19

Baz legt den Kopf auf die Seite und lauscht. Wer auch immer es war, der da eben das Gebäude betreten hat, er muss zu Fay hinaufgegangen sein. Ist allerdings ziemlich früh. Früh für Geschäftliches.
Sie starrt in den offenen Kasten. Es ist Geld drin, alte Scheine, gebündelt und mit Gummibändern zusammengehalten. Nicht so viel, wie sie bei Dolucca haben mitgehen lassen, bei Weitem nicht, aber ein paar Hundert sind es schon, vielleicht ein ganzes Tausend. Nicht genug, dass Fay sich damit zur Ruhe setzen könnte oder mit ihnen allen in den Norden gehen, wie sie’s versprochen hat. Darüber hinaus gibt es Münzen, Armbanduhren und Kreditkarten sowie einen Vorrat von kleinen versiegelten Plastikbeuteln. Und dann ist da noch der Ring. Er glitzert ihr im Kerzenlicht entgegen. Sie hält ihn in der Hand und denkt an die Frau des Captain in ihrem schicken Kleid, mit ihrem gelben Hut und den vielen Reifen an den Armen. Der Ring war ihr so wichtig. Warum? Hatte sie nicht schon genug davon? Sie erinnert sich an das erste Mal, als sie und Demi ihn ins Licht gehalten haben. Da war es ihnen so vorgekommen, als würde wahrhaftig ein Stück Himmel darin stecken.
Rasch trifft sie eine Entscheidung. Sie schält zwei Fünfziger aus einem Bündel, faltet sie zu einem kleinen kompakten Viereck, das sie mit dem Ring zusammen in ihre Hosentasche steckt, dann klappt sie den Deckel zu, stellt den Kasten ins Loch zurück und schiebt schließlich den Steinblock wieder an seinen Platz.
Diebstahl.
Es ist ein anderes Gefühl, wenn man jemanden bestiehlt, den man kennt. Ein blödes Gefühl. Von dem sie sich allerdings nicht beirren lässt. Behände schlüpft sie die Treppe hoch, wendet sich dann, nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass die Luft rein ist, nach links und sprintet über das ausgetrocknete Schlammufer auf die Krümmung des Flusses zu.
Fünfundzwanzig Minuten später steht sie vor Mama Balis Küche.
»Was ist los, Kind? Bist wieder in diesem Fluss rumgestapft? Hast überall Schlamm dran. Nein! Du kannst jetzt hier nicht rein«, sagt sie, indem sie Baz aus der Tür und hinaus auf die Treppe scheucht. »Wart ’n Moment.« Kurz darauf kommt sie mit einem Eimer zurück, in dem das Wasser schwappt. »Halt deine Füße da rein. Möchst ’n bisschen Milch?«
Baz nickt und spritzt sich Wasser über die Füße und die Hosenbeine ihrer Jeans. Sie hätte sich umziehen sollen – ihr T-Shirt ist fleckig und verschwitzt.
Mama steht da, die Hände auf die dicken Hüften gestemmt, und sieht ihr beim Waschen zu. Baz hat manchmal das Gefühl, dass Mama zu ausladend ist für das Barrio, zu breit für das Gewirr der krummen Gassen. »Hab dich noch nie so zerschunden gesehn, Mädchen. Was ist passiert? Wo is’n der Demi? Ihr zwei seid euch doch gleich wie ein Ei dem andern ... Hab ich was Verkehrtes gesagt?«
»Nein.« Baz schlüpft mit nassen Füßen wieder in ihre Turnschuhe. Dann strafft sie sich. »Die Polizei hat Demi geschnappt.« Sie bemüht sich um eine feste Stimme, aber es ist schwer. »Ham ihn ins Schloss gebracht, nehm ich an.«
Mama sagt erst einmal gar nichts, dann seufzt sie. »Und dieser Junge hat gedacht, er kann übers Wasser wandeln ... Komm rein, Baz.« Sie führt sie in die Küche und schiebt ihr einen Stuhl hin. Geht dann hinter den Tresen, um dampfenden Kaffee und heiße Milch in eine Schüssel zu gießen, die sie ihr auf den Tisch stellt.
