13
Nur der einmal wöchentlich
verkehrende Bus, der bis ganz ins Landesinnere fährt, überquert die
nördlichste Brücke der Stadt, und der ist erst in drei Tagen wieder
fällig. Daher steigen Baz und Demi am Rand des Barrio in eine
Straßenbahn und fahren damit bis zur letzten Haltestelle im zehnten
Bezirk, zwei Stationen hinter Basquat. Dann gehen sie zu Fuß
weiter.
Bei der Brücke angelangt, lassen
sie sich etwas Zeit, um sich umzuschauen. Hier oben trägt der Fluss
etwas mehr Leben in sich, dennoch ist er nicht viel mehr als ein
seichtes Bächlein, das durch ein viel zu breites Bett strömt. Wenn
sie nach Süden Richtung Stadt blickt, kann Baz durch den
mittäglichen Staub und Dunst nichts weiter erkennen als
schemenhafte Gebäude, wie ein ausgeblichenes Graffito. Es ist die
andere Richtung, im Norden und Osten, wo die Hügel und das saubere
grüne Land liegen, von denen Baz träumt. Lieber würde sie dorthin
fahren, aber ihre Aufgabe ist eine andere. Der Berg liegt auch viel
näher, vielleicht nur eine halbe Stunde von ihrem Standort
entfernt, falls sie Glück haben und den richtigen Laster erwischen.
Sie teilen sich etwas zu trinken und lassen sich nieder, um zu
warten.
Jede Menge Lastwagen fahren in
diese Richtung. Lastwagen sind sowieso das, was man auf dieser
Straße am häufigsten sieht. Polternd und pfeifend zockeln sie über
die Schnellstraße und ziehen Staubwolken hinter sich her auf ihrem
Weg zu den großen Landwirtschaftsbetrieben. Doch Baz und Demi
halten Ausschau nach Mülltransportern oder auch nach den riesigen
Kompressor-Lkws; die Stadt unterhält eine ganze Flotte davon, um
den Abfall der Reichen platt zu drücken.
»Hat Fay dich gesehen, als du
zurückgekommen bist?«
»Hat sie, ja.«
»Hat also doch nicht so gut
geklappt, an ihr vorbeizuschleichen?«
Demi verdreht die Augen und wedelt
mit der Hand, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Was erwartest
du? Sie macht die Augen auf, sie sieht mich ...«
Baz unterbricht ihn. Sie hat gar
nicht die Absicht, Demi zu necken, die Blase aufzustechen, in der
er die Hälfte der Zeit durch die Gegend spaziert. »Wollte sie
wissen, was du und ich machen?«
»Wollte sie, ja.«
»Du hast es ihr gesagt!«
Baz gibt nicht viel von ihren
Gefühlen zu erkennen, Fay gegenüber nicht, den anderen gegenüber
nicht, aber bei Demi ist es anders, außer wenn sie bei der Arbeit
sind. Er kann in ihr ebenso lesen wie sie in ihm. Nur ist es halt
so, dass Demis Aufmerksamkeit meistens ganz auf sich selbst
gerichtet ist. Diesmal jedoch sieht er, wie ihre Augen sich weiten,
und er hört die Sorge in ihrer Stimme. »Hab ihr erzählt, wir würden
uns neue Straßen angucken und das Haus checken, das wir unbedingt
ausrauben sollen.«
Er tut so, als sei weiter nichts
dabei, Fay solche Schwindeleien aufzutischen; es ist aber sehr wohl
etwas dabei. Sie erzählen Fay keine Lügen, denn Fay kommt einem
immer auf die Schliche. Einige von den Kindern, die zu ihr kommen,
lügen, manche versuchen sie zu betrügen. So was passiert immer mal.
