3

Aber ausnahmsweise verzichtet Demi auf einen großen Auftritt. Er ergreift die Türklinke, stellt fest, dass nicht abgeschlossen ist, und macht die Tür einfach auf. Licht flutet in die Dunkelheit, in der die zwei stehen. Plötzlich hören sie einen heftigen Klatscher; jemand wurde geschlagen.
»Mit wem hast du gesprochen? Ich frag dich nur einmal.« Fays Stimme klingt nach eiskaltem Zorn. Das Kind – Baz kann nicht erkennen, welches – fängt an zu schluchzen.
Das ist einer der schlechten Momente, wo alles Mögliche passieren kann, nur nichts Gutes. Baz rührt sich nicht von der Stelle, Demi ebenso. Noch halb im Dunkeln, stehen die beiden da. Sie sehen bloß einen schmalen Ausschnitt des Raumes: Fays rothaarigen Hinterkopf und ganz kurz das schluchzende Kind. Baz fällt noch etwas anderes auf: der scharfe Geruch einer Zigarre. Außer Fay und den Kindern ist noch jemand da – jemand, der Fay möglicherweise dazu bringt, heftiger zuzuschlagen als sonst. Baz fragt sich, mit wem das Kind gesprochen hat. Vielleicht mit einem Polizisten.
Dann eine weitere Stimme – natürlich Raoul. Nur er kann so dämlich sein, in so einer Situation den Mund aufzumachen. »Fay, er war die meiste Zeit bei mir. Hab nicht gesehn, dass er mit jemand gesprochen hat, bloß mit so ’nem Typen. Jung, kein Polizist. Kommt wohl aus der guten Gegend. Schick und mit tollen Klamotten. Ich hab gedacht, vielleicht ...«
»Du siehst eh die halbe Zeit nix!«, faucht Fay. Dann, in barschem Ton, aber nicht zu Raoul, sondern zu dem Mann, der sich außerhalb des Blickfelds von Baz und Demi befindet: »Wenn Sie einen wolln, nehmen Sie den da. Hat sowieso bloß zum Füttern getaugt. Nehmen Sie’n mit.«
Was sagt Fay da zu diesem Mann?! Baz hält den Atem an. Jetzt weiß sie, wer sich noch in dem Raum aufhält, kein Wort spricht und einen Stumpen raucht. Sie hat ihn schon öfter gesehen – Onkel Toni nennt er sich, aber Baz glaubt nicht, dass er der Onkel von jemandem ist. Er ist bloß ein Stellvertreter des Mannes, dem alles im Barrio gehört: Señor Moro. Señor Moro selbst macht natürlich keine Hausbesuche, er schickt seine Schattenmänner. Aber dass ein Mann hierherkommt, um ein Kind mitzunehmen, das hat es noch nie gegeben, jedenfalls nicht so, vor aller Augen, als würde es auf sie alle eh nicht ankommen.
Baz und Demi haben immer geglaubt, Fays Geschäfte mit Señor Moro würden sich ausschließlich um Geld drehen. Noch nie war die Rede davon, dass einer seiner Leute vorbeikommt und von Fay verlangt, ein Kind herzugeben. Noch nie.
»Natürlich«, die Stimme des Mannes klingt verständig, fast als tue er Fay und dem Kind einen Gefallen, »der Kleine kann mitkommen. Was sagst du? Du kommst mit Onkel Toni mit? Hier hast du was.« Anscheinend gibt er dem Kind etwas, denn es hört auf zu schniefen.
Für Baz und Demi wäre es jetzt am schlausten, sich ans andere Ende des Flurs zu verkrümeln, aus dem Fenster zu steigen und aufs Dach zu klettern. Sie könnten dort warten, bis die Lage sich beruhigt hat, und dann einfach hineingehen, aber bevor Baz Demi wieder am Arm packen kann, schiebt dieser die Tür ein Stückchen weiter auf, gerade so viel, dass die beiden sehen, wie sich der Mann über den kleinen Jungen beugt. Jetzt erkennt Baz auch, wer es ist – der Junge mit dem komischen Namen: Paquetito.