Mama lässt sich auf dem Hocker gegenüber von Baz nieder. »Wie viel willst’n erzähln, eh?«
Baz nimmt einen Schluck, dann erzählt sie von dem Raub und von Dominos Verrat. Sie erzählt ihr von dem Jungen, Fays verlorenem und wiedergefundenem Sohn, dem Raub und dem Verrat und von ihrer Angst, dass jemand Demi umbringen lassen wird. Als sie zu Ende erzählt hat, sagt sie: »Wie können wir Demi da wieder rausholn, Mama?«
Mama schüttelt den Kopf. »Wir? Was, glaubst du, kann ich denn tun? Ich versteh was von Kaffee und von Bohnen und davon, wie ich mich hier über Wasser halten kann, aber mit der Polizei in dieser Stadt hab ich nie zu tun gehabt, jedenfalls schon lang nicht mehr. Was sagt Fay dazu?«
»Fay? Fay hätt’s lieber, Demi ist tot, als dass er auch nur einen Tag im Schloss überlebt und denen von ihr erzählt. Aber Demi wird nie irgendwas sagen. Demi würd sich nie gegen Fay stelln –« Baz bricht ab, und Mama pustet ein bisschen, sagt aber nichts. Baz spannt ihre Finger um die kleine Schüssel, aus der sie die Milch getrunken hat. »Wenn ich Demi da nicht rausholn kann, wird Demi nicht überleben. Fay tut jetzt nichts mehr für ihn ...« Aber wovor sie eigentlich Angst hat, das ist noch viel schlimmer als das, viel schlimmer, als nichts zu tun.
»Demi hat’s erwischt, Bazzie.« Mama langt über den Tisch, fasst Baz’ Hand, gerade so, wie es auch Fay getan hat. »Das ist es halt, was passiert, wenn man das tut, was ihr tut. Ich will ja nichts sagen, aber das passiert eben. Wird auch dir irgendwann passiern. Aber bis dahin hast du dein Leben. Man kann nicht mehr tun, als das nehmen, was man hat.«
Nur weil jemand aussieht wie ein Berg und immer ein Lächeln und ein freundliches Wort für verschrammte kleine Ratten wie Baz und Demi übrig hat, muss das nicht heißen, dass dieser Jemand Wunder bewirken kann. Dass er in der Lage ist, das Tor zum Schloss einzuschlagen. Baz sieht sie an, ohne zu blinzeln, und Mama wendet den Blick ab. Baz erwartet keine Wunder, hat sie nie getan, von niemandem außer vielleicht von Demi, aber sie hätte gern einen Rat. Sie trifft eine spontane Entscheidung, greift in die Tasche, zieht den Ring hervor und legt ihn auf den Tisch. »Da ist was, was ich hab.«
Mama bläst die dicken Backen auf. »Tu das bloß weg, Kind. Dieser Ring bringt dir nichts als Scherereien. Je schneller du den los bist, desto besser für dich. Moros Leute stelln alles auf’n Kopf, um diesen Ring zu finden. Im Barrio ist die reine Hölle los. Und diese Sache, von der du erzählst – Haus vom Captain –, ich glaub, Fay hat den Verstand verlorn! Das wird alles schwer auf uns zurückschlagen – das sag ich dir gratis, Baz.«
»Glaubst du, die Frau von diesem Captain hilft mir, wenn ich ihr den Ring zurückgebe?«
»Vielleicht. Vielleicht würd ihr Mann irgendwas tun, wenn sie ihn drum bittet, aber die meisten Leute legen sich nur ins Zeug, wenn man ihnen was anzubieten hat, was sie wirklich wolln.«
»Vielleicht will sie wirklich gerade diesen Ring zurück. Kann ich ihr nicht einfach sagen, dass ich den Ring hab?«
»Nein, sag ihr nicht, was du hast – sag ihr nur, dass du was hast, was sie gern habn möchte. Ruf sie an. Sei aber vorsichtig, eh! Wart ab, was sie sagt. Wart ab, was sie bereit is zu tun. Vielleicht will sie sich mit dir treffen, aber wenn, dann achte drauf, dass du den Ort bestimmst. Und du musst lange vor ihr da sein und gucken, dass keine Uniformen sich da rumtreiben, die dich schnappen wolln.«
Baz nickt und schließt die Hand fester um den Ring. Sie sieht nicht Mama an, sondern ihre Faust. »Ich glaub, Fay will Demi umbringen lassen«, sagt sie plötzlich. »Ich glaub, sie wird mit jemand reden, den sie kennt ...«
Mama Bali legt Baz eine Hand auf den Mund. »Du tust, was du kannst. Mehr geht nicht. Und jetzt mach. Ruf diese Frau an. Vielleicht hast du Glück, Baz.«
Baz muss ganz bis zum anderen Ende des Agua-Platzes gehen, bis sie ein Münztelefon findet, das funktioniert und neben dem auch ein Telefonbuch hängt. Sie findet Dutzende Doluccas und muss mühsam buchstabieren, bevor sie die Adresse von Eduardos Karte identifiziert. Sie wählt die Nummer.