Und dann müssen sie eben gehen, so wie Paquetito. »Ist niemand
sicher, wenn Fay nicht sicher ist.« Das ist es, was sie ihnen immer
wieder sagt. »Und wenn ihr Fay irgendwas erzählt, und sie findet
heraus, dass es nicht wahr ist, dann fühlt Fay sich nicht mehr
sicher.« Sie spricht von sich in der dritten Person, so als wäre
dieser strenge und gefährliche Mensch gar nicht sie selbst, sondern
jemand, der nur dann aus den dunklen Ecken der Bude hervorkommt,
wenn sie von einem der Kinder angelogen wird. »Und wenn Fay sich
nicht sicher fühlt, dann ist dies nicht der richtige Ort für euch,
und der Schattenmann kann kommen und euch mitnehmen.« Wenn sie
solche Sachen sagt, dann klingt ihre Stimme auch nicht so wie ihre
normale Stimme, die warm und herzhaft sein kann wie Bohneneintopf,
sondern dann klingt sie kalt wie eine Nadel, die sich einem ins
Herz bohrt.
Demi hat sich abgewendet. Er wird
immer ganz zappelig, wenn Baz ihn länger ansieht, trotzdem studiert
sie weiter sein Gesicht, während er die Straße hinunterstarrt und
die Staubwolke beobachtet, die das Nahen eines weiteren Lasters
ankündigt.
»Was hat sie gesagt, als du ihr
erzählt hast, dass du das Haus checken willst?«
»Nichts. War ja das, was sie hörn
wollte.«
»Aber sie wird fragen, wenn wir
zurückkommen. Also müssen wir wirklich hin und gucken – und wie
solln wir das machen, wenn wir hier sind, um Raoul zu
suchen?«
»Mach dir nicht in die Hose, Baz.
Wir können hinterher noch gucken gehen, ist nicht weiter schwierig.
Ich weiß, wie man das Haus findet, das sie im Auge hat, und
außerdem war ihr die Sache gar nicht so wichtig. Sie wollte nur,
dass ich ihr ’n Aspirin hole und nicht so’n Lärm mache. Ich und
Lärm! Seit wann, bitte schön, mach ich Lärm? Na ja, ich hab
ihr das Aspirin gebracht, und dann hat sie mir noch gesagt, dass
wir beide später wieder rechtzeitig zurück sein müssten.«
Er verstummt und hüpft ein
bisschen auf den Zehen auf und ab. Es ist sein
»Mir-doch-egal«-Hüpfen. Es bedeutet, dass ihm irgendwas zu schaffen
macht, er aber nicht darüber nachdenken will. »Miguel war auch
schon auf«, sagt er unvermittelt. »Hab gesehn, wie er die Sachen
von den andern Jungs durchgeguckt hat. Er hat echt Rattenblut in
den Adern. Hab ihm gesagt, wenn er meine Sachen anrührt, begrab ich
ihn im Fluss.«
»Da bist du jetzt Experte,
ja?«
»Experte im Rauskommen aus
schwierigen Situationen, das bin ich.«
»Wie du dich wieder aufbläst,
Demi! Ich mach mir echt Sorgen, wenn du das tust. Irgendwann bist
du plötzlich so voller Luft, dass du aufsteigst wie ein Ballon und
einfach wegwehst.«
»Fliegen. Könnt ich ohne
Weiteres.« Er grinst, dann springt er auf, tritt an die Straße und
schwenkt beide Arme auf und ab – nicht um zu fliegen, natürlich,
sondern um den nahenden Laster zum Anhalten zu bewegen.
Mit durchdringendem Quietschen der
Bremsen kommt ein Monsterlaster der städtischen Müllentsorgung
neben den beiden zum Stehen und ein Fenster wird heruntergelassen.
Das Gesicht im Fenster trägt die gleiche verspiegelte dunkle
Sonnenbrille, wie die Polizisten sie haben. Die Haare des Mannes
sind zu kurzen grauen Stoppeln geschoren, aber dafür hat er einen
überdimensionalen struppigen Schnauzbart, der sich bis unter die
Mundwinkel zieht. Sprechen tut er langsam, mit breitem ländlichem
Akzent. »Wo wollt ihr hin?«
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung
deutet Demi in die Richtung, in die sie wollen, über die Brücke und
landeinwärts. »Zum Berg«, sagt er.
