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Baz legt den Kopf auf die Seite
und lauscht. Wer auch immer es war, der da eben das Gebäude
betreten hat, er muss zu Fay hinaufgegangen sein. Ist allerdings
ziemlich früh. Früh für Geschäftliches.
Sie starrt in den offenen Kasten.
Es ist Geld drin, alte Scheine, gebündelt und mit Gummibändern
zusammengehalten. Nicht so viel, wie sie bei Dolucca haben mitgehen
lassen, bei Weitem nicht, aber ein paar Hundert sind es schon,
vielleicht ein ganzes Tausend. Nicht genug, dass Fay sich damit zur
Ruhe setzen könnte oder mit ihnen allen in den Norden gehen, wie
sie’s versprochen hat. Darüber hinaus gibt es Münzen, Armbanduhren
und Kreditkarten sowie einen Vorrat von kleinen versiegelten
Plastikbeuteln. Und dann ist da noch der Ring. Er glitzert ihr im
Kerzenlicht entgegen. Sie hält ihn in der Hand und denkt an die
Frau des Captain in ihrem schicken Kleid, mit ihrem gelben Hut und
den vielen Reifen an den Armen. Der Ring war ihr so wichtig. Warum?
Hatte sie nicht schon genug davon? Sie erinnert sich an das erste
Mal, als sie und Demi ihn ins Licht gehalten haben. Da war es ihnen
so vorgekommen, als würde wahrhaftig ein Stück Himmel darin
stecken.
Rasch trifft sie eine
Entscheidung. Sie schält zwei Fünfziger aus einem Bündel, faltet
sie zu einem kleinen kompakten Viereck, das sie mit dem Ring
zusammen in ihre Hosentasche steckt, dann klappt sie den Deckel zu,
stellt den Kasten ins Loch zurück und schiebt schließlich den
Steinblock wieder an seinen Platz.
Diebstahl.
Es ist ein anderes Gefühl, wenn
man jemanden bestiehlt, den man kennt. Ein blödes Gefühl. Von dem
sie sich allerdings nicht beirren lässt. Behände schlüpft sie die
Treppe hoch, wendet sich dann, nachdem sie sich davon überzeugt
hat, dass die Luft rein ist, nach links und sprintet über das
ausgetrocknete Schlammufer auf die Krümmung des Flusses zu.
Fünfundzwanzig Minuten später
steht sie vor Mama Balis Küche.
»Was ist los, Kind? Bist wieder in
diesem Fluss rumgestapft? Hast überall Schlamm dran. Nein! Du
kannst jetzt hier nicht rein«, sagt sie, indem sie Baz aus der Tür
und hinaus auf die Treppe scheucht. »Wart ’n Moment.« Kurz darauf
kommt sie mit einem Eimer zurück, in dem das Wasser schwappt. »Halt
deine Füße da rein. Möchst ’n bisschen Milch?«
Baz nickt und spritzt sich Wasser
über die Füße und die Hosenbeine ihrer Jeans. Sie hätte sich
umziehen sollen – ihr T-Shirt ist fleckig und verschwitzt.
Mama steht da, die Hände auf die
dicken Hüften gestemmt, und sieht ihr beim Waschen zu. Baz hat
manchmal das Gefühl, dass Mama zu ausladend ist für das Barrio, zu
breit für das Gewirr der krummen Gassen. »Hab dich noch nie so
zerschunden gesehn, Mädchen. Was ist passiert? Wo is’n der Demi?
Ihr zwei seid euch doch gleich wie ein Ei dem andern ... Hab ich
was Verkehrtes gesagt?«
»Nein.« Baz schlüpft mit nassen
Füßen wieder in ihre Turnschuhe. Dann strafft sie sich. »Die
Polizei hat Demi geschnappt.« Sie bemüht sich um eine feste Stimme,
aber es ist schwer. »Ham ihn ins Schloss gebracht, nehm ich
an.«
Mama sagt erst einmal gar nichts,
dann seufzt sie. »Und dieser Junge hat gedacht, er kann übers
Wasser wandeln ... Komm rein, Baz.« Sie führt sie in die Küche und
schiebt ihr einen Stuhl hin. Geht dann hinter den Tresen, um
dampfenden Kaffee und heiße Milch in eine Schüssel zu gießen, die
sie ihr auf den Tisch stellt.