»Hallo.«
»Kann ich bitte Señora Dolucca sprechen?«
»Wer ist da? Kenn ich Sie?« Es ist eine männliche, aber junge Stimme. Eduardo. Wieso geht er ans Telefon? Wieso sitzt er gemütlich in dem vornehmen Haus, während Demi im Schloss steckt, vielleicht schon krepiert? In einer heißen, stickigen Zelle. Hinter Gittern. Vielleicht mit brutalen Räubern zusammen. Mit Mördern. Ohne jemand, der sich um ihn kümmert. Das alles hat Eduardo so arrangiert. Es waren nicht nur der Fahrer und Miguel, sondern Fays Junge höchstpersönlich. Er hat irgendeinen Plan – einen großen Wirbel veranstalten, dafür sorgen, dass jeder gegen jeden kämpft und er dann irgendwie das ganze Geld für sich behält. Sie und Demi sind ihm vollkommen gleichgültig ... Wütend starrt Baz ins Telefon, dann fasst sie sich.
Über seine Fragen geht sie hinweg. »Señora Dolucca, bitte.« Sie hat diese Leute reden hören, war in der Nähe, wenn sie Taxifahrern oder Portiers diese oder jene Anweisung gegeben haben. Sie hat ihr vornehmes Getue erlebt und gesehen, wie sie durch die Stadt schweben – nichts berührt sie, niemand hält sie auf. Sie beantwortet seine Fragen nicht. Sie spricht mit fester, kräftiger Stimme, einer Komm-mir-nicht-blöd-Stimme. Niemand, nicht einmal Demi, hat sie je so sprechen hören.
»Worum geht es?«
»Señora Dolucca.«
Es sind Stimmen im Hintergrund zu hören. »Einen Moment.«
Dann kommt eine Frau ans Telefon. »Hallo.«
Baz sieht sie vor sich, immer noch mit dem gelben Hut, den sie getragen hat, als Demi seinen Zauber veranstaltete. Fast kann sie das Klimpern der silbernen Armreifen an ihrem schmalen Handgelenk hören. Ist sie eine kluge Frau oder eher dumm? Baz hält sie nicht für übermäßig klug, wenn sie einen Jungen wie Eduardo aufgezogen hat. Geld hat sie allerdings, diese Frau, hat ein schickes Haus, liebt kostbare Dinge.
»Hallo. Wer ist da?«
»Ich habe was, das Sie haben wollen«, sagt Baz.
»Wie bitte?«
Sie holt tief Luft. »Sie ham nur eine Chance, zu sehn, was es ist. Kommen Sie in die Via Caliossa und gehn Sie in die Bar an der Ecke. Ich finde Sie. Wenn Sie jemand mitbringen, Ihrem Mann, dem Captain, Bescheid sagen, Ihrem Sohn Bescheid sagen ...« Sie macht eine Pause. »... Ihrem Sohn, dem Jungen, den Sie aufgenommen ham, als er noch ’n Baby war. Sie ham jetzt auch eine kleine Tochter ...«
»Halt! Woher wissen Sie das alles?«
Stimmen im Hintergrund.
