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Doch das Barrio mit seinem Gewirr
von Gassen und Wegen ist schon halb tot. Nur eine Handvoll der
größeren Gebäude stehen noch, ragen aus dem Schutt und dem Geröll
heraus. Irgendwie wirken sie nackt und ungeschützt, als wären sie
von dieser neuen Wildnis überrascht worden.
Genau in der Mitte dieser neu
geschaffenen Fläche befindet sich eine alte Kirche mit einem hohen
Kuppeldach, Baz’ und Demis Unterschlupf, ihre Insel in einer
stürmischen See.
Drüben am ausgetrockneten Fluss
stehen die ehemaligen Lagerhäuser, knochenfarben, von der Sonne
ausgebleicht. Vielleicht steht Fay da jetzt am Fenster und blickt
zur Stadt hinüber, macht sich Gedanken über Baz und Demi, fragt
sich, ob es richtig war, sie gehen zu lassen, fragt sich, ob der
goldene Sohn, der zu ihr zurückgefunden hat, die Vergangenheit und
Zukunft für sie sein wird, die sie sich ersehnt.
Und Eduardo, der neue Señor, sitzt
auf dem Rücksitz dieses schwarzen Polizeiautos, das am Agua-Platz
parkt, und blickt womöglich durch das getönte Fenster auf all das,
was er erreicht hat. Oder vielleicht sind seine Gedanken bei Baz
und Demi, weil es ihn wütend macht, dass zwei kleine Diebe
entkommen sind und es nun zwei Münder gibt, die zu viel reden
könnten. Der neue Señor wird, ebenso wie seine Mutter, alles tun,
was für seine Sicherheit erforderlich ist. Vielleicht ist er noch
wütender darüber, dass sie ihm eine blutige Nase verpasst haben,
und das in aller Öffentlichkeit: Einer seiner Männer liegt auf der
Intensivstation, seit ihn ein Motorrad über den Haufen gefahren
hat, drei mussten aus einer stinkenden Schlammwüste befreit werden,
einer ist tot, vom Fluss verschluckt. Vielleicht denkt der neue
Señor ganz kühl über ein angemessenes Schicksal für Baz und Demi
nach. Ein neuer Señor kann es sich nicht leisten, sein Gesicht zu
verlieren, und dieser Señor hat so lange gewartet, hat alles so
sorgfältig geplant, dass es sicherlich nicht infrage kommt,
irgendwelche aufsässigen Ratten aus dem Barrio entkommen zu
lassen.
Der neue Señor wird überall in der
Stadt Augen haben.
In der Straßenbahn Richtung
Norte klingelt die Glocke und der Fahrer ruft die nächste
Haltestelle aus. Baz und Demi bleiben sitzen. Das Abteil füllt
sich. Die Leute sind in ihre Beschäftigungen versunken, hören Musik
über Kopfhörer, halten sich an ihren Taschen fest, lesen die
Tageszeitung. Ein Mann beschwert sich, dass die Bahn zu voll ist,
er hätte für seine Fahrkarte bezahlt und ob nicht mal irgendwelche
Kinder aufstehen könnten. Demi ignoriert ihn. Baz fällt eine
Zeitungsschlagzeile ins Auge: »VERMISST!« Diese Schlagzeilen machen
ständig ein Mordsgeschrei. Sie vermisst Raoul. Sie vermisst die
Zeit, als sie und Demi und Fay noch zu dritt waren und fast eine
Familie zu sein schienen. Sie hofft inständig, dass sie Lucien
sehen werden, wenn sie zum Bahnhof kommen. Sie sagt Demi aber
nichts davon. Die nächste Haltestelle. Das Zentrum. Sie drängen
sich durch den Gang und steigen aus, überqueren dann die Straße, um
auf die Straßenbahn zu warten, die sie zum Norte-Bahnhof
bringt.
Dies ist der schickere Teil der
Stadt, und Baz ist sich bewusst, dass sie schmuddelig aussehen. Sie
fasst Demi an der Hand und hält sie auch fest, als er sie
instinktiv wegzuziehen versucht. »Was is’n mit dir los?«, zischt
er. »Bist ’n Kleinkind oder was?«
»Diebe halten sich nicht an der
Hand«, sagt sie. »Versuch so auszusehen, als würdest du dich um
mich kümmern. Niemand hat was gegen Kinder, wenn sie einen
niedlichen Eindruck machen.«
Er grunzt. »Du bist echt ’ne
Marke, Baz. Manchmal denk ich, dass du gar nicht so blöd
bist.«
Sie besteigen die neue
Straßenbahn, lassen es sich höflich gefallen, dass der Fahrer sie
anweist, zu warten, bis alle anderen Fahrgäste ihre Tickets gekauft
haben, und legen ihm dann, nachdem er noch erklärt hat, dass es
keine Gratisfahrten mit dieser Straßenbahn gebe, kommentarlos das
genau abgezählte Geld für ihre Fahrt hin. Ruppig gibt er die
Fahrscheine heraus. »Falls irgendjemand in dieser Straßenbahn sein
Portmonee verliert, schleif ich euch eigenhändig ins Schloss«, sagt
er extra laut, damit alle Umstehenden es hören können. Baz tut so,
als würde sie gleich anfangen zu weinen, und eine Frau faucht den
Fahrer an, er solle die armen Kinder in Ruhe lassen. Das Leben ist
schon schwer genug, sagt sie, auch ohne dass Leute wie er es einem
zur Hölle machen.
