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Gleich am nächsten Morgen trieb
Fay sie hinaus mit der Aufgabe, sich den Markt vorzunehmen. Sie
wollte nicht über Moro sprechen, bekam fast einen Wutanfall, als
sie nach Raoul fragten, und als sie um die Mittagszeit mit einem
Bündel schmuddeliger Dollarscheine zurückkehrten, die sie mal hier
aus einem Portmonee, mal dort aus einer Tasche gezogen hatten, nahm
sie ihnen das Geld ab und beklagte sich, sie seien faul und träge
geworden. »Miguel kassiert mehr ein als du, Demi. Was ist los?
Biste plötzlich langsam geworden?«
Sie schickte sie sofort wieder
los. Gab ihnen Anweisung, das Geschäftsviertel zu bearbeiten. Sie
gehorchten. Sie nahmen sich jede einzelne Straße vor, bald hundert
Kilometer müssen es gewesen sein, die sie gelaufen sind – so
jedenfalls kam es Baz vor –, und trotzdem bekamen sie kaum genug
zusammen, um die Rückfahrt mit der Straßenbahn zu bezahlen.
»Glaubst du, dass Señor Moro Raoul
in der Bar behält und ihn da arbeiten lässt, vielleicht, dass er
irgendwelche Besorgungen machen soll oder so?« Sie hatten es den
ganzen Tag vermieden, über ihn zu sprechen.
Demi studierte die Laschen seiner
Turnschuhe, als seien die etwas ganz Besonderes. »Baz, wozu soll er
das machen? Er hat ihn schnurstracks auf’n Berg geschickt, schätz
ich.«
Zurück in der Bude warf Fay nur
einen kurzen Blick auf die kläglichen Geldbündel, die Demi auf den
Tisch legte, und schickte sie gleich wieder nach draußen. »Hab ’ne
geschäftliche Verabredung und ihr beide fallt mir auf die Nerven.
Baz, geh und kauf was zu essen ein.« Sie gab ihr ein paar
Dollarscheine, die sie aus einem der Bündel pflückte. »Kein Fleisch
– nur Brot und Bohnen, das reicht.«
Jetzt sitzen Baz und Demi
draußen auf den Eingangsstufen zum Lagerhaus, mitten in der
drückenden Nachmittagshitze. Sie hat die Arme um die Knie
geschlungen. Demis Stirn liegt in Falten, während er immer wieder
Steine zum verschlammten Ufer hinunterwirft. »Warum läuft alles
aus’m Ruder, Baz? Wieso schlägt Señor Moro seine Krallen in Fay
rein, kommt mit seinen Gorillas in die Wohnung geplatzt, droht ihr
und bläst seinen Rauch in die Gegend? Und dann solln wir dies tun
und solln das tun, und man weiß gar nicht mehr, woran man
ist.«
»Sie hat ihm Raoul gegeben.«
»Vielleicht war das richtig so.
Vielleicht hat Raoul geredet.« Als eine Ratte die Nase aus dem
Abfall unter dem Lagerhaus steckt, schleudert Demi mit aller Kraft
einen Stein nach ihr. Er trifft die Ratte sogar, doch großen
Schaden nimmt sie nicht, sondern flitzt nur wieder zurück in den
Schatten. »Ich sag nicht, dass er uns verraten wollte, Baz, aber
vielleicht hat ihn Moro zum Reden gebracht, vielleicht hat dieser
Onkel Toni ihn ’n bisschen in die Mangel genommen. Da kommt keiner
gegen an, wenn sie einen dazu bringen wollen, ein bisschen mehr
auszuspucken, als man sollte, Raoul nicht, du nicht und vielleicht
nicht mal ich.«
»Das glaubst du nicht im Ernst,
dass das richtig von ihr war! Du glaubst nicht im Ernst, dass Raoul
irgendwas sagen würde, was uns in Schwierigkeiten bringt! Wie
kannst du so was nur denken? Du kennst Raoul!«
»Wie hat er die Uniformierten im
Bahnhof abgeschüttelt? Du hast gesehn, wie sie ihn geschnappt
haben.«
»Hat eben Glück gehabt. Wie oft
ham wir schon Glück gehabt und sind den Greifern entwischt.«
Sie sieht ihm zu, wie er einen
weiteren Stein wirft. Nach einer Weile sagt sie: »Sie hat ihm
zugelächelt, Demi, und gesagt, ’s wär alles in Ordnung, und gleich
danach übergibt sie ihn an Señor Moro. Glaubst du, dass sie
irgendwann mal mit uns das Gleiche macht?«
»Warum sagst du so was? Du und
ich, wir sind alles, was sie hat.«
»Wir sind ihr egal, Demi. Alles,
was sie interessiert, ist Geld.« Sie schaukelt ein wenig, während
sie die Knie umschlungen hält. »Wen wird sie als Nächstes
wegschicken, Demi? Zuckst du auch mit den Schultern, wenn sie mich
zur Slow Bar schickt?«
»Fay schickt dich und mich
nirgendwohin, wo wir nicht hinwolln. Wir sind wie ’ne Familie,
Baz.«
»Raoul ist auch Familie.«
»Fast.«
»Raoul war Familie. Bis gestern.