»Sagen Sie denen, sie solln weggehn. Das hier geht niemanden sonst was an.«
Sie hört Geräusche, die entstehen, wenn ein Telefon vom Sprecher weggehalten, die Sprechmuschel vielleicht noch abgedeckt wird. Die Stimme der Frau ist gedämpft, aber Baz kann hören, was sie sagt. »Nein«, sagt sie. »Gut«, sagt sie.
Baz hält den Hörer umklammert. Sie lauscht sorgfältig. Wenn es jetzt gleich klickt, heißt das, dass noch jemand anders mithört. Aber nein. Nur das Atmen der Frau.
»Hallo. Hallo, sind Sie noch da?«
Das ist schon mal gut. Die Frau ist aufgeschreckt, vielleicht ein bisschen nervös, aber sie hat niemanden herbeigerufen, hat auch nicht aufgelegt. »Wenn Sie sich mit mir treffen wolln, kommen Sie zur Bar Central, in der Via Caliossa. In einer Stunde. Leicht hinzukommen. Sicher. Sie kennen den Laden. Kommen Sie allein und ich geb Ihnen die wertvolle Sache – ich will kein Geld.«
Sie macht eine Pause, hört das Atemgeräusch der Frau am anderen Ende der Leitung. Hinter ihr rauscht der Verkehr. Irgendetwas veranlasst sie zu sagen: »Und ich erzähl Ihnen etwas über Ihre Familie. Etwas, was Sie nicht wissen. Aber Sie müssen allein kommen. Ham Sie mich verstanden, Señora Dolucca? Ich kann sehn, ob Sie allein kommen oder nicht.«
Die Stimme am anderen Ende zögert. Dann: »Wie erkenne ich Sie?«
»Gar nicht, aber ich werd Sie erkennen, Señora Dolucca.« Sie legt auf. Eine Stunde. Okay. Sie muss sich waschen, sich auf dem Markt ein neues Shirt und neue Jeans kaufen. Vor allem aber muss sie sich beeilen und möglichst schnell da sein. Mama Bali hat recht – sie muss sich davon überzeugen, dass der Laden sauber ist, bevor sie sich der Frau zu erkennen gibt. Zu leicht für Señora Dolucca, die Sache ihrem Mann zu stecken. Zu leicht für ihren Mann, ein paar Leute dort zu postieren, ein paar Greifer in unauffälliger Kleidung. Aber das ist kein Problem, solange sie zuerst da ist und jeden unter die Lupe nehmen kann, der hereinkommt. Einen Greifer erkennt sie jederzeit, egal was für Klamotten er trägt, und wenn einer durch die Tür kommt, dann verzieht sie sich eben und macht einen neuen Plan.
Sie schwingt sich auf eine Straßenbahn. Die Via Caliossa liegt ungefähr in der Mitte zwischen dem Villenviertel und ihrem eigenen Bezirk. Gerade weit genug von Señora Doluccas gewohntem Territorium entfernt, um sie ein bisschen nervös zu machen, aber nicht weit genug, um sie abzuschrecken. Die Bar, die Central, ist eine, die Fay eine Weile lang für ihre Zwecke benutzt hat: Baz und Demi haben so manche lange Stunde damit verbracht, draußen auf sie zu warten. Ein beliebter Treffpunkt, es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Baz hofft, dass man ihr keine Schwierigkeiten machen wird. Sie streicht mit den Fingern durch ihr kurzes Haar und betrachtet ihr Spiegelbild im Straßenbahnfenster. So blass ist das Bild, dass sie sich kaum erkennen kann, so als wäre sie gerade dabei zu verschwinden.
Fünfzehn Minuten später steht sie vor der Bar. Eine Zeit lang hält sie noch Abstand, dann heftet sie sich kurzerhand einem Mann und einer Frau an die Fersen, offenbar ein Ehepaar. Es könnten ihre Eltern sein, abgesehen davon, dass sie aus besseren Kreisen kommen. Sie haben nicht die stumpfbraune Haut der Leute vom Land, so wie Baz.
Ein Kellner runzelt die Stirn. »Entschuldigung«, sagt er, »gehört das Kind zu Ihnen?« Baz wartet nicht erst ab, dass man ihr Fragen stellt. Ohne Eile spaziert sie auf einen leeren Tisch am Fenster zu. Perfekt.
