11

Eine Familie.
Es ist, als ob jemand die entscheidende Trumpfkarte auf den Tisch geknallt hat und alle anderen Spieler starren ihn fassungslos an. Hesus’ Augen glänzen feucht, er begreift nicht so recht die Bedeutung dessen, was soeben gesagt wurde; Giacco nickt grinsend, als sei ihm klar, was läuft, aber tatsächlich begreift er noch weniger als der kleine Hesus; Miguel leckt sich die Lippen und beobachtet den jungen Mann, ebenso Demi. Nur Baz, die etwas von den anderen entfernt neben der Spüle steht, starrt Fay an. Fay lächelt, und das tut sie nur, wenn sie bekommen hat, was sie will. Baz fragt sich, ob dieser harte Engel aus dem Villenviertel wirklich ihr Sohn ist. Er mag ungefähr achtzehn sein, vielleicht ein bisschen älter. Fay gibt nie Auskunft, wenn Baz nach ihrem Alter fragt, lacht bloß und sagt: »Alt, so alt, wie ich aussehe.« So alt sieht sie in Baz’ Augen nicht aus, vielleicht irgendwo in den Dreißigern, schwer zu sagen. Oder Ende zwanzig. Das würde heißen, dass sie ungefähr zwölf war, als sie das Baby bekommen hat, also jünger als Baz jetzt. So was kommt vor, das weiß Baz. Sie hat sie gesehen im Barrio, in den besonders armen Vierteln, ganz junge Mädchen, mager und abgespannt, ihr in Lumpen gewickeltes Baby an die Brust gedrückt. Immer sehen sie ängstlich und hungrig aus, und so müde, als ob jeder Windhauch sie fortwehen könnte. Es ist schwer, sich Fay so vorzustellen, dazu ist sie zu stark. Zu stark, um ihr leibliches Kind wegzugeben. Und doch will sie genau das getan haben.
Ein Blitz lässt das Zimmer für einen kurzen Augenblick aufleuchten. Der junge Mann fängt Baz’ Blick auf und sieht ihr geradewegs in die Augen. Plötzlich beschämt, senkt sie den Blick. Er erinnert sie an einen Engel und zugleich erinnert er sie an einen Wolf.
»Was ist jetzt, Fay?«, sagt Demi. »Wir ham ein Recht, Bescheid zu wissen über diesen ... Jungen von dir. Hat er eigentlich einen Namen?«
Nach wie vor lächelnd, tätschelt Fay den Arm des jungen Mannes und sagt: »Er kann für sich selbst sprechen.«
»Klar.« Für einen Moment lässt er seine linke Hand auf der ihren liegen. Mutter und Sohn? Bruder und Schwester beinahe. Beide helle Haare, helle Haut, jedenfalls im Vergleich zum Rest der Runde. »Der Name, den man mir gegeben hat, lautet Eduardo Dolucca.« Seine Sprechweise ist klar und präzise, fast glänzend, denkt Baz, wie ein Auto aus den vornehmen Vierteln. »Sagt euch das irgendetwas?«
»Der Dolucca?« Demi bemüht sich, die Überraschung und das Misstrauen nicht durchklingen zu lassen. Es gelingt ihm nicht. Wenn dieser Jüngling der ist, der er zu sein behauptet, dann ist er der Sohn des Polizei-Captain und der Dame mit dem gelben Hut, deren Ring Demi gestohlen hat.
»Ja.« Der junge Mann lächelt. »Ziemlich clever von meiner Mutter, so eine Familie für mich zu finden, nicht?« Baz glaubt dem Lächeln nicht, glaubt auch nicht, dass er wirklich der Ansicht ist, Cleverness habe dabei irgendeine Rolle gespielt.