Den Namen hat Raoul ihm gegeben, denn als der Kleine vor kaum mehr als ein paar Wochen hier ankam, hatte er ein verschnürtes Päckchen dabei. Niemand durfte das Päckchen anfassen; der Junge nahm es immer wieder in die Hand und drückte es an sich. Eines Nachts nahm Fay es ihm weg, um nachzuschauen, ob etwas drin war, um das sie sich zu kümmern hätte. Es waren bloß eine Holzpfeife, ein zerschlissener Stoffhut, wie ihn die Leute aus dem Hügelland tragen, und ein paar Fotografien. Auf den Bildern war eine Indianerin zu sehen, nichts Besonderes, sagte Fay. Baz vermutete, dass die Bilder für Paquetito trotzdem was Besonderes waren, vielleicht zeigten sie seine Mutter oder Schwester. Niemand kümmerte sich groß um den kleinen Jungen. Niemand außer Raoul. Raoul zog oft mit ihm los und versuchte ihm einiges beizubringen. Und jetzt muss er fort.
»Du solltest deiner Bande bessere Manieren beibringen«, sagt der Mann, erhebt sich und nimmt Paquetito an der Hand. Dann dreht er sich um und wirft mit unbewegter Miene einen Blick in Richtung Baz und Demi. »Oder findest du’s richtig, dass die zwei dir an deiner eignen Tür hinterherschnüffeln?« Baz drängt sich ein bisschen dichter an Demi heran.
Fay zuckt mit den Schultern. »Hab sie läuten hörn. Ist schon in Ordnung, dass sie nicht reingekommen sind.« Fay sieht erschöpft aus. Ihr Gesicht hat die gleiche Farbe wie die schmutzige alte Jacke aus weißem Leinen, die sie die ganze Zeit trägt. Ihr Zorn ist völlig verraucht. Bei Fay ist so etwas normal.
Sie wendet sich ab und steckt die Hände in die Hosentaschen. »Gehn Sie jetzt«, sagt sie zu dem Mann. »Sie haben gekriegt, was Sie wollten. Mehr gibt’s hier nicht zum Mitnehmen. Sollten aber aufpassen, dass das Kind Sie nicht mal verpfeift. Ist nämlich ’n richtiges Plappermaul.«
Der Mann gibt keine Antwort. Demi und Baz treten zur Seite, als der Schattenmann und Paquetito die Bude verlassen. Paquetito macht große Augen – als ob er irgendetwas anstarrt, das nur er selbst sehen kann. Baz weiß, dass es etwas Schlimmes ist, was hier passiert. Man lässt nicht die Hand los, an der man sich festgehalten hat, andererseits hat bisher vielleicht noch niemand Paquetito an die Hand genommen. Außer dem Mann jetzt, aber das ist etwas anderes.
Baz schaut weg. Ihr Herz verhärtet sich. Es ist ihr nicht bewusst, aber genau das ist es, was passiert. In einem anderen Leben hätte sie Paquetito vielleicht am Arm gefasst und ihm viel Glück gewünscht, irgendetwas in der Art. Aber sie tut nichts dergleichen. Stattdessen macht sie es Demi nach und schlendert lässig ins Zimmer hinein. Eines hat Fay den beiden beigebracht: Man muss weiterleben, muss sich darauf konzentrieren, den Tag zu überstehen.
»Und«, sagt Fay, »was habt ihr zwei vorzuweisen?«
Sie ist weder besonders neugierig noch aufgeregt, aber Demi scheint es nicht zu bemerken. Sein großer Moment ist gekommen. Er plustert sich ein bisschen auf. »Wir ham da was«, antwortet er betont beiläufig.