Dass der Kellner ihr folgen würde, war klar. »Du kannst hier nicht sitzen.« Er wischt mit einem Tuch über den Tisch, als wolle er nicht nur die Krümel, sondern sie gleich mit wegfegen.
Sie lächelt ihm zu, so breit, wie sie’s nur grade hinkriegt. Demi sagt, wenn sie lächelt, dann werden ihre Augen so groß, dass ihm davon schwindlig wird. Sie weiß nicht, ob das etwas Gutes ist, aber genau dieses Lächeln zeigt sie dem Kellner, und außerdem zieht sie einen von Fays Geldscheinen aus der Tasche und streicht ihn auf dem Tisch glatt. Ein Fünfziger.
Die Augen des Kellners weiten sich ein wenig.
»Cola, bitte«, sagt sie.
Der Kellner neigt leicht den Kopf und schlängelt sich dann zwischen den Tischen davon. Sie steckt den Schein in ihre Tasche zurück. Eine Cola kostet nur neunzig Cent. Er ist bescheuert, wenn er glaubt, dass sie ihm neunundvierzig Dollar Trinkgeld gibt, aber Geld wirkt trotzdem Wunder. Sie wünschte, sie hätte tausendmal so viel – dann könnte sie das Wunder bewirken, Demi aus dem Schloss zu holen.
Die Cola wird serviert, und während sie die ersten Schlucke nimmt, blickt sie sich gründlich um, nimmt jeden einzelnen Tisch unter die Lupe. Alles sauber. Dann beobachtet sie die Straße, hält Ausschau nach Señora Dolucca, nach Polizisten in unauffälliger Kleidung.
Menschen strömen vorbei, einige machen einen Abstecher ins Café. Ihre Cola ist fast leer, als sie sie sieht. Auf hohen Hacken kommt sie die Straße heruntergetrippelt, in einer mintgrünen Jacke zum mintgrünen Rock und einer mintgrünen Tasche, die ihr über die Schulter hängt. Die Dame muss wohl in diesen eisig kühlen Geschäften an der Hauptstraße leben und dort ihr ganzes Geld ausgeben, um so auszusehen. Sie trägt eine große dunkle Brille und blickt sich immer wieder mal um.
Als sie die Bar betreten hat, mustert Señora Dolucca die Tische, ohne den Kellner zu beachten, der sich nach ihren Wünschen erkundigt. Ihr Blick schweift über Baz hinweg und richtet sich auf eine Frau, die allein in der Ecke sitzt. Baz beobachtet, wie sie nach kurzem Zögern auf sie zugehen will. Schnell erhebt sie sich von ihrem Tisch. »Señora Dolucca«, sagt sie. »Hier, ich hab ein Plätzchen für Sie freigehalten.«
Die Frau des Polizei-Captain zuckt zusammen, fast als sei sie gestochen worden. »Du?«, sagt sie zögernd. »Ich dachte, es wäre eine Frau gewesen, mit der ich vorhin gesprochen habe.«
»Kommen Sie«, sagt Baz, und instinktiv streckt sie die Hand aus, um die ältere Frau zwischen den Tischen hindurchzugeleiten, und die Frau lässt sich, vielleicht zu ihrer eigenen Überraschung, an die Hand nehmen. »Vielleicht möchten Sie ’n Kaffee, vielleicht was Kaltes? Ich spendier Ihnen was.«
Die dunklen Gläser schirmen sie ab wie ein Paar Fensterläden, aber ihre Finger liegen krampfhaft auf der Tasche, und die Tasche hält sie unter den Arm geklemmt wie einen Flügel. Ihr Kopf dreht sich, mustert noch einmal die Bar. »Du bestellst mich her und dann spendierst du mir etwas zu trinken?« Ihre Stimme schwankt ein bisschen. Nervös.
Kostet sie einiges, ganz allein an einen solchen Ort zu kommen, ohne zu wissen, wem sie begegnen wird, mit der Sorge, dass ihr Leben oder das ihrer Kinder bedroht sein könnte.