Mama lässt sich auf dem Hocker
gegenüber von Baz nieder. »Wie viel willst’n erzähln, eh?«
Baz nimmt einen Schluck, dann
erzählt sie von dem Raub und von Dominos Verrat. Sie erzählt ihr
von dem Jungen, Fays verlorenem und wiedergefundenem Sohn, dem Raub
und dem Verrat und von ihrer Angst, dass jemand Demi umbringen
lassen wird. Als sie zu Ende erzählt hat, sagt sie: »Wie können wir
Demi da wieder rausholn, Mama?«
Mama schüttelt den Kopf. »Wir?
Was, glaubst du, kann ich denn tun? Ich versteh was von Kaffee und
von Bohnen und davon, wie ich mich hier über Wasser halten kann,
aber mit der Polizei in dieser Stadt hab ich nie zu tun gehabt,
jedenfalls schon lang nicht mehr. Was sagt Fay dazu?«
»Fay? Fay hätt’s lieber, Demi ist
tot, als dass er auch nur einen Tag im Schloss überlebt und denen
von ihr erzählt. Aber Demi wird nie irgendwas sagen. Demi würd sich
nie gegen Fay stelln –« Baz bricht ab, und Mama pustet ein
bisschen, sagt aber nichts. Baz spannt ihre Finger um die kleine
Schüssel, aus der sie die Milch getrunken hat. »Wenn ich Demi da
nicht rausholn kann, wird Demi nicht überleben. Fay tut jetzt
nichts mehr für ihn ...« Aber wovor sie eigentlich Angst hat, das
ist noch viel schlimmer als das, viel schlimmer, als nichts zu
tun.
»Demi hat’s erwischt, Bazzie.«
Mama langt über den Tisch, fasst Baz’ Hand, gerade so, wie es auch
Fay getan hat. »Das ist es halt, was passiert, wenn man das tut,
was ihr tut. Ich will ja nichts sagen, aber das passiert eben. Wird
auch dir irgendwann passiern. Aber bis dahin hast du dein Leben.
Man kann nicht mehr tun, als das nehmen, was man hat.«
Nur weil jemand aussieht wie ein
Berg und immer ein Lächeln und ein freundliches Wort für
verschrammte kleine Ratten wie Baz und Demi übrig hat, muss das
nicht heißen, dass dieser Jemand Wunder bewirken kann. Dass er in
der Lage ist, das Tor zum Schloss einzuschlagen. Baz sieht sie an,
ohne zu blinzeln, und Mama wendet den Blick ab. Baz erwartet keine
Wunder, hat sie nie getan, von niemandem außer vielleicht von Demi,
aber sie hätte gern einen Rat. Sie trifft eine spontane
Entscheidung, greift in die Tasche, zieht den Ring hervor und legt
ihn auf den Tisch. »Da ist was, was ich hab.«
Mama bläst die dicken Backen auf.
»Tu das bloß weg, Kind. Dieser Ring bringt dir nichts als
Scherereien. Je schneller du den los bist, desto besser für dich.
Moros Leute stelln alles auf’n Kopf, um diesen Ring zu finden. Im
Barrio ist die reine Hölle los. Und diese Sache, von der du
erzählst – Haus vom Captain –, ich glaub, Fay hat den Verstand
verlorn! Das wird alles schwer auf uns zurückschlagen – das sag ich
dir gratis, Baz.«
»Glaubst du, die Frau von diesem
Captain hilft mir, wenn ich ihr den Ring zurückgebe?«
»Vielleicht. Vielleicht würd ihr
Mann irgendwas tun, wenn sie ihn drum bittet, aber die meisten
Leute legen sich nur ins Zeug, wenn man ihnen was anzubieten hat,
was sie wirklich wolln.«
»Vielleicht will sie wirklich
gerade diesen Ring zurück. Kann ich ihr nicht einfach sagen, dass
ich den Ring hab?«
»Nein, sag ihr nicht, was du hast
– sag ihr nur, dass du was hast, was sie gern habn möchte. Ruf sie
an. Sei aber vorsichtig, eh! Wart ab, was sie sagt. Wart ab, was
sie bereit is zu tun. Vielleicht will sie sich mit dir treffen,
aber wenn, dann achte drauf, dass du den Ort bestimmst. Und du
musst lange vor ihr da sein und gucken, dass keine Uniformen sich
da rumtreiben, die dich schnappen wolln.«
Baz nickt und schließt die Hand
fester um den Ring. Sie sieht nicht Mama an, sondern ihre Faust.