Fünf über die Bude verteilte Kinder heben daraufhin den Blick, als wäre Demis Antwort ein unvermutetes kühles Lüftchen. Raoul sitzt an dem alten Tisch gegenüber der Tür; zwei Jungen, Hesus und Sol, nicht viel älter als Baz zu dem Zeitpunkt, als Demi sie gefunden hat, hocken vor dem hohen, schmalen Fenster, von dem aus man flussaufwärts sieht. Hesus sitzt, die Knie umklammernd, auf seinem zusammengerollten Bettzeug auf dem Fußboden, Sol auf der Bank unter dem Fenster. Der lange Giacomo und Miguel stehen neben dem kalten Herd, an dem Fay immer das Essen zubereitet. Miguel mit den halb zusammengekniffenen, wachsamen Augen hält sich weiter hinten im Schatten, fast außer Sicht. Giacomo hat den Mund offen und starrt Demi und Baz an, als wären die zwei plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Giacomo ist einen Kopf größer als die anderen Kinder und hat außerdem breite Schultern. Er ist ungefähr sechzehn, aber Demi meint, sein Verstand sei bei zehn Jahren stehen geblieben. Baz hat nichts gegen Giacomo, bei Miguel allerdings muss sie immer an eine Ratte denken. Sie mag ihn nicht, aber er ist ein schlauer Dieb. Außer Baz gibt es keine Mädchen. Sieben Mitglieder hat die Bande, jetzt, wo Paquetito fort ist.
»Lass sehn.« Fay hat die Arme verschränkt und blickt flüchtig aus dem Fenster zum ausgetrockneten Fluss.
»Wenn du’s sehen willst«, antwortet Demi, »musst du erst Bitte sagen. Ich ...«
Fay schnippt ungeduldig mit den Fingern. »Demi! Zeig mir, was du hast!«
Stumm reicht er ihr die Schachtel, blickt ihr aber dabei direkt in die Augen, als wollte er sie darauf aufmerksam machen, dass er etwas Besonderes sei, anders als die anderen und auch anders zu behandeln als die anderen.
»Hübsches Etui«, sagt Fay. Ihre Stimme klingt jetzt ein bisschen anders. Offenbar hat sie Paquetito schon fast vergessen, denkt Baz. Fays Launen sind wie Sommergewitter: Nach zwei Minuten ziehen die Wolken ab und die Sonne scheint wieder. »Mehr habt ihr nicht? Den ganzen Tag unterwegs und bloß so ’ne Schachtel?«
Wortlos klaubt Baz die zusammengefalteten Geldscheine aus ihren Sneakers hervor und reicht sie ihr. Fay geht die Banknoten flüchtig durch und überschlägt ihren Wert. Dann nickt sie kurz, zum Zeichen der Anerkennung. »Gut«, sagt sie, »das hilft, die Rechnungen zu bezahlen – dauernd sind wir am Zahlen, wie’s aussieht.« Sie steckt das Geldbündel in die Tasche. »Was gibt’s zu dem Etui hier zu erzählen, Demi?«
»War nicht ganz einfach. Du weißt, was ich mein, Fay. Baz und ich mussten ordentlich sprinten, wegen den Greifern.« Baz schweigt und lässt Demi erzählen, obwohl er eigentlich bloß ein paar Meter gerannt ist, bevor er es sich hinten auf der Straßenbahn gemütlich machen konnte. »Und, wie findst du’s, Fay? Wir haben’s uns geschnappt und dir mitgebracht.« Er wirft theatralisch die Arme hoch, so wie er es sich von Älteren abgeguckt haben mag, aber weil er noch klein ist, sieht das ziemlich komisch aus.
»Wo hast du’s her, Demi?«
»Aus’m Capricia. ’n schicker Juwelierladen im Nobelviertel.«
»Ich kenn das Capricia.« Fay hält das Etui wie abwägend in beiden Händen. Sie benimmt sich genau wie Demi und Baz vorher, zögert das Öffnen hinaus, um das Vergnügen zu erhöhen. Plötzlich aber verschärft sich ihr Ton: »Wieso machst du das, in ’nem Laden klauen? Wie oft hab ich dir das schon gesagt! Die haben Kameras. Du bist bescheuert, in so’n Laden zu gehn. Jede Polizeiwache in der Stadt hat jetzt dein Gesicht auf’m Monitor ...«
»Hey, Fay, weiß ich doch. Musst mir nicht mit dem alten Kram kommen. Hab mir das Ding gekrallt, als die Frau aus dem Laden raus ist. Jetzt mach doch die Schachtel mal auf – oder willst du hier rumstehn und uns anmotzen für das, was wir dir mitgebracht haben?«
»Okay. Schaun wir mal. Vielleicht ist bloß Modeschmuck drin. Vielleicht auch was Hübsches, das ich verkaufen kann – dann kriegt ihr alle ’n Teller mit Mama Balis fetten Würstchen.«
Aber als sie dann den Deckel abhebt, bleibt ihr fast die Luft weg. So hat Baz sie noch nie reagieren sehen – nicht einmal auf die dicksten Geldbündel. Fay hält den Ring ins Licht und in dem Edelstein beginnen tausend blaue Pünktchen zu glitzern. »Wahnsinn«, sagt sie. »Schaut mal. Das ist echt was Besonderes«, haucht sie. Sie fasst Demi an der Schulter und zieht ihn ein Stück zu sich heran, damit auch er es sehen kann. »Wie ’n Fingerhut voll blauem Eis.« Wenn Baz Eis gesehen hat, dann bisher bloß in Gefrierschränken oder in Getränken, und es war niemals blau.