»Möchten Sie mit jemand anders sprechen?«, sagt Baz. »Vielleicht lieber mit einem Mann ...«
»Nein.« Sie setzt sich, dann hebt sie die Hand, und sofort ist der Kellner bei ihr. Eine solche Frau muss nie auf Bedienung warten. »Tee«, sagt sie. »Jasmin. Haben Sie den?« Der Kellner neigt den Kopf.
Es entsteht eine Pause. Die schicke Frau und das Mädchen, so eng an dem runden Tisch beisammensitzend, dass sich ihre Knie fast berühren, warten darauf, dass der Kellner zurückkehrt. Baz macht ein möglichst neutrales Gesicht. Sie ist sich nicht sicher, wie sie anfangen soll. Ihr Gesicht verrät nichts, ihre Hände liegen entspannt auf dem Tisch. Sie nimmt einen Schluck Cola. Sie sieht die Frau unentwegt an.
Diese Frau ist der Schlüssel, denkt sie, der Schlüssel, der mir Demis Zelle aufschließt. Aber wie fängt sie das an? Ist diese Frau den ganzen Weg hierher wirklich nur wegen des Rings gekommen, wegen eines Stücks Schmuck? Das glaubt Baz einfach nicht. Längst hat sie Señora Doluccas Schwarzmarktwert taxiert: hübsche Ohrstecker, gute Qualität; Armreifen, vier, Silber, und eine hübsche Armbanduhr; keine Kette oder sonst was um den Hals; Handtasche, teuer. Sie beobachtet, wie der Mittelfinger der Frau, der mit dem fetten gelben Klunker am Knöchel, an ihrem Daumennagel kratzt. Wie sie am Verschluss ihrer Tasche herumfingert und dann blitzschnell eine Packung Mentholzigaretten hervorzieht, sich eine herausklopft und sie anzündet. Baz beschließt abzuwarten, die Frau die Fragen stellen zu lassen.
»Diese wertvolle Sache ...«, sagt Señora Dolucca, während sie Rauch ausbläst. »Wirst du mir sagen, was es ist?«
Baz ignoriert die Frage. »Ham Sie Ihrem Mann, dem großen Captain, gesagt, was Sie vorhabn?«
Señora Dolucca schüttelt den Kopf, und dann rauscht schon der Kellner heran, stellt die Tasse mit Jasmintee und eine winzige Schale mit dünnen schwarzen Schokoladentäfelchen auf den Tisch. Er schiebt den Bon unter die Schale, und dann, mit einer angedeuteten Verbeugung vor der eleganten Frau, verzieht er sich wieder Richtung Bar.
»Was weißt du von meiner Familie?«, fragt Señora Dolucca plötzlich.
Jetzt gilt’s. Baz kommt es ein bisschen so vor, als wären sie bei dem Kartenspiel, das sie manchmal mit Demi spielt, und Señora Dolucca hätte sich gerade in die Karten gucken lassen. Sie nimmt sich eins von den Schokotäfelchen. Als sie noch allein am Tisch saß, hat der Kellner keine Schokolade gebracht »Ich weiß so einiges über Ihre Familie.« Sie beugt sich vor und senkt ihre Stimme. »Ich weiß, dass Ihr Mann Geschäfte macht, die keine Polizeigeschäfte sind.« Die Schokolade schmilzt zwischen ihren Fingern, daher steckt sie sie rasch in den Mund. Sie schmeckt so, wie der Himmel wohl schmecken muss. Ohne zu überlegen, greift sie nach dem nächsten Stück.
Die Frau sitzt ganz still. Von ihrem Tee hat sie noch keinen Schluck getrunken.
»Machen Sie sich Sorgen wegen Ihren Kindern?«
»Bedroht ihr meine Kinder?« Ihre Stimme klingt dünn, brüchig vor Angst und Zorn. »Letzte Nacht. Du weißt, was letzte Nacht passiert ist in meinem Haus. Weißt du davon?«
»Ja.«
»Was hatte das zu bedeuten?«
Baz zuckt nicht mit den Wimpern. Es hatte zu bedeuten, dass eine Menge Geld geklaut wurde. Es hatte üble Machenschaften zu bedeuten, zwei Ratten, die mit dem Auto getürmt sind, und Demi in den Händen der Polizei. Das hatte es zu bedeuten. Es hatte zu bedeuten, dass Demi angeschossen wurde. Dass Demi ins Schloss geschleppt wurde und Baz sich verstecken musste, ohne ihm zu helfen, weil es nichts gab, was sie hätte tun können. Es hatte zu bedeuten, dass sie erlebt hat, wie Fay aus ihrer Große-Schwester-Haut geschlüpft und zu dieser anderen Person geworden ist, einer Person, der Demi egal zu sein scheint, der alles egal ist außer sie selbst.