»Ich glaub, Fay will Demi umbringen lassen«, sagt sie plötzlich.
»Ich glaub, sie wird mit jemand reden, den sie kennt ...«
Mama Bali legt Baz eine Hand auf
den Mund. »Du tust, was du kannst. Mehr geht nicht. Und jetzt mach.
Ruf diese Frau an. Vielleicht hast du Glück, Baz.«
Baz muss ganz bis zum anderen
Ende des Agua-Platzes gehen, bis sie ein Münztelefon findet, das
funktioniert und neben dem auch ein Telefonbuch hängt. Sie findet
Dutzende Doluccas und muss mühsam buchstabieren, bevor sie die
Adresse von Eduardos Karte identifiziert. Sie wählt die
Nummer.
»Hallo.«
»Kann ich bitte Señora Dolucca
sprechen?«
»Wer ist da? Kenn ich Sie?« Es ist
eine männliche, aber junge Stimme. Eduardo. Wieso geht er ans
Telefon? Wieso sitzt er gemütlich in dem vornehmen Haus, während
Demi im Schloss steckt, vielleicht schon krepiert? In einer heißen,
stickigen Zelle. Hinter Gittern. Vielleicht mit brutalen Räubern
zusammen. Mit Mördern. Ohne jemand, der sich um ihn kümmert. Das
alles hat Eduardo so arrangiert. Es waren nicht nur der Fahrer und
Miguel, sondern Fays Junge höchstpersönlich. Er hat irgendeinen
Plan – einen großen Wirbel veranstalten, dafür sorgen, dass jeder
gegen jeden kämpft und er dann irgendwie das ganze Geld für sich
behält. Sie und Demi sind ihm vollkommen gleichgültig ... Wütend
starrt Baz ins Telefon, dann fasst sie sich.
Über seine Fragen geht sie hinweg.
»Señora Dolucca, bitte.« Sie hat diese Leute reden hören, war in
der Nähe, wenn sie Taxifahrern oder Portiers diese oder jene
Anweisung gegeben haben. Sie hat ihr vornehmes Getue erlebt und
gesehen, wie sie durch die Stadt schweben – nichts berührt sie,
niemand hält sie auf. Sie beantwortet seine Fragen nicht. Sie
spricht mit fester, kräftiger Stimme, einer
Komm-mir-nicht-blöd-Stimme. Niemand, nicht einmal Demi, hat sie je
so sprechen hören.
»Worum geht es?«
»Señora Dolucca.«
Es sind Stimmen im Hintergrund zu
hören. »Einen Moment.«
Dann kommt eine Frau ans Telefon.
»Hallo.«
Baz sieht sie vor sich, immer noch
mit dem gelben Hut, den sie getragen hat, als Demi seinen Zauber
veranstaltete. Fast kann sie das Klimpern der silbernen Armreifen
an ihrem schmalen Handgelenk hören. Ist sie eine kluge Frau oder
eher dumm? Baz hält sie nicht für übermäßig klug, wenn sie einen
Jungen wie Eduardo aufgezogen hat. Geld hat sie allerdings, diese
Frau, hat ein schickes Haus, liebt kostbare Dinge.
»Hallo. Wer ist da?«
»Ich habe was, das Sie haben
wollen«, sagt Baz.
»Wie bitte?«
Sie holt tief Luft. »Sie ham nur
eine Chance, zu sehn, was es ist. Kommen Sie in die Via Caliossa
und gehn Sie in die Bar an der Ecke. Ich finde Sie. Wenn Sie jemand
mitbringen, Ihrem Mann, dem Captain, Bescheid sagen, Ihrem Sohn
Bescheid sagen ...« Sie macht eine Pause. »... Ihrem Sohn, dem
Jungen, den Sie aufgenommen ham, als er noch ’n Baby war. Sie ham
jetzt auch eine kleine Tochter ...«
»Halt! Woher wissen Sie das
alles?«
Stimmen im Hintergrund.
