8

Gleich am nächsten Morgen trieb Fay sie hinaus mit der Aufgabe, sich den Markt vorzunehmen. Sie wollte nicht über Moro sprechen, bekam fast einen Wutanfall, als sie nach Raoul fragten, und als sie um die Mittagszeit mit einem Bündel schmuddeliger Dollarscheine zurückkehrten, die sie mal hier aus einem Portmonee, mal dort aus einer Tasche gezogen hatten, nahm sie ihnen das Geld ab und beklagte sich, sie seien faul und träge geworden. »Miguel kassiert mehr ein als du, Demi. Was ist los? Biste plötzlich langsam geworden?«
Sie schickte sie sofort wieder los. Gab ihnen Anweisung, das Geschäftsviertel zu bearbeiten. Sie gehorchten. Sie nahmen sich jede einzelne Straße vor, bald hundert Kilometer müssen es gewesen sein, die sie gelaufen sind – so jedenfalls kam es Baz vor –, und trotzdem bekamen sie kaum genug zusammen, um die Rückfahrt mit der Straßenbahn zu bezahlen.
»Glaubst du, dass Señor Moro Raoul in der Bar behält und ihn da arbeiten lässt, vielleicht, dass er irgendwelche Besorgungen machen soll oder so?« Sie hatten es den ganzen Tag vermieden, über ihn zu sprechen.
Demi studierte die Laschen seiner Turnschuhe, als seien die etwas ganz Besonderes. »Baz, wozu soll er das machen? Er hat ihn schnurstracks auf’n Berg geschickt, schätz ich.«
Zurück in der Bude warf Fay nur einen kurzen Blick auf die kläglichen Geldbündel, die Demi auf den Tisch legte, und schickte sie gleich wieder nach draußen. »Hab ’ne geschäftliche Verabredung und ihr beide fallt mir auf die Nerven. Baz, geh und kauf was zu essen ein.« Sie gab ihr ein paar Dollarscheine, die sie aus einem der Bündel pflückte. »Kein Fleisch – nur Brot und Bohnen, das reicht.«
Jetzt sitzen Baz und Demi draußen auf den Eingangsstufen zum Lagerhaus, mitten in der drückenden Nachmittagshitze. Sie hat die Arme um die Knie geschlungen. Demis Stirn liegt in Falten, während er immer wieder Steine zum verschlammten Ufer hinunterwirft. »Warum läuft alles aus’m Ruder, Baz? Wieso schlägt Señor Moro seine Krallen in Fay rein, kommt mit seinen Gorillas in die Wohnung geplatzt, droht ihr und bläst seinen Rauch in die Gegend? Und dann solln wir dies tun und solln das tun, und man weiß gar nicht mehr, woran man ist.«
»Sie hat ihm Raoul gegeben.«
»Vielleicht war das richtig so. Vielleicht hat Raoul geredet.« Als eine Ratte die Nase aus dem Abfall unter dem Lagerhaus steckt, schleudert Demi mit aller Kraft einen Stein nach ihr. Er trifft die Ratte sogar, doch großen Schaden nimmt sie nicht, sondern flitzt nur wieder zurück in den Schatten. »Ich sag nicht, dass er uns verraten wollte, Baz, aber vielleicht hat ihn Moro zum Reden gebracht, vielleicht hat dieser Onkel Toni ihn ’n bisschen in die Mangel genommen. Da kommt keiner gegen an, wenn sie einen dazu bringen wollen, ein bisschen mehr auszuspucken, als man sollte, Raoul nicht, du nicht und vielleicht nicht mal ich.«
»Das glaubst du nicht im Ernst, dass das richtig von ihr war! Du glaubst nicht im Ernst, dass Raoul irgendwas sagen würde, was uns in Schwierigkeiten bringt! Wie kannst du so was nur denken? Du kennst Raoul!«
»Wie hat er die Uniformierten im Bahnhof abgeschüttelt? Du hast gesehn, wie sie ihn geschnappt haben.«
»Hat eben Glück gehabt. Wie oft ham wir schon Glück gehabt und sind den Greifern entwischt.«
Sie sieht ihm zu, wie er einen weiteren Stein wirft. Nach einer Weile sagt sie: »Sie hat ihm zugelächelt, Demi, und gesagt, ’s wär alles in Ordnung, und gleich danach übergibt sie ihn an Señor Moro. Glaubst du, dass sie irgendwann mal mit uns das Gleiche macht?«
»Warum sagst du so was? Du und ich, wir sind alles, was sie hat.«
»Wir sind ihr egal, Demi. Alles, was sie interessiert, ist Geld.« Sie schaukelt ein wenig, während sie die Knie umschlungen hält. »Wen wird sie als Nächstes wegschicken, Demi? Zuckst du auch mit den Schultern, wenn sie mich zur Slow Bar schickt?«
»Fay schickt dich und mich nirgendwohin, wo wir nicht hinwolln. Wir sind wie ’ne Familie, Baz.«
»Raoul ist auch Familie.«
»Fast.«
»Raoul war Familie. Bis gestern. Jetzt ist Raoul gar nichts mehr, wenn wir nicht irgendwas unternehmen.« Sie steht auf.