Demi schaut nicht den Stein, sondern Fay an – als würde er darauf warten, dass sie sich herunterbeugt, ihn umarmt und ihm einen Kuss gibt. Aber Fay hat nur Augen für den Ring.
»Wem hast du das Teil abgenommen?«
»Irgend so ’ner Frau halt.«
»Wahrscheinlich ’ner reichen Frau«, sagt Fay. »Egal, wem der Ring jetzt fehlt, er wird nicht glücklich drüber sein. Gut möglich, dass die Geschichte ’n bisschen Staub aufwirbelt. Sei auf jeden Fall vorsichtig«, sagt sie zu Demi, »und lass bloß nix darüber raus – kein Sterbenswörtchen.« Sie wendet sich den übrigen Mitgliedern der Bande zu. »Kommt her, Jungs, und schaut euch an, zu was ihr’s bringen könnt, wenn ihr so geschickt seid wie Demi.«
Sie scharen sich um den Ring. Raoul versucht ihn in die Hand zu nehmen, aber da gibt Fay ihm einen kleinen, nicht böse gemeinten Klaps. Die kleineren Jungen schauen den Ring an, finden aber nichts daran, was sie begeistern könnte. Miguel macht große Augen und leckt sich mit der Zungenspitze die Lippen.
»Bringt mir was mit, was bloß halb so wertvoll ist wie der Ring hier, dann könnt ihr euch euern Unterhalt endlich selber verdienen. Aber ihr dürft keinem was von dem Ring erzähln, wirklich keinem. Ihr wisst, was mit Jungs passiert, die den Mund nicht halten können.« Mehr braucht sie nicht zu sagen. Die Jungen schauen sie mit ernsten Gesichtern an. Sie wissen Bescheid. Fay lächelt. »Hier.« Sie zieht einen schmierigen Fünfdollarschein aus dem kleinen Lederbeutel, den sie an einem Riemen um den Hals trägt. »Holt euch bei Mama Bali was zu trinken. Wenn ihr wieder da seid, gibt’s was zu essen – aber keinen Ton über den Ring, zu niemandem! Habt ihr verstanden? Raoul, du auch!« Sie lacht. Die Jungen lachen nicht, aber als Raoul den Geldschein an sich genommen hat, drängen sie alle zur Bude hinaus. So ein Extravergnügen gibt’s nicht jeden Tag.
»Gute Jungs«, sagt Fay, als sie draußen sind, »nicht so wie dieser Paquetito. Der war drauf und dran, uns Ärger zu machen.« Sie merkt, dass Demi was sagen will, und hebt den Finger. »Sei lieber still. Vorbei ist vorbei.« Dann hält sie den Ring noch mal in die Höhe, holt eine kleine Lupe hervor, klemmt sie sich vors Auge und schaut sich den Edelstein genauer an. Kurz darauf sagt sie: »Ich bring ihn an einen sicheren Ort, okay?« Die Frage ist eigentlich nicht ernst gemeint; Fay schafft die Beute der beiden immer in ein Versteck. »Baz, hol Gläser und Wein. Wir begießen das zusammen, bloß wir drei.«
»Wie in alten Zeiten«, sagt Demi.