»Ich wollte, dass du gut aufgehoben bist«, sagt Fay. Sie schürzt die Lippen und bläst eine dünne Rauchfahne ins Zimmer. »Hab nicht drüber nachgedacht, was sein wird, wenn die Jahre vergehn. Ich war jung, musste irgendwie leben.« Sie klopft Asche in die Schale. »Vielleicht sprechen wir ein andermal drüber.«
Demi ist anderer Ansicht. »Wir sollten wissen, warum er hergekommen ist, Fay. Warum er uns die ganze Zeit beobachtet hat. Er hat beobachtet, was wir auf der Straße gemacht ham, vielleicht hat er Fotos gemacht. Er braucht nichts weiter zu tun, als sie seinem Vater zu zeigen.« Er schnippt mit den Fingern. »Hey! Er könnte uns alle ins Schloss bringen, einfach so. Haste da mal drüber nachgedacht, Fay?«
Fay macht eine wegwerfende Handbewegung. »Demi, werd erwachsen. Du vergeudest Zeit.«
Aber Demi ist nicht zu bremsen. »Und warum sollte er denn hierherkommen? Er hat ’n gutes Leben. Guck ihn dir doch an. Reicher Junge!« Er spricht die beiden Wörter aus, als machten sie ihm einen schlechten Geschmack im Mund. »Warn Sie auf dem College?« Eduardo neigt den Kopf. »Ham Geld, sich Sachen zu kaufen. Guckt euch seine Uhr an.« Eduardo hält den Arm hoch, damit sie die Uhr besser sehen können: klobig und silbern. Als würde man hundert Dollar am Handgelenk tragen, denkt Baz. Nicht sehr klug, so etwas im Barrio zu machen, aber offenbar hat ihn ja niemand belästigt. Auf sie macht er den Eindruck, als sei er hier schon halb zu Hause, aber es ist etwas dran an dem, was Demi sagt. Dieser Plan, den er Fay vorgelegt hat, der sieht vor, dass sie sein Haus ausrauben, den Captain der Polizei bestehlen, nachdem sie bereits einen Ring von seiner Frau gestohlen haben. Würde das nicht alles zum Einsturz bringen, was sie sich aufgebaut haben?
»Warum sindse ins Barrio gekommen?«, sagt Demi. »Auch wenn Fay früher vielleicht Ihre Mutter war, heute ist Ihre Familie woanders. Lassense uns doch einfach in Ruhe. Wir kommen auch ohne Sie zurecht. Sag’s ihm, Fay.«
Fay sagt ihm nichts dergleichen.
»Ich hab einen Vorschlag zu machen«, sagt Eduardo. »Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja gehen.«
Demi reißt seinen Stuhl zurück und springt auf. »Ich? Was soll das heißen, ich kann gehn? Was läuft denn hier ohne mich?« Er schlägt sich an die Brust. »Wenn ich geh, sind Fays Geschäfte im Eimer.«
Es riecht förmlich nach Ärger. Baz kennt das, sie hat erlebt, wie Schlägereien von einem Moment zum nächsten ausgebrochen sind, und hinterher hat man nichts als Blut und Blessuren. »Demi!«, sagt Baz scharf und irgendwie wirkt diese Warnung wie ein Spritzer mit Eiswasser. Demi dreht sich abrupt um und verzieht sich maulend in eine Ecke, wo er sich in einen alten Sessel fallen lässt.