Und vielleicht hatte es noch mehr als all das zu bedeuten. Vielleicht gehörte es zu Eduardos Plan, Demi loszuwerden. Warum nicht? Und auch Baz loszuwerden, warum nicht? Will er nicht Fay ganz für sich haben, die Mutter, die ihn weggegeben hat? Und will nicht auch sie ihn ganz für sich?
Die magere Hand der Frau legt sich plötzlich wie eine Klaue um Baz’ Handgelenk, die Fingernägel graben sich in ihre Haut. »Sag es mir. Was hatte das zu bedeuten? Für wen arbeitest du? Bist du eine Botin von einem der ... Geschäftspartner meines Mannes? Geht es irgendwie um meine Familie?«
»Es hat ’ne Menge für Sie zu bedeuten, Señora Dolucca, falls Sie Ihrn Sohn verliern oder vielleicht Ihre Tochter. Das würd Ihnen wehtun, viel mehr, als Sie meiner Hand jetzt wehtun.«
Sie zieht die Hand weg, als hätte sie sich plötzlich an Baz’ Haut verbrannt. »Was willst du von mir?«
Baz blinzelt. Sie hält sich straff wie eine Trommel. Sie sagt die richtigen Worte zu dieser Frau. Sie hat das Gefühl, sie würde gegen eine Tür drücken und diese Tür würde Stück für Stück nachgeben. »Ein Junge ist letzte Nacht angeschossen worden, direkt vor Ihrm Haus. Hat’n Schuss abgekriegt, wurde ins Schloss geschafft. Der Junge ist nicht viel älter als ich.« Sie macht ihre Stimme kalt und hart wie ein Messer. »Verstehn Sie, was ich sage?«
»Du glaubst, dass ich dir helfen kann!«
»Sie ... Ihr Mann. Ja. Sie können mir helfen.«
»Mein Mann!« Sie lacht bitter.
»Okay, Sie dann eben. Sie können diesen Jungen aus dem Schloss rausbekommen.« Sie holt Luft. »Stelln Sie sich vor, Ihrn Kindern würde so was passiern. Wie Sie sich dann fühln würden.«
»Meine Kinder verstoßen nicht gegen das Gesetz.«
»Es kann immer irgendwas Schlimmes passiern«, sagt Baz verdrossen und denkt an Raoul, an Demi.
Vielleicht hört Señora Dolucca etwas anderes aus Baz’ schlichter Feststellung heraus. »Und wenn ich nicht helfen kann?«, sagt sie.
Nicht, wenn ich nicht will, sondern wenn ich nicht kann. Die Tür ist wieder ein Stück weiter offen. Nur noch ein kleiner Schubser, und die Frau wird tun, worum sie sie bittet. »Wissen Sie, wie der Dieb letzte Nacht in Ihr Haus gekommen ist?«
Señora Dolucca zieht an ihrer Zigarette. Sie antwortet nicht.
»Sie ham ein großes, starkes Tor. Sie ham ’ne dicke hohe Mauer. Sie ham ’ne Alarmanlage. Sie ham ’n großen Polizei-Captain als Mann. Sie glauben, dass Sie sicher sind? Niemand ist je sicher. Der Dieb kommt rein, ganz leicht. Der Dieb kommt überall rein, wo er will. Weil’s immer jemand gibt, der dem Dieb sagt, wie.«
Die Frau zuckt zusammen. »Wer?«
Baz schüttelt den Kopf. »Kommen Sie mit mir mit. Kommen Sie. Lassen Sie den Jungen frei und keiner kommt Ihrm Haus mehr nah. Keiner kommt Ihrn Kindern mehr nah.«
»Hältst du mich für vollkommen blöd? Wie kann ich mich auf das verlassen, was du sagst? Du! Ein Kind!« Sie drückt ihre Zigarette aus.