»Da fahr ich hin«, sagt der Mann.
»Steigt ein.« Er macht die Tür auf, Demi klettert als Erster hoch,
Baz folgt ihm. Sobald die Tür geschlossen ist, legt der Fahrer den
Gang ein und fährt wieder los. »Sechster Bezirk«, sagt er, »jeden
Tag. Die Tour könnt ich blind machen.« Er wirft ihnen einen Blick
zu. »Gibt nicht viele Leute, die in diese Richtung wollen. Kommt
echt selten vor. Habt ihr Familie da draußen oder so?« Er ist ein
voluminöser Mann, sein schweißnasses Jeanshemd spannt bedrohlich
über dem Bauch. Das Lenkrad wirkt wie ein Spielzeug in seinen
Händen. Sein Atem riecht nach Zwiebeln.
»Sozusagen«, sagt Demi.
Baz findet, dass das eine gute
Antwort ist, weil Familie das ist, was sie mit Raoul verbindet.
Demi verändert sich, denkt vielleicht schon ein bisschen mehr so
wie sie und ein bisschen weniger wie Fay. Würde er noch so denken
wie Fay, wäre sie jetzt alleine auf diesem Laster unterwegs.
Der Fahrer findet die Antwort
allerdings nicht so toll. »Von ’ner ›Sozusagen‹-Familie hab ich
noch nie gehört«, sagt er. »Wenn meine Familie so was über mich
sagt, tret ich ihnen in ’n Hintern.« Er lacht, und Baz fragt sich,
was für eine Familie er wohl hat, wenn ihn die Vorstellung, ihnen
in den Hintern zu treten, zum Lachen bringt. »Schon vorher mal hier
in der Gegend gewesen?« Er fasst sie kurz ins Auge, will sich
vielleicht ein Urteil bilden, aus was für einem Viertel sie kommen.
Sie wirken beide gepflegt, jetzt wo Demi frisch gewaschen ist und
sich saubere Sachen angezogen hat. Vielleicht sind sie ein klein
bisschen mitgenommen von der Wanderung, aber sie sehen nicht übel
aus. Jedenfalls nicht wie irgendwelches Lumpengesindel, das die
Polizei einfach von der Straße zu fegen pflegt und dabei sicher
sein kann, dass niemand groß nachfragt, zu welchen Methoden sie
dabei greift.
»Ham die Ratten eure Zungen
aufgefressen?«, sagt der Fahrer. »Hab gefragt, ob ihr schon mal
auf’m Berg draußen wart?«
Sie schütteln beide den Kopf.
»Nein, Señor«, sagt Demi. »Wir genießen nur die Fahrt. Gibt nicht
oft die Gelegenheit, in so ’nem tollen Laster zu sitzen.«
»Bin kein neugieriger Mensch«,
sagt der Fahrer, »aber wenn jemand ankommt und mit in meinem
Fahrerhaus sitzt, dann erwarte ich, dass er sich ’n bisschen mit
mir unterhält.« Er lässt ein Lächeln aufblitzen, vielleicht um zu
signalisieren, dass er’s nicht böse meint, aber Baz sieht in dem
Lächeln hauptsächlich die gelben Zähne und dass sich keine kleinen
Fältchen rund um die Augen bilden wie bei Mama Bali, wenn sie
lächelt. Sie möchte sich nicht mit ihm unterhalten, sie möchte aus
dem Fenster schauen, über die staubige Flussebene hinaus bis zu den
Hügeln, die sich behaglich entlang des Horizonts hinstrecken. Er
ist einfach zu groß, zu groß für das Führerhäuschen. Sicher, sie
hat genügend Platz auf dem Sitz, trotzdem fühlt sie sich von seiner
Gegenwart erdrückt. Seine laute, schleppende Sprechweise scheint
die Luft förmlich aufzusaugen, macht es schwer, überhaupt zu
atmen.