Eduardo lacht. »Hey! Du Möchtegernmacho! Was ist los?«
Fay zündet sich einen weiteren kleinen Zigarillo an und schwenkt das Streichholz, damit es ausgeht. »Ist gut«, sagt sie. »Das reicht.« Demi macht den Mund auf, aber Fay fällt ihm ins Wort. »Demi, ich will nichts von dir hörn. Kein Wort. Sitz still und hör zu.« Alle von Rum und Wein erzeugte Nachgiebigkeit ist verschwunden. Wenn’s um Geschäfte geht, gewinnt Fay sofort ihren klaren Blick auf die Welt zurück. Zu Eduardo sagt sie, wenn auch viel sanfter: »Keiner ist so gut wie Demi, also hört auf damit, alle beide.«
Eduardo lächelt Demi zu. »Klar doch. Ich nehm alles zurück. Ich weiß, dass du gut bist und schnell. Sehr schnell.« Er schnippt mit den Fingern. »So schnell, eh?«
Den um den Tisch versammelten Jungen gefällt das. »Yeah, er is gut«, sagt der lange Giacomo. »Demi is schneller als Miguel, und Miguel is schon ziemlich schnell. Genau, Miguel. Du bist ziemlich schnell, he?« Doch Miguel beteiligt sich nicht an der allgemeinen Beifallsbekundung. Er rückt etwas näher an Eduardo heran, sein Blick ist wachsam, zuckt hin und her, kehrt aber immer wieder zu Fay zurück, so als rechne er mit irgendeiner geheimen Anweisung von ihr. Baz kann die Augen nicht von Eduardos Händen lassen: blass, mit langen Fingern und gepflegten Fingernägeln. Hände, wie sie auch eine vornehme Dame haben könnte.
»Sag ihnen, warum du hier bist, Eduardo«, sagt Fay. »Danach können wir dann zum Geschäftlichen kommen.«
»Klar.« Seine Stimme ist entspannt und verständig, geschmeidig wie Butter. »Obwohl ich nicht ganz verstehe, warum du das für nötig hältst. Was ihr hier habt, das ist vielleicht ein bisschen zu viel Gleichberechtigung. Aber was weiß ich schon?«
»Ja«, sagt Fay. »Du weißt nicht allzu viel über das, was wir hier haben, also tu, worum ich dich bitte. Das hier ist mein Haus und diese Jungs schlagen sich wacker. Also gib ihnen gute Gründe, dir zu trauen ...«
»Na schön, kein Problem.«
Baz stellt einen frischen Krug Wasser auf den Tisch. Nachdem Eduardo sich bedient hat, lächelt er ihr zu. Sie bringt auch Demi ein Glas, der mit hochgezogenen Beinen auf seinem Sessel hängt, ein zorniger Schatten in der Ecke. Er nimmt das Wasser, ohne sich zu bedanken, seine ganze Aufmerksamkeit gilt Eduardo, der mit seiner Erzählung begonnen hat.
»Das Ehepaar, an das Fay mich verkauft hat, wollte einen Jungen, also waren sie glücklich. Haben mir diesen Namen gegeben. Mir gute Manieren beigebracht. Captain Dolucca hält viel von guten Manieren. Auch Achtung und Respekt sind ihm wichtig. So bin ich durch die Schule gekommen. Hab hart gearbeitet. Gute Leistungen gebracht.« Er macht eine Pause. »Aber dann gibt’s eine Veränderung: Meine reizende neue Mutter, die angeblich keine Kinder haben kann, bekommt ein Baby, ein kleines Mädchen. Große Veränderung. Ich bin zehn und plötzlich werde ich unsichtbar, weil sie so sehr mit der kleinen Niña beschäftigt sind. Alle lieben die kleine Niña. Und sie ist schlau. Kriegt es hin, dass alle ihr aus der Hand fressen. Ich bekomm ein bisschen Ärger in der Schule. Nichts Schlimmes. Unbedeutende Sache, aber an diesem Punkt beginnt meine eigentliche Erziehung, denn mein Vater, der Captain, ist sauer auf mich, sehr sauer. Er schlägt mich und nennt mich ›Barrio-Abschaum‹, und ich versteh gar nicht, was er damit meint ... Bis er es mir erklärt, ganz schlicht und ganz genau, sodass ich, obwohl ich erst zehn bin, nie vergessen werde, wer ich in Wirklichkeit bin. Und dann erzählt er mir noch, dass meine richtige Mutter ein Mädchen von der Straße war, jemand, dem er helfen wollte, und als sie dann ein Baby bekam, mich, da hat er mich aus Gefälligkeit zu sich genommen, um ihr was Gutes zu tun. Genau das hat er gesagt. Denn dieser Frau hätte das Baby nicht allzu viel bedeutet, solange sie nur Geld dafür bekam.«