Demi schleudert einen Stein, so weit er kann, zu dem ausgetrockneten Fluss hinaus, beobachtet, wie er in den Schlamm fällt und ihn ein wenig aufspritzen lässt. »Glaubst du, wir können da einfach auf’n Berg spaziern und ihn mitnehmen? Willst du mir das erzähln? Dann spinnst du total.«
»Nein. Hast schon mal mit Lucien drüber geredet, wie er da rausgekommen ist?«
»Nee.«
»Das isses, was wir machen«, sagt sie entschieden. »Wir lassen uns von Lucien erzähln, wie schlimm der Berg ist. Er soll uns sagen, wie wir reinkommen und wie wir wieder rauskommen. Bisher kennen wir nur die Geschichten, die Fay den Kleinen erzählt, dass sie davon schlecht träumen und alles tun, was sie ihnen sagt. Dieselben Geschichten, die sie auch uns erzählt hat. Jetzt gucken wir mal, wie’s wirklich ist.«
Er erhebt sich. »Und wenn wir das machen, dann hörst du auf, rumzumosern und die ganze Zeit dein mürrisches Gesicht zu ziehn.«
»Hab nur das eine Gesicht, Demi.«
Er schüttelt den Kopf und grinst. »Du bist so ziemlich das Seltsamste, was im Barrio rumläuft. Falls hier je ein Museum aufgemacht wird, stelln sie dich sofort da rein.« Er klopft sich die Hände an seiner Jeans ab. »Also, gehn wir Lucien suchen.«
Lucien ist da, wo er immer ist, beim Brunnen, wo er Mama Bali dabei hilft, Waschwasser zu schöpfen. »Seid wieder einer weniger, hab ich gesehn, Baz«, sagt er mit seiner sanften, halb flüsternden Stimme.
Mama Bali streckt ihren Rücken und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Kümmer dich um deinen Kram, Lucien, dann rückt dir auch keiner auf die Pelle«, sagt sie, sieht aber Demi und Baz neugierig an. »Habt ihr Probleme?«
»Jeder hat so seine Probleme, Mama. Wir ham nur ein paar Fragen an Lucien.« Demi wirft erst Baz einen Blick zu und sieht sich dann über die Schulter um, als hätte er das Gefühl, dass Fay ihn gerade in diesem Moment beobachtet.
»Raoul ist auf’n Berg gebracht worden«, sagt Baz geradeheraus. »Jeder weiß, dass es ein schlimmer Ort ist, also sollst du uns erzähln, wie wir ihn da wegkriegen. Du kannst uns sagen, was man tun muss.«
Mama bläst die Backen auf, als sei sie ein riesiger Ballonaffe. »Der Berg?«, sagt sie. »Zeig deine Narben, Lucien.«
Zögernd zieht Lucien das Bein seiner Trainingshose hoch – Wade und Schienbein sind mit alten Schnitt- und Risswunden übersät. »Hab Glück gehabt«, sagt er. »Bin so krank geworden, dass meine Mutter mich an die Straße gelegt hat. Sie dachte, dass einer von den Fahrern mich in die Stadt bringen würde, ins Krankenhaus. Stattdessen bin ich hierhergekommen. Die Krankheit ging irgendwann wieder weg.« Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelt Baz zu. »Jetzt schleppt Lucien Eimer, weil, das ist viel, viel besser, als in der Erde zu wühln wie ’n Huhn. Oder ’ne Ratte.«
»Man kann also rein und wieder raus?«
»Damals. Damals vor zehn Jahren. Jetzt wird der Berg als Geschäft geführt. Señor Moro. Zäune und Stacheldraht rundherum. Wächter auch. Wie ’n Gefängnis ist das jetzt: kommt keiner mehr weg. Nur arbeiten und sterben. Weiß nicht, wie du reinkommst, Baz – Draht zerschneiden vielleicht, aber ich würd dir raten, lieber so weit wie möglich davon wegzubleiben.«
»Er hat ’ne ehrliche Arbeit.« Mama hat beide Hände auf die breiten Hüften gestützt, das Gesicht glänzt in der Hitze. »Das ist was, wo ihr beide nicht so viel von versteht. Hier, ihr könnt mal Lucien und mir helfen, diese Eimer zu mir zu tragen.«
Demi stopft die Hände in die Hosentaschen und wirft sich in die Brust. »Meine Hände sind zu kostbar für deine alten Eimer.«
Sie lächelt. »An dir ist nix Kostbares dran, Demi.« Worauf sie einen der Eimer aufnimmt und sich mit Lucien zusammen auf den Weg macht.