»Sagen Sie denen, sie solln
weggehn. Das hier geht niemanden sonst was an.«
Sie hört Geräusche, die entstehen,
wenn ein Telefon vom Sprecher weggehalten, die Sprechmuschel
vielleicht noch abgedeckt wird. Die Stimme der Frau ist gedämpft,
aber Baz kann hören, was sie sagt. »Nein«, sagt sie. »Gut«, sagt
sie.
Baz hält den Hörer umklammert. Sie
lauscht sorgfältig. Wenn es jetzt gleich klickt, heißt das, dass
noch jemand anders mithört. Aber nein. Nur das Atmen der
Frau.
»Hallo. Hallo, sind Sie noch
da?«
Das ist schon mal gut. Die Frau
ist aufgeschreckt, vielleicht ein bisschen nervös, aber sie hat
niemanden herbeigerufen, hat auch nicht aufgelegt. »Wenn Sie sich
mit mir treffen wolln, kommen Sie zur Bar Central, in der Via
Caliossa. In einer Stunde. Leicht hinzukommen. Sicher. Sie kennen
den Laden. Kommen Sie allein und ich geb Ihnen die wertvolle Sache
– ich will kein Geld.«
Sie macht eine Pause, hört das
Atemgeräusch der Frau am anderen Ende der Leitung. Hinter ihr
rauscht der Verkehr. Irgendetwas veranlasst sie zu sagen: »Und ich
erzähl Ihnen etwas über Ihre Familie. Etwas, was Sie nicht wissen.
Aber Sie müssen allein kommen. Ham Sie mich verstanden, Señora
Dolucca? Ich kann sehn, ob Sie allein kommen oder nicht.«
Die Stimme am anderen Ende zögert.
Dann: »Wie erkenne ich Sie?«
»Gar nicht, aber ich werd Sie
erkennen, Señora Dolucca.« Sie legt auf. Eine Stunde. Okay. Sie
muss sich waschen, sich auf dem Markt ein neues Shirt und neue
Jeans kaufen. Vor allem aber muss sie sich beeilen und möglichst
schnell da sein. Mama Bali hat recht – sie muss sich davon
überzeugen, dass der Laden sauber ist, bevor sie sich der Frau zu
erkennen gibt. Zu leicht für Señora Dolucca, die Sache ihrem Mann
zu stecken. Zu leicht für ihren Mann, ein paar Leute dort zu
postieren, ein paar Greifer in unauffälliger Kleidung. Aber das ist
kein Problem, solange sie zuerst da ist und jeden unter die Lupe
nehmen kann, der hereinkommt. Einen Greifer erkennt sie jederzeit,
egal was für Klamotten er trägt, und wenn einer durch die Tür
kommt, dann verzieht sie sich eben und macht einen neuen
Plan.
Sie schwingt sich auf eine
Straßenbahn. Die Via Caliossa liegt ungefähr in der Mitte zwischen
dem Villenviertel und ihrem eigenen Bezirk. Gerade weit genug von
Señora Doluccas gewohntem Territorium entfernt, um sie ein bisschen
nervös zu machen, aber nicht weit genug, um sie abzuschrecken. Die
Bar, die Central, ist eine, die Fay eine Weile lang für ihre Zwecke
benutzt hat: Baz und Demi haben so manche lange Stunde damit
verbracht, draußen auf sie zu warten. Ein beliebter Treffpunkt, es
herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Baz hofft, dass man ihr
keine Schwierigkeiten machen wird. Sie streicht mit den Fingern
durch ihr kurzes Haar und betrachtet ihr Spiegelbild im
Straßenbahnfenster. So blass ist das Bild, dass sie sich kaum
erkennen kann, so als wäre sie gerade dabei zu verschwinden.
Fünfzehn Minuten später steht sie
vor der Bar. Eine Zeit lang hält sie noch Abstand, dann heftet sie
sich kurzerhand einem Mann und einer Frau an die Fersen, offenbar
ein Ehepaar. Es könnten ihre Eltern sein, abgesehen davon, dass sie
aus besseren Kreisen kommen. Sie haben nicht die stumpfbraune Haut
der Leute vom Land, so wie Baz.
Ein Kellner runzelt die Stirn.
»Entschuldigung«, sagt er, »gehört das Kind zu Ihnen?« Baz wartet
nicht erst ab, dass man ihr Fragen stellt. Ohne Eile spaziert sie
auf einen leeren Tisch am Fenster zu. Perfekt.