Baz greift in ihre Tasche. Es geht um alles. Sie zieht den Ring hervor und legt ihn auf den Tisch. »Das ist mein Pfand.« Sie lässt einen Finger auf dem Ring liegen. »Reden wir über die Gegenleistung. Helfen Sie mir, meinen Bruder zurückzukriegen?«
Die Frau ist fast reglos. Ganz langsam nimmt sie ihre dunkle Brille ab. Ihre Augen, so ist jetzt zu sehen, haben rote Ränder, die Haut um das linke Auge ist verfärbt, etwas gelblich, ein ehemals blauer Fleck. »Wo hast du das her?« Sie hält inne. »Der Junge? Ist das derselbe Junge, der mich bestohlen hat?« Plötzlich lacht sie und schüttelt den Kopf. »Und er ist dein Bruder?« Sie mustert Baz, als würde sie sie erst jetzt so richtig wahrnehmen. »Ich erinnere mich an ihn, diesen Jungen. Er ist dir nicht so besonders ähnlich. Du kommst vom Land. Warum ist er dir so wichtig? Hat dir jemand aufgetragen, dass du das hier tun sollst? Jemand Älteres? Deine Mutter vielleicht? Seine Mutter?« Baz antwortet nicht. »Nein. Du hast keine Familie, nicht wahr? Außer ihm.« Sie nimmt den Ring in die Hand. »Und den würdest du mir wiedergeben? Ich könnte ihn mir jetzt einfach nehmen. Ich könnte um Hilfe rufen. Könnte sagen, dass du ihn mir stehlen wolltest. Das alles könnte ich tun, und was könntest du dann tun?«
Baz sieht den Ring nicht an. Sie sieht nur Señora Dolucca an, blickt ihr in die Augen.
Nach einer Weile schiebt die Frau des Polizei-Captain den Ring sanft zu Baz zurück. »Bewahr ihn sicher auf. Ich werde mit dir zum Schloss gehen. Ich möchte diesen Jungen wiedersehen. Vielleicht können wir etwas tun.« Sie setzt ihre Brille wieder auf und hebt die Hand. Der Kellner ist zur Stelle und sie bezahlt die Rechnung. Baz steckt den Ring zurück in ihre Tasche. »Der Ring«, sagt Señora Dolucca, während sie vom Tisch aufsteht, »ist das die wertvolle Sache?«
Baz schüttelt den Kopf. »Nein.« Sie hatte geglaubt, die Señora wäre eine dumme Person, eine verwöhnte reiche Frau, eine Frau, mit der man einen Handel abschließen kann, ohne etwas für sie zu empfinden. Das ist jetzt anders, nachdem sie sich bereit erklärt hat zu helfen, nachdem Baz den gelben Bluterguss an ihrem Auge gesehen hat.
»Das habe ich mir gedacht. Es ist etwas, das du weißt, etwas, das du mir erzählen kannst.«
»Es ist nichts Gutes«, sagt Baz.
»Nein, damit habe ich auch nicht gerechnet. Sagst du immer die Wahrheit?«
Baz denkt kurz nach. »Immer.«
»Na gut. Dann sag mir: Wenn ich von dieser Sache weiß, die du mir mitteilen kannst, wird dann meine Familie sicher sein, dadurch, dass ich es weiß?«
»Vielleicht.«
Señora Dolucca zeigt ein trockenes Lächeln. »Du bist ein verschlossenes Ding, nicht wahr? Wie eine Venusmuschel.«
Baz weiß nicht, was eine Venusmuschel ist.
Die Frau streckt die Hand aus. »Wir nehmen uns ein Taxi, in Ordnung?«
Baz fühlt, wie ihr Herz einen Satz macht. So leicht ist das. Sie geht einfach mit dieser Frau mit, und dann holen sie Demi, als würde man in ein Geschäft gehen. Für diese Frau funktioniert vielleicht das ganze Leben so, wie wenn man in ein Geschäft geht und dort bekommt, was man haben will. Aber jetzt gehen sie ins Schloss.
Ohne zu überlegen, ergreift Baz die Hand, und sie verlassen zusammen die Bar.