An der Tür dreht sich Fay noch einmal um und lächelt. »Sind jetzt neue Zeiten, Demi. Das Teil hier ist meine Altersversorgung.«
»Bloß deine, Fay? Was ist mit mir und Baz – wie sieht’s mit unsrer Altersversorgung aus?«
Fay ist unbeeindruckt. »Du bist noch zu jung, um ans Alter zu denken.« Sie lacht, dann sagt sie: »Wir teilen doch eh immer alles – stimmt’s, Baz?«
»Sowieso, Fay.«
Irgendwann einmal, als Baz noch klein war und Fay ihr und Demi beibrachte, wie man Leute bestiehlt, stibitzte Baz Geld aus der Hosentasche eines Mannes, der bei ihnen zu Besuch war. Als sie die Beute dann vorzeigte, schlug Fay sie so heftig, dass sie blaue Flecken im Gesicht hatte. »Hier bei uns wird nicht geklaut! Niemals! Warum? Wenn der merkt, dass sein Geld weg ist, kommt er zurück – und wer kriegt dann die Schuld? Wer?!« Und sie schlug noch einmal zu. Demi hockte ganz still und stumm in der Ecke und hoffte, dass der Sturm an ihm vorüberziehen würde.
»Der kommt dann zu mir«, tobte Fay, »und gibt mir die Schuld! Und dann macht er mich fertig! Willst du das?«
»Nein.«
Fay nahm das Geld, das Baz gestohlen hatte, an sich, aber Baz kann sich nicht erinnern, dass sie es dem Mann je zurückgegeben hätte. Das ist jetzt schon lange her, es war, noch bevor sie ins Barrio umgezogen sind, doch Baz hat es nie vergessen. Inzwischen rückt Fay so gut wie kein Geld mehr heraus. Sie sagt andauernd, sie muss sparen.
Kaum ist Fay draußen, fragt Demi: »Weißt du, wo sie ihre Sachen versteckt?«
Baz ist entsetzt. »Fay bringt jeden um, der das weiß!«
»Ich hab Augen im Kopf.«
»Sag bloß nix! Hör zu, Demi. Behalt’s für dich – hast doch mitgekriegt, was mit Paquetito passiert ist.«
Demi greift nach der Flasche und schenkt sich einen Schluck von dem gelblichen Wein ein. »Musst mich nicht mit diesem Baby vergleichen. Ich sag dir mal, was ich weiß, Baz, weil – was ist, wenn was passiert ...? Ist alles nicht mehr so einfach. Kriegst du doch auch mit, oder? Die Schattenmänner schleichen dauernd im Barrio rum und ham überall ihre Finger drin. Mit Fay isses auch nicht mehr so einfach. Vielleicht sind wir mal irgendwann auf uns allein gestellt, vielleicht auch bloß du ... Also pass auf, Fay hat da so’n Plätzchen, unten im Keller ...«
»Da will ich ganz bestimmt nicht hin.«
Demi geht nicht darauf ein. »Ich bin ihr mal hinterhergeschlichen, Baz. Wahrscheinlich hatte sie zu viel getrunken, sie ist nämlich ganz schön getorkelt und hat vor sich hin geplappert. Trotzdem, andauernd hat sie sich umgeguckt, wie wenn sie damit rechnet, dass ihr einer von hinten kommt.«
»Ja, du.«
»Genau.« Demi lächelt nicht, Baz allerdings auch nicht. »Dann hab ich gesehn, wie sie ’n Ziegelstein aus der alten Mauer nimmt und ’ne Blechbüchse vorholt. Da warn ihre ganzen Wertsachen drin. Und die fischt sie einen nach dem andern raus und guckt sie genauso an wie vorhin den Ring – als wär sie richtig verliebt in das Zeug. So guckt sie sonst nie was an, nicht mal mich oder dich, Baz. Dabei ham wir ihr diese Sachen ja gebracht.« Er lacht, als wäre ihm das egal. »Ich hab immer gedacht, in ’ner Familie wird alles geteilt. Jetzt denk ich manchmal, das Einzige, was hier geteilt wird, ist der Ärger.«
»Sei still! Fay wird stinksauer, wenn sie dich so reden hört!« Solche Gespräche machen Baz Angst. Mitunter ist es besser, sich bedeckt zu halten, sich seine eigenen Gedanken zu machen und seine Geheimnisse zu haben. Baz vermutet, dass jeder – auch Fay und Demi – so ein Geheimnis hat. Manche Geheimnisse plaudert man lieber nicht aus, auch nicht in der Familie, vor allem nicht, wenn man es mit jemand wie Fay zu tun hat. Das jedenfalls ist ihre Ansicht.