Dass der Kellner ihr folgen würde,
war klar. »Du kannst hier nicht sitzen.« Er wischt mit einem Tuch
über den Tisch, als wolle er nicht nur die Krümel, sondern sie
gleich mit wegfegen.
Sie lächelt ihm zu, so breit, wie
sie’s nur grade hinkriegt. Demi sagt, wenn sie lächelt, dann werden
ihre Augen so groß, dass ihm davon schwindlig wird. Sie weiß nicht,
ob das etwas Gutes ist, aber genau dieses Lächeln zeigt sie dem
Kellner, und außerdem zieht sie einen von Fays Geldscheinen aus der
Tasche und streicht ihn auf dem Tisch glatt. Ein Fünfziger.
Die Augen des Kellners weiten sich
ein wenig.
»Cola, bitte«, sagt sie.
Der Kellner neigt leicht den Kopf
und schlängelt sich dann zwischen den Tischen davon. Sie steckt den
Schein in ihre Tasche zurück. Eine Cola kostet nur neunzig Cent. Er
ist bescheuert, wenn er glaubt, dass sie ihm neunundvierzig Dollar
Trinkgeld gibt, aber Geld wirkt trotzdem Wunder. Sie wünschte, sie
hätte tausendmal so viel – dann könnte sie das Wunder bewirken,
Demi aus dem Schloss zu holen.
Die Cola wird serviert, und
während sie die ersten Schlucke nimmt, blickt sie sich gründlich
um, nimmt jeden einzelnen Tisch unter die Lupe. Alles sauber. Dann
beobachtet sie die Straße, hält Ausschau nach Señora Dolucca, nach
Polizisten in unauffälliger Kleidung.
Menschen strömen vorbei, einige
machen einen Abstecher ins Café. Ihre Cola ist fast leer, als sie
sie sieht. Auf hohen Hacken kommt sie die Straße
heruntergetrippelt, in einer mintgrünen Jacke zum mintgrünen Rock
und einer mintgrünen Tasche, die ihr über die Schulter hängt. Die
Dame muss wohl in diesen eisig kühlen Geschäften an der Hauptstraße
leben und dort ihr ganzes Geld ausgeben, um so auszusehen. Sie
trägt eine große dunkle Brille und blickt sich immer wieder mal
um.
Als sie die Bar betreten hat,
mustert Señora Dolucca die Tische, ohne den Kellner zu beachten,
der sich nach ihren Wünschen erkundigt. Ihr Blick schweift über Baz
hinweg und richtet sich auf eine Frau, die allein in der Ecke
sitzt. Baz beobachtet, wie sie nach kurzem Zögern auf sie zugehen
will. Schnell erhebt sie sich von ihrem Tisch. »Señora Dolucca«,
sagt sie. »Hier, ich hab ein Plätzchen für Sie freigehalten.«
Die Frau des Polizei-Captain zuckt
zusammen, fast als sei sie gestochen worden. »Du?«, sagt sie
zögernd. »Ich dachte, es wäre eine Frau gewesen, mit der ich vorhin
gesprochen habe.«
»Kommen Sie«, sagt Baz, und
instinktiv streckt sie die Hand aus, um die ältere Frau zwischen
den Tischen hindurchzugeleiten, und die Frau lässt sich, vielleicht
zu ihrer eigenen Überraschung, an die Hand nehmen. »Vielleicht
möchten Sie ’n Kaffee, vielleicht was Kaltes? Ich spendier Ihnen
was.«
Die dunklen Gläser schirmen sie ab
wie ein Paar Fensterläden, aber ihre Finger liegen krampfhaft auf
der Tasche, und die Tasche hält sie unter den Arm geklemmt wie
einen Flügel. Ihr Kopf dreht sich, mustert noch einmal die Bar. »Du
bestellst mich her und dann spendierst du mir etwas zu trinken?«
Ihre Stimme schwankt ein bisschen. Nervös.
Kostet sie einiges, ganz allein an
einen solchen Ort zu kommen, ohne zu wissen, wem sie begegnen wird,
mit der Sorge, dass ihr Leben oder das ihrer Kinder bedroht sein
könnte.