Fay haut auf den Tisch. »Der Mann ist so ein Schwein! Das ist alles gelogen.«
»Der Mann ist ein Schwein«, stimmt Eduardo ruhig zu, »aber das hat er mir erzählt. Und dann hat er mir gedroht, hat gesagt, wenn ich nicht brav bin, dann schickt er mich dahin zurück, wo ich hergekommen bin, ins Barrio, zurück zu meiner leiblichen Mutter, denn die ist eine Diebin, eine Königin der Diebe, mit lauter Kindern, denen sie das Stehlen beibringt, bis sie zu einer Plage werden für die Stadt, und«, er hebt entschuldigend die Hände, »er hat noch üblere Dinge über meine Mutter gesagt, sehr viel üblere. Und dann fragt er mich, ob es das ist, was ich will, ins Barrio zurückkehren und ein Dieb werden, denn wenn ich das tue, dann wird er mich schnappen, so wie er auch meine Mutter schnappen wird, und dann steckt er uns beide ins Schloss.« Er lächelt Fay zu.
»Ich sage natürlich, nein, das will ich nicht, aber ich werde zu einem Jungen, der lernt«, fährt Eduardo fort. »Ich beobachte und lausche und ich lerne viele Dinge. Ich sehe, dass dieser Vater, den ich habe, ein wichtiger Mann bei der Polizei geworden ist, aber ich sehe noch mehr. Ich sehe, dass bei uns immer Geld im Haus ist, sehr viel Geld, und dass er immer einen schicken Wagen fährt. Und ständig kriegen wir Besucher, die Aktenkoffer in der Hand haben. Und diese Männer sind keine Polizisten, sondern Geschäftsfreunde, wie mein Vater sie nennt, Freunde, die ihm ständig Geschenke vorbeibringen, immer zum Ende des Monats. Nach diesen Besuchen geht mein Vater jedes Mal in sein Büro und legt alle Umschläge, die er bekommen hat, in seinen Safe. Ich brauche nicht lange, bis ich kapiere, dass mein Vater, dieser gute Mensch, der so viel auf Respekt und gute Manieren hält, dass dieser Mann zusätzlich zu seinem Job als Polizist ein paar kleine Geschäfte laufen hat. Ich bin neugierig und möchte wissen, was er da immer in dem Safe in seinem Arbeitszimmer verstaut. Ich muss lange warten, aber dann gelingt es mir, seinen Safe zu öffnen, und ich sehe, wie viel Geld mein bedeutender Polizistenvater aus all diesen ... Geschenken zusammengesammelt hat. Und da kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht keinen so großen Unterschied macht, ob man ein Polizist ist oder ein Dieb. Tatsächlich finde ich, dass der Dieb ein besseres Leben führt, vor allem ein ehrlicheres.« Er lacht trocken und sarkastisch. »Ich sehe, wie er ist. Ich sehe, wie er seine Frau manchmal behandelt. Ich glaube nicht, dass er in seinem ganzen Leben schon mal etwas Gutes getan hat. Und ich mache mir immer mehr Gedanken über meine richtige Mutter und darüber, was sie wohl veranlasst hat, mich wegzugeben. Und so treffe ich eine Entscheidung: Ich werde aufs College gehen und alles lernen, was ich lernen kann. Ich werde herausfinden, wer meine leibliche Mutter ist. Und ich werde einen Weg finden, diesem Lügner all seine guten Dinge wegzunehmen und sie ihr zu geben. Und das ist es denn, was ich tue. Ich beobachte. Ich lerne. Ich lerne alles über das Barrio und, mithilfe dessen, was er mir bereits über meine Mutter erzählt hat, finde ich hierher. So war das also, und jetzt zeige ich ihr, wie wir zusammen ein gutes Geschäft machen können.«
Fay klatscht in die Hände. »Was sagt man dazu!« Auch den Jungen in der Bude hat die Erzählung gefallen. Vor allem der Gedanke, dass so ein Junge sich von der Polizei abwendet, von den Greifern, die ihnen immer so zusetzen und sie durch die Gegend scheuchen. Sie sehen Eduardo an, als sei er ihr Held.