Demi wirft ihr einen schrägen Blick zu. »Wir müssn langsam auf uns selber aufpassen, Baz. Fay ist gut zu uns, aber alles kann sich ändern.«
»Was kann sich alles ändern, Demi?«, fragt Fay, die gerade zur Tür hereinkommt. Baz hat das Gefühl, Fay kann jedes kleinste Geflüster im Barrio hören, sobald es sich um sie dreht. Sie setzt sich zu ihnen, schenkt sich ein volles Glas Wein ein und nimmt einen ausgiebigen Schluck; danach ist das Glas fast leer. »Hmm? Du hast mich doch noch lieb, Demi – oder?«
Demi zuckt mit den Schultern. Nur Fay ist in der Lage, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ansonsten könnte er jederzeit das Blaue vom Himmel herunterreden, solange ihm nur jemand zuhört.
Sie tätschelt ihm die Wange. »Wenn du erst mal ’n Mann bist, Demi, laufen dir eh alle Mädels hinterher. Vielleicht gibt’s ja jetzt schon ’ne Süße, die dir nachguckt.« Sie zwinkert Baz zu.
»Für mich gibt’s bloß dich, Fay«, antwortet er.
»Was?! So ’ne hässliche alte Schachtel wie ich?« Fay stößt ein heiseres Lachen aus, halb vom Wein, halb vom Tabak. »Was meinst du, Baz? Betrügt mich dieser Knabe oder nicht?«
»Demi betrügt nicht«, erwidert Baz. Fays Spielchen interessieren sie nicht. Sie schaut aus dem Fenster und beobachtet, wie die Sonne hinter dem ausgetrockneten Fluss untergeht, diesig und gelb, als ginge es ihr nicht besonders. In fünf Minuten wird sie nicht mehr zu sehen sein, und dann, im Handumdrehen, wird Dunkelheit über dem Barrio liegen. »Fay, was machen wir, wenn wir’s mal geschafft haben?«, fragt Baz.
Fay trinkt ihr Glas leer und schenkt sich nach. »Vielleicht ziehn wir dann aufs Land. Da gibt’s ’n See, der ist so groß wie der Ozean, mit ’nem Staudamm, länger als die Schnellstraße, und die Landschaft ist richtig grün, Baz.«
Baz ist jetzt ganz Ohr. »Wir könnten uns ’ne Farm kaufen und vielleicht Tiere halten.«
Fay bricht wieder in Lachen aus. »Meinst du, ich und Demi würden gute Farmer abgeben? Dauernd Erde umgraben und im Mist rumwühlen! Diese Hände hier haben noch nie Erde umgegraben und sind auch nicht scharf drauf. Nein, vielleicht gehn wir in den Norden, besorgen uns ein hübsches Häuschen, tun unser Essen in die Kühltruhe, liegen, wer weiß, den ganzen Tag am Pool und werden fett dabei.« Und sie beginnt ihnen das Leben auszumalen, das sie eines Tages führen könnten, sie alle drei, fern von allen Barrios der Welt.
Demi entspannt sich. Er hört Fay gerne zu, wenn sie solche Sachen erzählt. Vielleicht glaubt er ihr, vielleicht auch nicht, jedenfalls wirken ihre Worte beruhigend auf ihn. Auf Baz allerdings nicht. Sie schnappt sich die Blecheimer und geht nach draußen, um Wasser zum Kochen und Waschen zu holen.
Als sie das ausgetrocknete Flussbett überquert, trifft sie auf Raoul, der anbietet, sie zum Brunnen zu begleiten. »Seid am Plänemachen, wie?«
»Wie meinste das?«
»Du, Demi und Fay. Wir andern sind doch eh bloß die Dummen und ihr seid fein raus.« Er zieht sie auf, aber es ist auch ein bisschen ernst gemeint.