»Möchten Sie mit jemand anders
sprechen?«, sagt Baz. »Vielleicht lieber mit einem Mann ...«
»Nein.« Sie setzt sich, dann hebt
sie die Hand, und sofort ist der Kellner bei ihr. Eine solche Frau
muss nie auf Bedienung warten. »Tee«, sagt sie. »Jasmin. Haben Sie
den?« Der Kellner neigt den Kopf.
Es entsteht eine Pause. Die
schicke Frau und das Mädchen, so eng an dem runden Tisch
beisammensitzend, dass sich ihre Knie fast berühren, warten darauf,
dass der Kellner zurückkehrt. Baz macht ein möglichst neutrales
Gesicht. Sie ist sich nicht sicher, wie sie anfangen soll. Ihr
Gesicht verrät nichts, ihre Hände liegen entspannt auf dem Tisch.
Sie nimmt einen Schluck Cola. Sie sieht die Frau unentwegt
an.
Diese Frau ist der Schlüssel,
denkt sie, der Schlüssel, der mir Demis Zelle aufschließt. Aber wie
fängt sie das an? Ist diese Frau den ganzen Weg hierher wirklich
nur wegen des Rings gekommen, wegen eines Stücks Schmuck? Das
glaubt Baz einfach nicht. Längst hat sie Señora Doluccas
Schwarzmarktwert taxiert: hübsche Ohrstecker, gute Qualität;
Armreifen, vier, Silber, und eine hübsche Armbanduhr; keine Kette
oder sonst was um den Hals; Handtasche, teuer. Sie beobachtet, wie
der Mittelfinger der Frau, der mit dem fetten gelben Klunker am
Knöchel, an ihrem Daumennagel kratzt. Wie sie am Verschluss ihrer
Tasche herumfingert und dann blitzschnell eine Packung
Mentholzigaretten hervorzieht, sich eine herausklopft und sie
anzündet. Baz beschließt abzuwarten, die Frau die Fragen stellen zu
lassen.
»Diese wertvolle Sache ...«, sagt
Señora Dolucca, während sie Rauch ausbläst. »Wirst du mir sagen,
was es ist?«
Baz ignoriert die Frage. »Ham Sie
Ihrem Mann, dem großen Captain, gesagt, was Sie vorhabn?«
Señora Dolucca schüttelt den Kopf,
und dann rauscht schon der Kellner heran, stellt die Tasse mit
Jasmintee und eine winzige Schale mit dünnen schwarzen
Schokoladentäfelchen auf den Tisch. Er schiebt den Bon unter die
Schale, und dann, mit einer angedeuteten Verbeugung vor der
eleganten Frau, verzieht er sich wieder Richtung Bar.
»Was weißt du von meiner
Familie?«, fragt Señora Dolucca plötzlich.
Jetzt gilt’s. Baz kommt es ein
bisschen so vor, als wären sie bei dem Kartenspiel, das sie
manchmal mit Demi spielt, und Señora Dolucca hätte sich gerade in
die Karten gucken lassen. Sie nimmt sich eins von den
Schokotäfelchen. Als sie noch allein am Tisch saß, hat der Kellner
keine Schokolade gebracht »Ich weiß so einiges über Ihre Familie.«
Sie beugt sich vor und senkt ihre Stimme. »Ich weiß, dass Ihr Mann
Geschäfte macht, die keine Polizeigeschäfte sind.« Die Schokolade
schmilzt zwischen ihren Fingern, daher steckt sie sie rasch in den
Mund. Sie schmeckt so, wie der Himmel wohl schmecken muss. Ohne zu
überlegen, greift sie nach dem nächsten Stück.
Die Frau sitzt ganz still. Von
ihrem Tee hat sie noch keinen Schluck getrunken.
»Machen Sie sich Sorgen wegen
Ihren Kindern?«
»Bedroht ihr meine Kinder?« Ihre
Stimme klingt dünn, brüchig vor Angst und Zorn. »Letzte Nacht. Du
weißt, was letzte Nacht passiert ist in meinem Haus. Weißt du
davon?«
»Ja.«
»Was hatte das zu bedeuten?«
Baz zuckt nicht mit den Wimpern.
Es hatte zu bedeuten, dass eine Menge Geld geklaut wurde. Es hatte
üble Machenschaften zu bedeuten, zwei Ratten, die mit dem Auto
getürmt sind, und Demi in den Händen der Polizei. Das hatte es zu
bedeuten. Es hatte zu bedeuten, dass Demi angeschossen wurde. Dass
Demi ins Schloss geschleppt wurde und Baz sich verstecken musste,
ohne ihm zu helfen, weil es nichts gab, was sie hätte tun können.