»Puuh! Dreckiges Wasser schleppen! Als Nächstes will sie, dass ich ihre Vordertreppe putze!« Aber als Baz schweigend einen der verbliebenen Eimer aufhebt, schnappt er sich den anderen und die beiden folgen Mama und Lucien zurück zu ihrer Kneipe.
Sie bedankt sich und gibt ihnen eiskalten Saft in hohen, kalten Gläsern, während sie Lucien einen Teller mit kalten Bohnen und Schweinefleisch hinstellt. Er isst zurückhaltend und bedächtig, nicht wie die Jungen in der Bude, die ihr Essen wie hungrige Wölfe hinunterschlingen, aber er ist schließlich auch älter, und er hat eine sanfte Art, die man im Barrio sonst nicht antrifft. Jedenfalls ist er furchtbar dünn; vermutlich würde er sich einfach in Nichts auflösen, wenn Mama Bali ihm nicht jeden Tag eine Mahlzeit gäbe.
»Danke, dass du uns vom Berg erzählt hast, Lucien«, sagt Baz, und er lächelt ihr zu, wobei er die Hand vor den Mund hält, um seine schiefen und kaputten Zähne zu verbergen. Dann senkt er den Kopf über sein Essen. »Was ist mit deiner Familie passiert?«, fragt sie, nachdem sie ihm für eine Weile zugesehen hat. Aber diesmal blickt er nicht auf und lächelt auch nicht, sondern isst nur einfach langsam weiter.
»Vielleicht solltet ihr zwei mal überlegen, ob ihr euch nicht ’ne ehrliche Arbeit besorgen wollt«, sagt Mama Bali, als sie sich verabschieden. »Da handelt man sich keinen Ärger ein.«
»Ich handel mir auch so keinen Ärger ein, Mama«, antwortet Demi, aber später, auf dem Rückweg zur Bude, sagt er: »Ehrliche Arbeit, was ist ehrliche Arbeit? Ehrliche Arbeit kann dich auf’n Berg bringen, aber wenn du die Klappe zu weit aufreißt, kommst du auch auf’n Berg. So ziemlich das Einzige, was dich und mich davor schützt, dahinzukommen, Baz, ist, ’n guter Dieb zu sein.« Er lässt seine Finger unter ihrer Nase zappeln, sodass sie den Kopf wegbiegen muss. »Das hier sind meine magischen Kräfte.«
»Ja«, sagt sie, »du solltest deine magischen Kräfte dafür benutzen, Raoul von diesem Horrorberg wegzuholen.«
»Morgen. Morgen lassen wir uns über die Brücke fahrn. Kein Thema. Wir finden ihn und holn ihn da raus. Ist wahrscheinlich meine erste ehrliche Aktion überhaupt. Achte mal drauf – ich werd der reinste Affenmensch sein.« Und er wackelt noch einmal mit den Fingern und hüpft so lange auf und ab, bis sie lächeln muss. Dann stößt er einen Jauchzer aus, macht einige Drehsprünge gegen die Mauer entlang der Gasse und stellt überhaupt lauter Faxen an mit den Leuten, die ihnen auf dem Rückweg zur Bude entgegenkommen. Manchmal gibt einem Demi das Gefühl, er sei der König der Welt. Aber Lucien hat gesagt, der Berg wäre mehr ein Gefängnis als irgendwas sonst. Und um Raoul aus einem Gefängnis klauen zu können, müssen sie wirklich die besten Diebe der Stadt sein.