»Glaub bloß nicht, dass hier irgendwer fein raus ist, Raoul. Wenn du lang genug bei uns bleibst, wenn du den Kopf nicht zu hoch trägst und wenn du mit mir und Demi zusammenarbeitest, dann behandelt dich Fay genauso gut wie uns.«
»Und wenn ich meine große Klappe halte.«
»Wenn du das tust, wär dir bestimmt die ganze Welt dankbar.«
Die beiden lachen, spazieren gemächlich an ein paar alten Männern vorüber, die gerade beim Würfelspiel sitzen, und gelangen dann in einen umfriedeten Hof, wo sich der alte Brunnen befindet. Kein Trinkwasser. Wer es trinkt, bekommt davon Schweißausbrüche, aber immerhin kriegt man es fast umsonst. Gutes Wasser gibt’s nur in Flaschen, und es kostet fast genauso viel wie der Wein, den Fay bei sich lagert.
»Soll ich dir ’n Eimer raufziehen, Baz?« Eine hochgewachsene, spindeldürre Gestalt in einem zerrissenen Unterhemd tritt aus dem Schatten.
»Kann ihn mir selber raufziehn, Lucien«, antwortet Baz. Das sagt sie jedes Mal, wenn sie kommt, aber es spielt keine Rolle, und das weiß sie.
»Kost’ dich trotzdem was.«
Lucien ist ein komischer Kauz. Er lebt zurückgezogen in der Ecke des Hofs. Im Barrio ist er wahrscheinlich der Besitzloseste der Besitzlosen – das Einzige, was er sein Eigen nennen kann, sind die schwärenden Wunden an seinen Armen. Und der einzige Mensch, der sich um ihn kümmert, ist Mama Bali – was Baz lustig findet, weil Lucien so dünn und Mama Bali so dick ist. Er bringt ihr Wasser zum Waschen und Spülen, und sie serviert ihm jeden Tag eine Mahlzeit. Niemand hat was gegen Lucien, und die meisten zahlen die zwei Cent, die er für sein schlechtes Wasser verlangt.
Baz steckt ihm zwei Münzen zu.
»Habt wieder einen verloren, Baz, wie?«, sagt er leise. Er hat eine seltsame, zögernde Art zu reden, und es klingt immer ein Pfeifen mit, wenn er spricht, so als säßen ihm die Zähne verkehrt im Mund.
»Was meinste?«
Raoul wirft ihr einen Blick zu.
»Hab vorhin den Mann mit eim von euern Jungs vorbeigehn sehn, dem Kleinen mit dem Päckchen.« Er beobachtet, wie sie den Eimer in den Brunnen fallen lässt. »Pass bloß auf, Baz. Nicht, dass Fay dich auch noch weggibt. Dann musste auf’m Berg schuften.«
Baz hat den »Berg« noch nie gesehen, aber sie weiß, dass es weit und breit keinen schlimmeren Ort gibt. Dieser Berg liegt irgendwo auf der anderen Seite des Flusses, ein riesiger Hügel voll stinkendem Müll. Wer dort arbeitet, endet irgendwann auch als Müll.
»Fay gibt überhaupt nix weg«, sagt Baz automatisch. Sie rüttelt ein bisschen am Eimer, damit er sich füllt. »Paquetito hat sich den Ärger selber aufgehalst.« Sie muss sich allerdings fragen, ob das auch wirklich stimmt.
»Schon klar.«
Lucien zieht sich in seine schattige Ecke zurück, wo er den Tag verbringt. Baz holt vorsichtig den Eimer ein, während Raoul am Brunnenrand lehnt, vor sich hin summt und nach unten blickt. »Also der Typ«, sagt er, »von dem ich erzählt hab, dass ich Paquetito mit ihm hab reden sehn, den hab ich noch mal gesehn, gleich nachdem wir bei Mama Bali was getrunken ham. Der war ’n Stück weiter die Gasse runter. Könnt einer vom College sein, hatte ’ne richtig fette Uhr am Arm und feine Klamotten an. Keine Ahnung, was der hier zu suchen hat, kriegt mit den Klamotten hier eh bloß Stress. Ich wär beinah hin zu ihm und hätt’s ihm gesagt.«
Baz wirft ihm einen erstaunten Blick zu. »Bist dann aber doch nicht?«
»Nee! Meinste, ich bin so’n Spatzenhirn wie Giacomo?« Er grinst, dann wird er wieder ernst. »Ich hab mich gefragt, ob der Typ nach irgendwas sucht, Baz, vielleicht sogar nach uns. Bin ihm dann nach, um zu sehn, was er vorhat. Und weißt du, wo er dann hin ist?«
Baz schüttelt den Kopf.