Es hatte zu bedeuten, dass sie erlebt hat, wie Fay aus ihrer
Große-Schwester-Haut geschlüpft und zu dieser anderen Person
geworden ist, einer Person, der Demi egal zu sein scheint, der
alles egal ist außer sie selbst.
Und vielleicht hatte es noch mehr
als all das zu bedeuten. Vielleicht gehörte es zu Eduardos Plan,
Demi loszuwerden. Warum nicht? Und auch Baz loszuwerden, warum
nicht? Will er nicht Fay ganz für sich haben, die Mutter, die ihn
weggegeben hat? Und will nicht auch sie ihn ganz für sich?
Die magere Hand der Frau legt sich
plötzlich wie eine Klaue um Baz’ Handgelenk, die Fingernägel graben
sich in ihre Haut. »Sag es mir. Was hatte das zu bedeuten? Für wen
arbeitest du? Bist du eine Botin von einem der ... Geschäftspartner
meines Mannes? Geht es irgendwie um meine Familie?«
»Es hat ’ne Menge für Sie zu
bedeuten, Señora Dolucca, falls Sie Ihrn Sohn verliern oder
vielleicht Ihre Tochter. Das würd Ihnen wehtun, viel mehr, als Sie
meiner Hand jetzt wehtun.«
Sie zieht die Hand weg, als hätte
sie sich plötzlich an Baz’ Haut verbrannt. »Was willst du von
mir?«
Baz blinzelt. Sie hält sich straff
wie eine Trommel. Sie sagt die richtigen Worte zu dieser Frau. Sie
hat das Gefühl, sie würde gegen eine Tür drücken und diese Tür
würde Stück für Stück nachgeben. »Ein Junge ist letzte Nacht
angeschossen worden, direkt vor Ihrm Haus. Hat’n Schuss abgekriegt,
wurde ins Schloss geschafft. Der Junge ist nicht viel älter als
ich.« Sie macht ihre Stimme kalt und hart wie ein Messer. »Verstehn
Sie, was ich sage?«
»Du glaubst, dass ich dir helfen
kann!«
»Sie ... Ihr Mann. Ja. Sie können
mir helfen.«
»Mein Mann!« Sie lacht
bitter.
»Okay, Sie dann eben. Sie können
diesen Jungen aus dem Schloss rausbekommen.« Sie holt Luft. »Stelln
Sie sich vor, Ihrn Kindern würde so was passiern. Wie Sie sich dann
fühln würden.«
»Meine Kinder verstoßen nicht
gegen das Gesetz.«
»Es kann immer irgendwas Schlimmes
passiern«, sagt Baz verdrossen und denkt an Raoul, an Demi.
Vielleicht hört Señora Dolucca
etwas anderes aus Baz’ schlichter Feststellung heraus. »Und wenn
ich nicht helfen kann?«, sagt sie.
Nicht, wenn ich nicht will,
sondern wenn ich nicht kann. Die Tür ist wieder ein Stück weiter
offen. Nur noch ein kleiner Schubser, und die Frau wird tun, worum
sie sie bittet. »Wissen Sie, wie der Dieb letzte Nacht in Ihr Haus
gekommen ist?«
Señora Dolucca zieht an ihrer
Zigarette. Sie antwortet nicht.
»Sie ham ein großes, starkes Tor.
Sie ham ’ne dicke hohe Mauer. Sie ham ’ne Alarmanlage. Sie ham ’n
großen Polizei-Captain als Mann. Sie glauben, dass Sie sicher sind?
Niemand ist je sicher. Der Dieb kommt rein, ganz leicht. Der Dieb
kommt überall rein, wo er will. Weil’s immer jemand gibt, der dem
Dieb sagt, wie.«
Die Frau zuckt zusammen.
»Wer?«
Baz schüttelt den Kopf. »Kommen
Sie mit mir mit. Kommen Sie. Lassen Sie den Jungen frei und keiner
kommt Ihrm Haus mehr nah. Keiner kommt Ihrn Kindern mehr
nah.«
»Hältst du mich für vollkommen
blöd? Wie kann ich mich auf das verlassen, was du sagst? Du! Ein
Kind!« Sie drückt ihre Zigarette aus.