Demi aber stört das alles nicht.
Er ist der Ansicht, dass er allen Leuten in der Stadt ebenbürtig
ist, selbst dem Bürgermeister. Dass er eigentlich noch ein kleiner
Junge ist, vergisst er dabei gern.
»Arbeiten viele Leute auf dem
Berg?«, fragt Demi.
»Jede Menge. Einige leben in
Häusern innerhalb der Umzäunung. Ist, als würd man in seinem Büro
wohnen.« Wieder lacht er und schüttelt den Kopf, als könne er nicht
fassen, wie dumm manche Leute sind. »Manchmal sieht’s aus wie auf
einem Ameisenhügel, bei dieser ganzen Sortiererei. Da gibt’s Papier
hier und Plastik dort; dann ham sie auch noch Altkleider und Glas
und Gummi. Recycling, nicht wahr. Ganze Stadt wird recycelt! Machen
gutes Geld aus dem letzten Dreck.« Erneutes Kopfschütteln. »Also,
ich hab mal versucht, Mais und Süßkartoffeln anzubauen, hatte
außerdem noch ’n paar Kühe. Hab ich damit Geld verdient? Nee. Sechs
Bäuche zu füllen und nichts als Schulden in der Tasche. Aber die
Leute da, die können sogar aus’m Abfall noch Geld rausquetschen.
Hat irgendwie keine Logik, wie die Welt funktioniert, wenn man mich
fragt.«
»Die werden also bezahlt, diese
Familien?« Baz nimmt einen veränderten Ton in Demis Stimme wahr.
Geldfragen interessieren ihn immer.
Da sie sich noch gut an die
wenigen Informationen erinnert, die Lucien ihnen gegeben hat, ist
Baz wenig überrascht, als der Fahrer zu lachen anfängt. »Bezahlung?
Vielleicht auch noch ’ne kleine Betriebsrente?« Er dreht sich mit
einer Hand eine Zigarette und steckt sie sich zwischen die Lippen.
»Geld wird verdient auf dem Berg, aber das geht an den Mann, dem
der Berg gehört, der ist es, der die Kohle in der Tasche hat.
Privatwirtschaft. Sobald ich ’n bisschen Geld auf die Seite gelegt
hab, kauf ich mir meinen eignen Laster, mach mein eignes Geschäft.
Wenn du dein eigner Herr sein willst, brauchst du Geld. Hat euch
das schon mal jemand gesagt?«
»Ja, ham wir schon gehört«, sagt
Demi.
»So isses nämlich auch.« Er zeigt
mit seiner Selbstgedrehten in Demis Richtung. »Ihr macht mir einen
ganz cleveren Eindruck. Möchte wetten, dass ihr auch ehrgeizig
seid.«
»Jawohl, Señor«, sagt Demi. »Wir
sind ehrgeizig. Wir ham große Dinge vor, Baz und ich. Wir wolln
–«
Baz drückt ihm den Ellbogen in die
Seite und sagt, ohne auf seinen verärgerten Blick zu achten: »Wir
wolln vielleicht mal ’n kleines Restaurant aufmachen. Essen müssen
die Leute immer.« Sie will nicht, dass er dem Mann irgendetwas
verrät.
Der Fahrer nickt jedoch. »Das ist
wahr«, sagt er. »’n Restaurant, das ist ’ne Idee, tatsächlich.« Er
macht eine Pause, um an seiner Zigarette zu ziehen. »Aber wozu
fahrt ihr dann hier raus? Hier kommt doch kaum mal jemand hin. Wenn
ihr sagt, dass ihr da jemanden auf dem Berg habt, ist das
vielleicht jemand, der sich Ärger eingehandelt hat? Ich hör nämlich
so manches, müsst ihr wissen, Kids so wie ihr – nein, ich sollt
vielleicht nicht sagen, so wie ihr, aber ungefähr in eurem Alter –,
die was mit der Polizei zu tun kriegen, vielleicht mal ein oder
zwei Nächte im Schloss zugebracht ham, die landen gern auf dem
Berg.« Er sagt es ganz beiläufig, aber Baz bekommt ein mulmiges
Gefühl. »Habt ihr so jemand da?«, fragt er noch einmal.