Baz denkt, dass diese Erzählung mehr verbirgt, als sie enthüllt, aber das kann sie nicht laut sagen, sie kann nur zuhören. Sie schenkt noch etwas Wein nach und stellt sich dann hinter Demis Sessel. Die übrigen Jungen werden nach draußen geschickt, weil Eduardo den Plan besprechen möchte. Es ist ein ganz einfacher Plan. Er hält einen Schlüssel in die Höhe. »Der hier ist für die Alarmanlage. Mein Vater schaltet sie jeden Abend ein. Ich warte, bis er zu Bett gegangen ist. Ich schalte sie wieder aus. Ich öffne ein Fenster. Du kletterst herein. Du spazierst ins Büro.« Er zeigt eine Karte, auf der eine Adresse und eine Zahlenfolge geschrieben sind. »Das ist die Kombination für den Safe im Arbeitszimmer meines Vaters. Du nimmst das Geld raus. Wirfst es aus dem Fenster. Stellst die Alarmanlage wieder an. Wenn du’s nicht tust, wird er denken, dass der Dieb aus dem Haus kommt.«
Demi lehnt sich in seinem Sessel zurück. »Wird keiner Sie verdächtigen?«
Eduardo zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlicher ist, dass er glaubt, es wäre einer seiner Geschäftspartner gewesen – einer, der sich ein paar von seinen ›Geschenken‹ zurückholen wollte, nicht wahr.«
»Vielleicht denkt er, es war Señor Moro«, sagt Fay. »Und er lässt ihn von der Bildfläche verschwinden. Steckt ihn ins Schloss.«
Eduardo lacht ungezwungen. »So machst du’s also. Alles kein Problem. Du stellst die Alarmanlage scharf, und dann hast du dreißig Sekunden Zeit, aus dem Fenster zu klettern, bevor der Alarm losgeht. Du wirst weniger als dreißig Sekunden brauchen, um wieder auf der Straße zu sein. Der Alarm wird ausgelöst. Du springst ins Auto. Mein Vater wacht auf. Bis er in seinem Arbeitszimmer angekommen ist und feststellt, dass er beraubt wurde, bist du schon halb wieder zu Hause. Locker. Und das, was wir uns da holen werden, das reicht für uns alle, das versprech ich euch. Ihr werdet mehr haben, als ihr euch je erträumt habt.« Er streckt Fay die Hand hin. »Mein Geschenk an dich, Mutter. Mit diesem Geld können wir ganz, ganz groß ins Geschäft einsteigen.«
»Glaubense, so ein Captain der Polizei lässt sich das einfach gefallen?«, fragt Demi. »Der lässt uns einfach so davonkommen, mit seinem Geld in unseren Taschen?«
»Was soll er tun? Er kann doch nicht sagen, dass ihm Geld gestohlen wurde, das er gar nicht besitzen dürfte.«
»Und Sie?«
»Ich? Hab ich doch gesagt. Ich liege im Bett und schlafe. Ich warte eine Weile, dann komme ich zu euch, und wir werden etwas ganz Besonderes im Barrio.«
»Ja, mit dem Geld sind wir wirklich besonders. Wir bezahlen alles, was wir Moro schulden«, sagt Fay. »Ich kann dir sagen, Eduardo, der drückt mir mehr und mehr die Luft ab.«
Wie eine von diesen dicken Schlangen, die’s im Landesinnern gibt, denkt Baz. Die können einen Hund zusammendrücken, bis er tot ist, dann schlucken sie ihn am Stück runter.