Baz greift in ihre Tasche. Es geht
um alles. Sie zieht den Ring hervor und legt ihn auf den Tisch.
»Das ist mein Pfand.« Sie lässt einen Finger auf dem Ring liegen.
»Reden wir über die Gegenleistung. Helfen Sie mir, meinen Bruder
zurückzukriegen?«
Die Frau ist fast reglos. Ganz
langsam nimmt sie ihre dunkle Brille ab. Ihre Augen, so ist jetzt
zu sehen, haben rote Ränder, die Haut um das linke Auge ist
verfärbt, etwas gelblich, ein ehemals blauer Fleck. »Wo hast du das
her?« Sie hält inne. »Der Junge? Ist das derselbe Junge, der mich
bestohlen hat?« Plötzlich lacht sie und schüttelt den Kopf. »Und er
ist dein Bruder?« Sie mustert Baz, als würde sie sie erst jetzt so
richtig wahrnehmen. »Ich erinnere mich an ihn, diesen Jungen. Er
ist dir nicht so besonders ähnlich. Du kommst vom Land. Warum ist
er dir so wichtig? Hat dir jemand aufgetragen, dass du das hier tun
sollst? Jemand Älteres? Deine Mutter vielleicht? Seine Mutter?« Baz
antwortet nicht. »Nein. Du hast keine Familie, nicht wahr? Außer
ihm.« Sie nimmt den Ring in die Hand. »Und den würdest du mir
wiedergeben? Ich könnte ihn mir jetzt einfach nehmen. Ich könnte um
Hilfe rufen. Könnte sagen, dass du ihn mir stehlen wolltest. Das
alles könnte ich tun, und was könntest du dann tun?«
Baz sieht den Ring nicht an. Sie
sieht nur Señora Dolucca an, blickt ihr in die Augen.
Nach einer Weile schiebt die Frau
des Polizei-Captain den Ring sanft zu Baz zurück. »Bewahr ihn
sicher auf. Ich werde mit dir zum Schloss gehen. Ich möchte diesen
Jungen wiedersehen. Vielleicht können wir etwas tun.« Sie setzt
ihre Brille wieder auf und hebt die Hand. Der Kellner ist zur
Stelle und sie bezahlt die Rechnung. Baz steckt den Ring zurück in
ihre Tasche. »Der Ring«, sagt Señora Dolucca, während sie vom Tisch
aufsteht, »ist das die wertvolle Sache?«
Baz schüttelt den Kopf. »Nein.«
Sie hatte geglaubt, die Señora wäre eine dumme Person, eine
verwöhnte reiche Frau, eine Frau, mit der man einen Handel
abschließen kann, ohne etwas für sie zu empfinden. Das ist jetzt
anders, nachdem sie sich bereit erklärt hat zu helfen, nachdem Baz
den gelben Bluterguss an ihrem Auge gesehen hat.
»Das habe ich mir gedacht. Es ist
etwas, das du weißt, etwas, das du mir erzählen kannst.«
»Es ist nichts Gutes«, sagt
Baz.
»Nein, damit habe ich auch nicht
gerechnet. Sagst du immer die Wahrheit?«
Baz denkt kurz nach.
»Immer.«
»Na gut. Dann sag mir: Wenn ich
von dieser Sache weiß, die du mir mitteilen kannst, wird dann meine
Familie sicher sein, dadurch, dass ich es weiß?«
»Vielleicht.«
Señora Dolucca zeigt ein trockenes
Lächeln. »Du bist ein verschlossenes Ding, nicht wahr? Wie eine
Venusmuschel.«
Baz weiß nicht, was eine
Venusmuschel ist.
Die Frau streckt die Hand aus.
»Wir nehmen uns ein Taxi, in Ordnung?«
Baz fühlt, wie ihr Herz einen Satz
macht. So leicht ist das. Sie geht einfach mit dieser Frau mit, und
dann holen sie Demi, als würde man in ein Geschäft gehen. Für diese
Frau funktioniert vielleicht das ganze Leben so, wie wenn man in
ein Geschäft geht und dort bekommt, was man haben will. Aber jetzt
gehen sie ins Schloss.
Ohne zu überlegen, ergreift Baz
die Hand, und sie verlassen zusammen die Bar.