.«
Ein breites Grinsen legt sich auf
sein Gesicht, so plötzlich, als wäre es bis dahin von einem Damm
zurückgehalten worden. »Was meinst du, Baz? Die Frau sah ganz schön
reich aus, was?«
»Jedenfalls kauft sie keinen
Müll.«
»Fay erwartet ja nix Besonderes,
Baz. Meinst du, diesmal isses was Großes?«
Ein bisschen ist es ein Spiel, was
sie da treiben, so wie wenn man sich beim Straßenverkäufer ein paar
Lotterielose kauft, und bevor man feststellt, dass man wieder mal
nichts gewonnen hat, malt man sich aus, wie reich man jetzt ist und
in was für einem Traumhaus man in Zukunft wohnen wird.
»Fay wird dich lieben,
Demi.«
»Ja, kann schon sein. Auf geht’s,
Baz. Schaun wir mal.«
Sie stehen auf, um zu gehen, aber
vorher steckt Demi noch den Kopf durch die Tür von Mama Balis
Küche, wo diese gerade den Boden mit einem alten, schlaffen Mopp
wischt und dabei so viel Wasser verspritzt, als hätte sie davon
einen viel größeren Vorrat als die übrigen Bewohner des Barrio.
Wenn Mama nicht kocht, dann ist sie am Saubermachen. »Hey, Mama«,
sagt Demi, »bist ja tatsächlich auf Diät gewesen. Siehst dünner aus
als ’n abgemagerter Hund.«
»Meine Taille ist jedenfalls nicht
größer als dein Mundwerk.« Mama Bali gibt ihm einen Klaps. Sie mag
Demi; die meisten Leute mögen ihn, es sei denn, sie erwischen ihn
dabei, wie er ihnen in die Tasche greift, aber im Barrio gehen er
und Baz sowieso nie auf Arbeit.
Ganz in der Nähe von Mama Balis
Kneipe haben die zwei einen Geheimplatz, wo sie hingehen, wenn sie
ihre Beute begutachten wollen, bevor sie sie Fay bringen. Nachdem
sie sich vergewissert haben, dass sie keiner beobachtet, pirschen
sie sich zur Rechten von Mamas Küche einen überdachten Weg entlang,
gehen eine Treppe hoch, über einen Flur, vorbei an einem Raum
voller Männer und Frauen, die mit Würfeln und bunten Stäbchen
spielen, klettern aus einem Fenster hinaus und dann weiter zu einem
Gebilde, das fast wie eine Insel aussieht – eine mit blauen Ziegeln
bedeckte Kuppel, die aus einem Meer von Blechdächern herausragt.
Vielleicht war das einst eine Kirche oder eine Moschee – früher
mal.
Sie lehnen sich an die
Dachschräge. Baz wickelt die kleine Schachtel aus den T-Shirts und
reicht sie Demi. Er hält sie in der Hand. »Na, ham wir jetzt Glück
oder nicht, Baz?«
»Mach schon«, sagt sie
ungeduldig.
Demi öffnet den Deckel und fingert
behutsam einen Weißgoldring mit einem Edelstein, so groß wie eine
Wachsbohne, aus der Schachtel. Der Edelstein fängt das Sonnenlicht
auf; es ist, als würde er im Blau des Himmels und im noch tieferen
Blau der Dachziegel erzittern.
Baz blinzelt und macht große
Augen, Demi bläst die Backen auf. »Was für’n Klunker, Baz.«
Einen Augenblick lang hat Baz das
Gefühl, der Edelstein könne sie in sich hineinziehen, in seine Welt
der Reinheit und kühlen Bläue, aber dann machen sich wieder die
Hitze und der dichte, schweißige Geruch des Barrio bemerkbar. »Sind
wir jetzt reich?«, fragt sie und sieht flüchtig die ländliche
Gegend vor sich, von der sie träumt. »Vielleicht bringt uns das von
hier fort, Demi. Was meinst du? Wär das möglich?«
»Vielleicht. Kann schon sein. Eins
ist jedenfalls sicher: Fay wird das Ding gefallen.«
»Der gefällt alles, was mit Geld
zu tun hat«, sagt Baz unverblümt.