»Ja, genau.« Demi plaudert es aus,
bevor Baz ihn daran hindern kann. »Dieser Junge macht sich immer
wieder Scherereien, hat ’ne Klappe, die größer ist als Ihre Garage,
Señor, aber wir hoffen trotzdem, dass er nicht hinterm Zaun
gelandet ist.« Er bricht abrupt ab, weil Baz ihn gekniffen hat.
»Wir wolln nur mal nachgucken, wissense.« Er wirft Baz einen kalten
Blick zu, bevor er sich wieder dem Mann zuwendet. »Das ist jetzt
echt günstig für uns, dass wir bei Ihnen mitfahrn können. Sind wir
sehr dankbar für, Señor. Vielleicht ham wir auf’m Rückweg ja noch
mal die Gelegenheit.«
Baz wendet sich ab. Er ist immer
so selbstsicher. Glaubt, dass er alles weiß, alles kann. Auf der
Straße mag er ja der King sein, aber es gibt Situationen, da ist er
so von sich selbst geblendet, dass er keinen klaren Gedanken mehr
fassen kann. Dieser Mann ist nicht das, was er zu sein vorgibt.
Dessen ist sie sich so sicher, wie man nur sein kann. All diese
Fragen. Sie schließt die Augen und hofft inständig, dass Demi sich
überlegt, was er sagt.
»Könnt schon sein«, sagt der
Fahrer. »Ich seh da kein Problem. Wenn ihr an der Straße steht,
nehm ich euch mit – klarer Fall.« Er pult sich einen Tabakkrümel
von der Lippe und wischt ihn dann an seinem Hemd ab. »Und dieser
Freund von euch, hat der einen Namen? Vielleicht hab ich was
gehört, was ich euch weitersagen kann. Ist er vielleicht aus’m
Barrio, euer Freund? Hab ’ne Menge Freunde im Barrio. Ist ’n
anständiges Viertel, egal, was manche Leute sagen.«
»Ja«, sagt Demi, »er ist aus’m
Barrio, aber hat niemandem was getan, dieser Junge.«
»Wie heißt er?«
»Raoul«, sagt Demi.
Baz macht die Augen auf. Der dicke
Raoul mit seinem Lächeln, das so breit war, dass man es in eine
Pfanne werfen und braten konnte wie eine Tortilla. Wie konnte man
Raoul nicht mögen? Wie konnte Fay ihn gehen lassen? Fay trägt eine
Portion Gift im Herzen, daher kommt es. Und jetzt hat Demi diesem
Fahrer mit den langen gelben Zähnen Raouls Namen verraten. Zu viel,
er verrät einfach zu viel. Sie blickt aus dem Fenster und versucht
positiv zu denken. Vielleicht haben die Familien, die draußen auf
dem Berg wohnen, Raoul aufgenommen. Vielleicht müssen sie gar keine
Befreiungsaktion starten. Vielleicht. Vielleicht. Manchmal scheint
das Leben aus einer ganzen Kette von »Vielleichts« zu bestehen, die
sich aber anscheinend nie in handfeste Wirklichkeit verwandeln
wollen. Lucien hatte eine Familie, aber die hat ihn einfach zum
Sterben an den Straßenrand gelegt – wie groß ist da also die
Chance, dass Raoul ein bisschen Freundlichkeit erlebt an einem Ort,
wo solche Menschen hausen?