»Zu Moro – in die Slow Bar. Ist da reinspaziert, als hätt er Geschäfte dort.«
»Kann schon sein. Aber ich sag dir was – hier kommt keiner her und sucht nach uns, höchstens er kriegt mit, dass du mit deinen dicken Patschern in fremde Taschen langst.« Aber plötzlich durchzuckt sie ein böser Gedanke. Es kann doch wohl nichts mit dem gelben Hut zu tun haben? Es kann doch wohl nicht schon jemand eine Spur ins Barrio erschnüffelt haben? Baz hofft, dass der Ring, der so verheißungsvoll schien, nicht am Ende noch Unglück bringen wird.
Raoul lacht. Gleich darauf fragt er: »Wo kommt Paquetito wohl hin? Meinst du, Lucien hat recht? Moro lässt sie alle zum Berg schaffen?« Er erschaudert. Baz gibt keine Antwort. »Hab in meiner Zeit schon drei gehn sehn«, fährt Raoul nach einer Weile fort. Er schaut Baz zu, wie sie neben dem Eimer hockt und sich Hände und Arme wäscht. »Keiner sagt, wo sie hinkommen.«
Baz steht auf und blickt in den Brunnen. Die Luft riecht nach Erde und feuchtem Stein.
»Fay will nicht drüber reden«. Tatsache ist, dass auch Demi und Baz nie darüber reden, weder miteinander noch mit sonst jemandem.
»Ich find, jeder sollte für den andern da sein. Oder was sagst du, Baz?«
»Sowieso.« Für Demi ist sie immer da.
Er hilft ihr, den Eimer vom Brunnenrand zu heben, dann lässt sie den zweiten hinunter. Wieder hören sie das hohle Aufklatschen und dann das leise Gluckern, als der Eimer sich füllt.
»Ehrlich, Baz. Ich schwör’s – niemals lass ich zu, dass Fay dich wie Paquetito an einen von Señor Moros Typen weggibt. Versprichste, dass du das auch für mich tust?«
Er lächelt, denn Raoul lächelt immer, aber seine Augen sind jetzt so voller Sorge, dass Baz ganz überrascht ist. »Ich versprech’s«, sagt sie.
Raoul lacht wieder. Dann greifen sich die beiden die Eimer und machen sich auf den Rückweg.
Später, in der Bude, bleibt Baz für sich, hilft Fay beim Essenmachen und anschließend beim Aufräumen, aber dann, als die Jungen herumsitzen, miteinander reden und in den ramponierten Fernseher schauen, den sie in der Ecke aufgehängt haben, schleicht sie sich davon. Aus irgendeinem Grund hat sie ein ungutes Gefühl, ein Gefühl, wie sie es noch nie hatte, so weit sie zurückdenken kann. Alles kommt von Raouls Gerede über den jungen Mann und vielleicht auch von dem, was Lucien gesagt hat, als er meinte, der kleine Paquetito würde auf dem Berg enden. Jetzt muss Baz wieder einmal an die Hand denken, die sie losgelassen hat, sodass sie allein in der Dunkelheit zurückblieb.
Wachsam schleicht sie durch das Barrio und drückt sich jedes Mal, wenn sie jemanden in der Nähe spürt, in den Schatten. Sie fragt sich, ob der College-Typ, den Raoul gesehen hat, noch hier herumspioniert, und beinahe wäre es ihr lieber, Demi hätte den Ring nie in die Finger bekommen. Bald darauf hat sie den hart getrockneten Schlamm am Flussufer erreicht, ungefähr vierhundert Meter flussaufwärts von Fays Bude entfernt. Hier draußen spendet der sternenklare Himmel ein bisschen Licht, sodass sie sehen kann, wonach sie sucht: ein altes, gedrungenes Lotsenboot, das in einem verrückt schrägen Winkel auf der Seite liegt, ein gehöriges Stück draußen im Schlamm. Sie zieht die sauberen Sneakers aus und beginnt am Rand des ausgetrockneten Flusses entlangzugehen.