»Ich lass die Jungen und Baz so viel arbeiten, wie’s nur geht, aber wir sitzen hier echt in der Klemme: Der Captain macht Druck auf den Straßen, und Moro sagt, wenn er nicht das kriegt, was er haben will, dann nimmt er sie mir weg, die Jungen, vielleicht einen nach dem andern, vielleicht auch alle mit’m Mal, und ich hab dann gar nichts mehr.« Sie drückt ihren Zigarillo aus. »Und ich kann nichts tun, als immer nur zu zahln und zu zahln. Vielleicht hilft uns ja diese Sache, dass wir diesen Mann endgültig los sind, hey.«
»Oh ja«, bestätigt Eduardo ruhig. »Um diesen Señor kümmern wir uns ganz bestimmt.«
»Hörst du das, Baz, mit dieser einen Aktion befreien wir uns von allem.« Sie legt einen Arm um Eduardos Taille und drückt ihn an sich.
Baz kann sich nicht erinnern, wann Fay zuletzt einen so glücklichen Eindruck gemacht hat. Meistens zeigt sie sich hart wie der Stein in einem Ring, hart und scharfkantig, denn sie ist vielleicht die einzige Frau im Barrio, die das tut, was sie tut, und zwar ohne dass die Polizei ihr auf die Schliche kommt. Sie hat Baz nicht mehr in den Arm genommen, seit sie klein war, noch bevor sie ins Barrio gekommen sind.
»Demi«, sagt Fay, »was hältst du davon? Willst du mit deiner albernen Motzerei aufhören und richtig Geld verdienen?«
Demi sagt: »Wenn es das ist, was du möchtest, okay. Klar. Klingt ja nicht so, als würdest du dafür richtiges Geschick brauchen, wie für das, was wir jeden Tag auf der Straße machen, klingt eher nach Discountdiebstahl, wenn du mich fragst, aber wenn du möchtest, dass ich die Sache übernehme, dann mach ich das, kein Thema. Weiß allerdings nicht, warum ihr nicht Miguel den Job machen lasst, der kann doch wohl durch Fenster klettern, oder Sol oder wer auch immer.« Seine Stimme ist neutral. Es geht um Geschäftliches. »Warum wollt ihr unbedingt mich haben?«
Eduardo antwortet ohne Zögern. »Meine Mutter sagt, du bist der Beste. Hast die meiste Erfahrung. Du bist die Nummer eins.«
Demi nickt. In diesem Punkt wird er nicht widersprechen.
»Ich schätze aber, du wirst Hilfe brauchen, Absicherung, nicht wahr. Miguel ist clever. Er wird mit dir gehen, das Risiko teilen, dir helfen, das Geld zu tragen. Außerdem kennt er die Gegend.«
»Was ist mit Baz? Sie sichert mich ab. Ohne Baz arbeite ich nicht.«
Eduardos Blick zuckt zu Baz hinüber, er mustert sie für eine Weile, bevor er ihr erneut zulächelt. »Sie ist so still, da kann man glatt vergessen, dass sie hier neben uns steht. Klar, Baz kann mit zum Team gehören, aber ich möchte, dass Miguel auch dabei ist.« Er sieht Fay an.
»Sicher. Gut für Miguel. Wird Zeit, dass er ein paar Tricks dazulernt.«
»Okay«, sagt Demi, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen, »aber wie wär’s mit noch ein paar Details? Wie kommen wir da hin und wieder weg? Glaubense nicht, dass wir mit der Straßenbahn in die Nordstadt fahrn und hinterher eine fröhliche Tour zurück ins Barrio machen und all das Geld von Ihrm Daddy in ’nem Sack auf dem Rücken tragen. So blöd sind wir nicht.«
»Ich hab einen Wagen und ich hab einen Fahrer. Er ist sehr gut. Du könntest auch mitfahren, Mutter. Es wäre, als würdest du in einem Taxi sitzen.«
»Nein, ich hab meinen Teil getan. Solche Sachen mach ich nicht.« Ihr Ton ist bestimmt, die Aussage endgültig.