Der Fahrer stößt eine dünne
Rauchfahne aus. »Nein, von einem Raoul hab ich nie erzähln hörn,
aber das will nichts heißen. Ich kipp einfach nur immer meine
Ladung ab und fahr dann zurück in die Stadt.« Als er bemerkt, dass
Baz sich vorbeugt und ihn ansieht, sagt er: »Bist’n merkwürdiges
Ding, du. Was bist’n eigentlich, Junge oder Mädchen?«
Demi muss lachen. Kann nicht
anders. »Das halbe Barrio fragt das immer«, sagt er und lacht noch
mehr, bis Baz ihm einen Stoß gibt.
»Mädchen«, sagt sie. »Und ich kann
auf mich selbst aufpassen.«
Demi schüttelt seine rechte Hand
in der Luft, dass die Finger hin- und herwedeln – so als wäre sie
eine echte Gefahr. »Hat ’n Tritt wie ’n Maultier.«
»Du hast noch nie ’n Maultier
gesehn!«, sagt sie, verärgert darüber, dass er mit diesem Mann
herumscherzt.
»Kannst du bestimmt«, sagt der
Mann nickend, dann wiederholt er: »Kannst du bestimmt.« Sie
hat allerdings das Gefühl, dass er von sich selbst spricht, nicht
von ihr. Er lacht und lächelt auch nicht, so wie Demi. »Wie heißt’n
ihr eigentlich?«
»Das hier ist Baz, ich bin
Demi.«
»Also gut, Baz, ich sag euch mal,
was ich tun werde. Ich mag euch Kids. Macht ’n anständigen
Eindruck. Ihr sucht nach eurem Freund. Das gefällt mir. Passt auf,
ich fahr euch zum Betriebshof – da hab ich Freunde. Mit denen red
ich mal, stell ’n paar Fragen, und vielleicht, vielleicht gegen ’ne
kleine Anerkennung, finden sie euern Freund, diesen Raoul, und
vielleicht lassen sie ihn ja sogar gleich mit euch mitgehn. Was
sagt ihr dazu?« Und er starrt sie dabei, die buschigen Augenbrauen
bis über den Rand seiner dunklen Brille hochgezogen, so lange und
eindringlich an, bis Baz richtig Angst kriegt, dass sie gleich von
der Straße abkommen.
»Damit würdense uns ’n
Riesengefallen tun«, sagt Demi.
Der Fahrer grunzt. »Nicht der Rede
wert. Ist wichtig, dass man sich gegenseitig hilft.«
Für Baz klingen seine Worte
schmierig. Sie wundert sich, dass Demi das nicht ebenso empfindet.
Sie glaubt nicht, dass der Mann irgendetwas von dem tun wird, was
er angeboten hat, aber es gibt nichts, was sie dagegen sagen kann.
Sie kann hier nur sitzen, seinem Gerede zuhören und hoffen, dass
Demi nichts sagt, was sie erst richtig in Schwierigkeiten
bringt.
»Ist das hier die Sorte
Anerkennung, an die Sie gedacht ham?« Demi legt einen Zehner aufs
Armaturenbrett, und der Fahrer lächelt.
»Wusste doch sofort, als ich euch
beide gesehn hab, dass ihr Klasse habt.« Er nimmt den Schein und
steckt ihn in seine Hemdtasche. Drückt dann den Stummel seiner
Selbstgedrehten im Aschenbecher aus. Danach wird er schweigsam,
summt nur noch ein bisschen vor sich hin. Baz sieht armselig karge
Felder vorbeiziehen. Dürre Bäume und ausgetrocknete
Bewässerungsgräben vierteilen das verödete Land. »Wennse nicht bald
mal Wasser in den Fluss tun«, sagt der Fahrer nach längerer Zeit,
»dann wird das ganze Land hier verdursten.«
Wie sich herausstellt, ist auch
seine kleine Farm im Hochland ausgetrocknet, kurz nachdem der Damm
gebaut wurde, aber er gehörte noch zu denen, die Glück hatten, wie
er sagt, Glück nämlich, in der Stadt Arbeit zu finden, und Glück
auch, sie behalten zu haben.