»Raoul wird garantiert neidisch,
weil wir so gut waren.«
Baz hat Raoul ganz gern. Er ist
ein bisschen jünger als Demi, gibt sich aber immer mächtig Mühe,
besser zu sein als er. Keine Chance jedoch, dass er das schafft;
dazu ist er noch zu langsam. Und zu dick, obwohl keins von den
Kindern besonders viel zu essen kriegt. »Du spuckst einfach zu
große Töne, Raoul«, sagt Fay. »Pass bloß auf, dass dein Geplapper
nicht in falsche Ohren kommt. Lass dir da mal von Baz ’n Tipp
geben. Die ist so still wie ’n Safe von innen. Die behält ihre
Geheimnisse für sich. Mach’s wie sie, Raoul, dann bist du auf der
sicheren Seite.« Stimmt. In Fays Gegenwart verhält sich Baz immer
still, sie spricht nicht viel, höchstens vielleicht mit Demi. Raoul
schwört hoch und heilig, dass auch er den Mund halten kann, aber
Baz weiß, ein Junge wie er muss besonders gut aufpassen – ein
Gesicht, das immer lächelt, fällt einfach zu sehr auf.
Demi steckt den Ring weg. Die
beiden machen sich auf den Weg durchs Barrio, bleiben dabei, so
lange es geht, auf den Dächern und halten sich in Richtung Fluss.
Erst in der Nähe ihrer Unterkunft müssen sie von den Dächern
herunter und sich durch Gassen quälen, die immer enger werden und
wie Schlangen ineinandergewunden sind. Sie überqueren einen
breiten, ausgetrockneten Graben, in dem lauter Fliegen summen. Das
sind jetzt heimatliche Gefilde. In diesem Graben floss früher noch
Wasser und trug allerlei Unrat und Abfall von den Großmärkten in
Richtung Fluss. Als Baz und Demi kleiner waren, erforschten sie den
ganzen Weg entlang des Grabens und zwängten sich dabei in die
Abflussrohre, die zu den leer stehenden Gebäuden führten. Nicht zu
glauben, dass sie so etwas Bescheuertes gemacht haben;
wahrscheinlich war es bloß eine Mutprobe. Inzwischen hält das Leben
genug Mutproben bereit, denkt Baz, auch ohne dass man wie eine
Ratte durchs Abflussrohr kriecht.
Als sie den Graben hinter sich
haben, gelangen sie zu einem alten, baufälligen Lagerhaus – das ist
ihr Zuhause. Das Gebäude sitzt teilweise auf verfaulten
Holzpfeilern und neigt sich in einem völlig verrückten Winkel über
das Flussbett, so als würde es jeden Moment abstürzen. Baz macht
sich darüber keine Gedanken. Das Haus sieht noch genauso aus wie
vor über sechs Jahren, als sie, Demi und Fay hierherzogen.
Um ihre Ankunft anzukündigen,
ziehen die zwei an der Klingelstrippe, steigen die Treppe hinauf
zum unteren Stockwerk, gehen geduckt durch einen kleinen Eingang
und erklimmen eine provisorische Leiter. Schließlich stehen sie in
einem dunklen, stickigen Flur, direkt vor Fays Bude.
Aber die Tür ist zu.
Baz packt Demi am Arm und hält ihn
zurück, damit er nicht einfach hineinplatzt. Die Glocke hat
geläutet, Fay müsste also an der Tür sein oder – falls sie
beschäftigt ist – wenigstens eines der Kinder.
»Was soll’n der Quatsch, Baz?«
Seine Stimme ist ein Zischen in der Dunkelheit.
»Wahrscheinlich ist sie
beschäftigt.«
»Ha, wenn sie sieht, was wir
dabeihaben, ist sie erst mal mit uns beschäftigt.«