Jetzt ist Raoul gar nichts mehr, wenn wir nicht irgendwas
unternehmen.« Sie steht auf.
Demi schleudert einen Stein, so
weit er kann, zu dem ausgetrockneten Fluss hinaus, beobachtet, wie
er in den Schlamm fällt und ihn ein wenig aufspritzen lässt.
»Glaubst du, wir können da einfach auf’n Berg spaziern und ihn
mitnehmen? Willst du mir das erzähln? Dann spinnst du total.«
»Nein. Hast schon mal mit Lucien
drüber geredet, wie er da rausgekommen ist?«
»Nee.«
»Das isses, was wir machen«, sagt
sie entschieden. »Wir lassen uns von Lucien erzähln, wie schlimm
der Berg ist. Er soll uns sagen, wie wir reinkommen und wie wir
wieder rauskommen. Bisher kennen wir nur die Geschichten, die Fay
den Kleinen erzählt, dass sie davon schlecht träumen und alles tun,
was sie ihnen sagt. Dieselben Geschichten, die sie auch uns erzählt
hat. Jetzt gucken wir mal, wie’s wirklich ist.«
Er erhebt sich. »Und wenn wir das
machen, dann hörst du auf, rumzumosern und die ganze Zeit dein
mürrisches Gesicht zu ziehn.«
»Hab nur das eine Gesicht,
Demi.«
Er schüttelt den Kopf und grinst.
»Du bist so ziemlich das Seltsamste, was im Barrio rumläuft. Falls
hier je ein Museum aufgemacht wird, stelln sie dich sofort da
rein.« Er klopft sich die Hände an seiner Jeans ab. »Also, gehn wir
Lucien suchen.«
Lucien ist da, wo er immer ist,
beim Brunnen, wo er Mama Bali dabei hilft, Waschwasser zu schöpfen.
»Seid wieder einer weniger, hab ich gesehn, Baz«, sagt er mit
seiner sanften, halb flüsternden Stimme.
Mama Bali streckt ihren Rücken und
wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Kümmer dich um deinen
Kram, Lucien, dann rückt dir auch keiner auf die Pelle«, sagt sie,
sieht aber Demi und Baz neugierig an. »Habt ihr Probleme?«
»Jeder hat so seine Probleme,
Mama. Wir ham nur ein paar Fragen an Lucien.« Demi wirft erst Baz
einen Blick zu und sieht sich dann über die Schulter um, als hätte
er das Gefühl, dass Fay ihn gerade in diesem Moment
beobachtet.
»Raoul ist auf’n Berg gebracht
worden«, sagt Baz geradeheraus. »Jeder weiß, dass es ein schlimmer
Ort ist, also sollst du uns erzähln, wie wir ihn da wegkriegen. Du
kannst uns sagen, was man tun muss.«
Mama bläst die Backen auf, als sei
sie ein riesiger Ballonaffe. »Der Berg?«, sagt sie. »Zeig deine
Narben, Lucien.«
Zögernd zieht Lucien das Bein
seiner Trainingshose hoch – Wade und Schienbein sind mit alten
Schnitt- und Risswunden übersät. »Hab Glück gehabt«, sagt er. »Bin
so krank geworden, dass meine Mutter mich an die Straße gelegt hat.
Sie dachte, dass einer von den Fahrern mich in die Stadt bringen
würde, ins Krankenhaus. Stattdessen bin ich hierhergekommen. Die
Krankheit ging irgendwann wieder weg.« Er wischt sich mit dem
Handrücken über die Stirn und lächelt Baz zu. »Jetzt schleppt
Lucien Eimer, weil, das ist viel, viel besser, als in der Erde zu
wühln wie ’n Huhn. Oder ’ne Ratte.«
»Man kann also rein und wieder
raus?«
»Damals. Damals vor zehn Jahren.