»Traust du mir nicht?«
»Natürlich trau ich dir.«
Die Hände hebend, erkennt Eduardo an, dass er sie nicht wird überreden können. »Ist auch nicht so wichtig. Natürlich musst du überhaupt nicht vor Ort sein. Du kannst hierbleiben und dich darauf vorbereiten, die Scheine zu zählen.«
Sie lächelt. »Scheine zählen, das kann ich.«
»Okay«, fährt Eduardo fort. »Wir starten die Aktion morgen Abend. Mein Vater hat für morgen Abend eine Zusammenkunft bei uns zu Hause angesetzt, und«, er reibt sich die Hände, »das bedeutet, dass noch mehr Honig im Topf sein wird. Das gibt mir genügend Spielraum, auf meiner Seite alles zu arrangieren: Auto, Fahrer und so weiter.« Er blickt auf seine teure Armbanduhr und stellt eine Berechnung an. »Also, morgens zwei Uhr, der Fahrer wird euch vor dem Barrio abholen, am Agua neben dem Brunnen. Ihr fahrt in die Stadt. Dreißig Minuten. Ihr findet das Fenster offen vor. Ihr erledigt das Geschäft. Fahrt zurück. Spätestens um vier Uhr seid ihr wieder hier. Zwei Stunden. Und das war’s dann. Fay versteckt das Geld. Ich stoße noch am selben Abend zu euch. Es ist ein absolut risikofreies Projekt.«
Baz weiß nicht so genau, was ein Projekt ist. Aber was immer es sein mag, sie glaubt nicht, dass es ohne Risiko ist. Alles ist mit Risiken verbunden, dennoch, ein Gutes hat die Sache: Sie und Demi haben den morgigen Tag zur Verfügung. Fay wird sie nicht zur Arbeit schicken, wenn sie nachts auf sein müssen, um das Haus des Captain auszurauben. Sie bekommen also ihren freien Tag, um Raoul zu finden und ihn vom Berg wegzuholen.
Die Jungen kehren wieder zurück, und es wird noch ein bisschen geredet und noch ein bisschen getrunken. Der junge Mann allerdings, das fällt Baz auf, trinkt nicht mehr als das eine Glas Weinschorle. Baz selbst verhält sich still und lässt die anderen reden. Eines ist ihr klar, was die anderen noch nicht wissen: Das alte Leben ist vorbei. Es war in Ordnung, solange sie noch nichts von dem Berg wusste, solange sie nur darauf bedacht war, Fay zufriedenzustellen, oder auch Demi. Vielleicht ist Eduardo wirklich der, der er zu sein behauptet, und diese Aktion ist so einfach, wie er ihnen versichert. Vielleicht kann Fay wirklich alles an Señor Moro zahlen, was sie ihm angeblich schuldet. Eines aber ist gewiss: Sie und Demi können nicht im Barrio bleiben. Früher oder später wird Señor Moro noch mehr verlangen, und der Captain wird nicht ruhen, bevor er den findet, der ihn ausgeraubt hat. Und dann ist da noch der Ring in Fays speziellem Versteck, der Ring, der so viel zu versprechen schien, der aber alles nur schlimmer gemacht hat. Er sah aus, als trage er ein Stück Himmel in sich, doch in Wirklichkeit ist dieser Ring eine Lüge, eine Falle. Wenn Fay damals ihr Baby verkauft hat, würde sie nicht das Gleiche wieder tun? Ist sie nicht immer noch die Person, die sie früher war? Wenn sie müsste, würde sie sie wohl alle verkaufen.
Wenn die Sache morgen vorbei ist, dann müssen sie und Demi, falls sie einen Anteil abkriegen, oder sogar auch, falls nicht, hier weg, müssen anderswo ein neues Leben anfangen. Das weiß sie genau. Sie muss nur hoffen, dass sie Demi davon überzeugen kann.