Sie biegen von der Schnellstraße
ab und winden sich einen Sandweg entlang, vorbei an einer Reihe von
Hütten und einem umzäunten Gelände, auf dem sich kaputte und vor
sich hinrostende Autos türmen. Ein alter dürrer Kran pickt an den
Wracks herum, hebt sie hoch und lässt sie wieder herunterkrachen,
worauf das zersplitternde Glas wie aufspritzendes Wasser in der
Sonne tanzt und funkelt. Baz muss dabei an die langschnäbeligen
Vögel denken, die sie oft durch den weichen Schlamm staksen sieht.
Der Fahrer lässt seine Hupe lang und laut ertönen, bis eine Hand
von ganz oben auf dem Kran zurückwinkt, und dann haben sie das
Gelände auch schon hinter sich gelassen.
Kurz darauf kurbelt der Fahrer
sein Fenster herunter, und die abgestandene Luft im Führerhaus
vermischt sich mit einem süßlichen, beißenden Geruch, von dem Baz
das Würgen bekommt. »Riecht ihr das?«, sagt er. »Setzt sich in die
Haare, in die Haut. Das ist der Berg. Wenn du dich zu lange hier
aufhältst, findst du keine Frau mehr, weil du nur noch nach
Verwesung stinkst.« Wieder lacht er, und Baz dreht den Kopf weg,
damit sie seine Zähne nicht sehen muss. »Da ist er.«
Genau vor ihnen erhebt sich ein
stinkender Müllberg. Wo man hinguckt, glimmen kleine Feuer. Wie
Augen, denkt Baz. Und von jedem dieser Feuer steigt dünner Rauch in
den windlosen Himmel, wie Haarsträhnen. Und auf der
totenschädelähnlichen Kuppe des Bergs kann sie Gestalten erkennen,
die sich langsam bewegen.
Demi hält die Luft an und
bekreuzigt sich. So etwas hat Baz bei ihm noch nie gesehen. »Das
sieht aus wie die Hölle«, sagt er.
»Irgendwo muss der Abfall der
Stadt ja hin.« Der Fahrer bremst etwas ab und fährt nun ganz am
Rand des Weges. Zur Rechten liegen noch mehr verbrannte Felder;
geradeaus befinden sich ein Betriebshof und ein Lkw-Fuhrpark, von
dem gerade ein Laster herunterfährt, und dahinter dann eine ganze
Ansammlung von Barackendächern, die sich bis zum Fuß des Berges
hinziehen. Das Einzige, was sich zwischen ihnen und dem Müll
befindet, ist der Drahtzaun, und an einigen Stellen sieht es so
aus, als sei der Berg so groß geworden, dass er über den Zaun zu
kippen und die Häuser unter sich zu begraben droht. Noch etwas
sieht Baz, etwas, womit sie nicht gerechnet hat: zwei Männer, die
an der Außenwand des Betriebshofs herumstehen. Männer in Anzügen.
Männer mit Gewehren im Arm. Männer in schicken Anzügen, die mit
Schmerz und Leid handeln. Was werden sie tun, wenn sie Demi und sie
erkennen?
»Anhalten!«, sagt sie plötzlich,
greift sich an den Bauch und krümmt sich nach vorn. »Mir wird
schlecht.«
»Reiß dich bloß zusammen! Ich will
keine Kotze hier drin.« Er steigt auf die Bremse und lenkt den
Laster auf den Seitenstreifen. Baz drückt die Tür auf, stürzt sich
hinunter auf den Sandboden, um dort erst einmal ausgiebig zu
würgen, zu husten und zu spucken.
Demi springt hinterher. »Alles
klar bei dir, Baz? Was ist los?«
»Ist vielleicht die Luft«, ruft
der Fahrer. »Wenn’s ihr besser geht, geht ihr einfach da runter zum
Betriebshof. Sind nur ’n paar Hundert Meter. Lasst euch Zeit. Das
wird schon.« Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht er die Tür zu,
lässt den Motor aufheulen und donnert davon. Baz und Demi bleiben
in einer erstickenden Wolke aus weißem Staub zurück.