Jetzt wird der Berg als Geschäft geführt. Señor Moro. Zäune und
Stacheldraht rundherum. Wächter auch. Wie ’n Gefängnis ist das
jetzt: kommt keiner mehr weg. Nur arbeiten und sterben. Weiß nicht,
wie du reinkommst, Baz – Draht zerschneiden vielleicht, aber ich
würd dir raten, lieber so weit wie möglich davon
wegzubleiben.«
»Er hat ’ne ehrliche Arbeit.« Mama
hat beide Hände auf die breiten Hüften gestützt, das Gesicht glänzt
in der Hitze. »Das ist was, wo ihr beide nicht so viel von
versteht. Hier, ihr könnt mal Lucien und mir helfen, diese Eimer zu
mir zu tragen.«
Demi stopft die Hände in die
Hosentaschen und wirft sich in die Brust. »Meine Hände sind zu
kostbar für deine alten Eimer.«
Sie lächelt. »An dir ist nix
Kostbares dran, Demi.« Worauf sie einen der Eimer aufnimmt und sich
mit Lucien zusammen auf den Weg macht.
»Puuh! Dreckiges Wasser schleppen!
Als Nächstes will sie, dass ich ihre Vordertreppe putze!« Aber als
Baz schweigend einen der verbliebenen Eimer aufhebt, schnappt er
sich den anderen und die beiden folgen Mama und Lucien zurück zu
ihrer Kneipe.
Sie bedankt sich und gibt ihnen
eiskalten Saft in hohen, kalten Gläsern, während sie Lucien einen
Teller mit kalten Bohnen und Schweinefleisch hinstellt. Er isst
zurückhaltend und bedächtig, nicht wie die Jungen in der Bude, die
ihr Essen wie hungrige Wölfe hinunterschlingen, aber er ist
schließlich auch älter, und er hat eine sanfte Art, die man im
Barrio sonst nicht antrifft. Jedenfalls ist er furchtbar dünn;
vermutlich würde er sich einfach in Nichts auflösen, wenn Mama Bali
ihm nicht jeden Tag eine Mahlzeit gäbe.
»Danke, dass du uns vom Berg
erzählt hast, Lucien«, sagt Baz, und er lächelt ihr zu, wobei er
die Hand vor den Mund hält, um seine schiefen und kaputten Zähne zu
verbergen. Dann senkt er den Kopf über sein Essen. »Was ist mit
deiner Familie passiert?«, fragt sie, nachdem sie ihm für eine
Weile zugesehen hat. Aber diesmal blickt er nicht auf und lächelt
auch nicht, sondern isst nur einfach langsam weiter.
»Vielleicht solltet ihr zwei mal
überlegen, ob ihr euch nicht ’ne ehrliche Arbeit besorgen wollt«,
sagt Mama Bali, als sie sich verabschieden. »Da handelt man sich
keinen Ärger ein.«
»Ich handel mir auch so keinen
Ärger ein, Mama«, antwortet Demi, aber später, auf dem Rückweg zur
Bude, sagt er: »Ehrliche Arbeit, was ist ehrliche Arbeit? Ehrliche
Arbeit kann dich auf’n Berg bringen, aber wenn du die Klappe zu
weit aufreißt, kommst du auch auf’n Berg. So ziemlich das Einzige,
was dich und mich davor schützt, dahinzukommen, Baz, ist, ’n guter
Dieb zu sein.« Er lässt seine Finger unter ihrer Nase zappeln,
sodass sie den Kopf wegbiegen muss. »Das hier sind meine magischen
Kräfte.«
»Ja«, sagt sie, »du solltest deine
magischen Kräfte dafür benutzen, Raoul von diesem Horrorberg
wegzuholen.«
»Morgen. Morgen lassen wir uns
über die Brücke fahrn. Kein Thema. Wir finden ihn und holn ihn da
raus. Ist wahrscheinlich meine erste ehrliche Aktion überhaupt.
Achte mal drauf – ich werd der reinste Affenmensch sein.« Und er
wackelt noch einmal mit den Fingern und hüpft so lange auf und ab,
bis sie lächeln muss. Dann stößt er einen Jauchzer aus, macht
einige Drehsprünge gegen die Mauer entlang der Gasse und stellt
überhaupt lauter Faxen an mit den Leuten, die ihnen auf dem Rückweg
zur Bude entgegenkommen. Manchmal gibt einem Demi das Gefühl, er
sei der König der Welt. Aber Lucien hat gesagt, der Berg wäre mehr
ein Gefängnis als irgendwas sonst. Und um Raoul aus einem Gefängnis
klauen zu können, müssen sie wirklich die besten Diebe der Stadt
sein.