Sie lächelt Baz zu, und Baz wischt
sich mit der Hand über die Augen und lächelt schüchtern zurück,
bevor sie und Demi durch das Abteil gehen, um sich auf die
Plattform am hinteren Ende zu stellen. »Vielleicht kriegste mal ’n
Job als Schauspielerin, kannst in der Soap mitspieln, die Fay so
gern guckt.«
»Du bist der Schauspieler«, sagt
sie. »Markierst immer den Großkopf.«
Demi grinst. »Ein großer Kopf für
große Ideen.«
Zehn Minuten später springen sie
ab, erklimmen die große Treppe vor dem Bahnhofsgebäude und gehen
direkt zu den Fahrkartenschaltern. Dort, in der Mitte des riesigen
Saals, inmitten der wuselnden Menschenmenge, steht Lucien, eine
klapperdürre Gestalt in einer abgetragenen Jacke.
»Demi, guck, wer da ist!« Sie ist
schon im Begriff, sich ohne weitere Umstände zu ihm durchzudrängen,
so glücklich ist sie, da bemerkt sie einen Ausdruck in seinem
Gesicht, den sie noch nie gesehen hat. Er sollte lächeln,
erleichtert sein, sie zu sehen, doch nichts davon. Er starrt glatt
durch Baz hindurch, als würde sie gar nicht existieren. »Irgendwas
stimmt nicht«, sagt sie.
Sofort lässt Demi sich auf ein
Knie fallen, tut so, als müsse er sich den Schuh zubinden. Auch Baz
geht in die Hocke. Für einen Moment sind sie von einem Meer von
Beinen umgeben. »Ich seh keine Uniformen, seh keine APA. Uns sucht
hier keiner, Baz. Wir ham nichts gemacht.«
Das ist wahr. Sie haben in keine
Tasche gegriffen, kein dickes Portmonee gemopst, aber das heißt
nicht, dass sie sicher sind, wie sie sehr wohl weiß. Demi weiß es
auch. »Rede mit ihm«, sagt er. »Du kommst dicht an ihn ran, dich
sieht keiner. Finde raus, warum er ’n Gesicht macht wie ’n krankes
Gespenst.«
»Und du holst die Fahrkarten nach
Tianna.« Tianna ist die nächste Stadt weiter oben an der Küste, die
Fahrt dorthin dauert nur vier Stunden. Dort können sie erst einmal
bleiben, Pläne machen, später dann weiterziehen.
»Tianna. Okay.«
»Warte an der Sperre auf uns,
eh?«
Er nickt, wuselt durch allerlei
Beine hindurch und stellt sich dann in die Schlange vor einem der
Fahrkartenschalter. Baz dreht sich um und bahnt sich einen Weg
zurück zum Eingang, dort läuft sie die Treppe hinunter, sprintet
ein Stück weit die Straße entlang und betritt dann, nachdem sie
sich davon überzeugt hat, dass niemand sie verfolgt, den Bahnhof
durch die Seitentür. Lucien steht noch immer an derselben Stelle
wie vorher – als hätte man ihm die Füße am Boden festgenagelt. Sie
schaut sich nach Kameras um. Keine zu sehen. Aber irgendjemand
beobachtet Lucien, sonst hätte er sich bewegt, wäre einem von ihnen
gefolgt. Noch einmal blickt sie sich forschend um, lässt sich mehr
Zeit diesmal, prüft Gesichter, Uniformen, Anzüge ... Anzüge! Drüben
beim Fenster, in einer Zeitung blätternd, steht ein Mann im Anzug,
aber keiner, den sie kennt. Einer von Eduardos Männern, da legt sie
sich fest. Wenn sie ihn nicht kennt, kennt er sie auch nicht – es
sei denn, er sieht sie mit Lucien reden.
Sie schlängelt sich durch die
Menge hindurch, langsam und unauffällig, bis sie, für den Mann im
Anzug nicht zu sehen, ganz dicht hinter Lucien steht. Menschen
wogen um sie herum. Sie zieht am Ärmel seiner alten Jacke und
ergreift sein dünnes Handgelenk. »Lucien.« Sie fühlt, wie er sich
anspannt.
»Baz!« Er zieht den Kopf ein wenig
ein. »Ich werd beobachtet, Baz.« Er bewegt kaum die Lippen, aber es
ist ein Zittern in seiner Stimme.
»Wir ham ihn gesehn.«
»Ich schwör dir, ich hab nix
gesagt.«
Sie dreht sich ein wenig herum.
Die Luft immer noch rein, immer noch nur der eine Beobachter. »Mach
dir keine Gedanken um mich und Demi. Wir passen auf.«
»Bin hergekommen, wie du mir
gesagt hast, Baz. Ehrlich. Aber dann hab ich hier einen von Fays
Jungen gesehn. Vielleicht ham sie mich verfolgt, weil, kaum war ich
hier, da ist der Mann auf mich zugekommen.«
Miguel. Die Ratte Miguel! Der ist
es. Wer sonst? Keiner der anderen ist so gut wie er. Er ruft
Eduardo an, und Eduardo schickt sofort einen Anzugträger her, um
eine kleine Falle aufzustellen, ein kleines Netz zu spinnen.
»Der Mann hat mir gesagt, ich soll
mich hier hinstellen und mich nicht von der Stelle rührn, meinte,
er würd mich umbringen, wenn ich mich wegbewege, bevor du kommst.
Ich soll dich umarmen, wenn du kommst, damit er weiß, dass du’s
bist. Soll dich verraten. Is ’n harter Typ, Baz. Einer, der Leute
tötet. Meinst du, Fay hat dem Jungen gesagt, er soll mir
folgen?«
»Nein, Fay ist es nicht.« Ihr
Blick schweift immer wieder durch die Halle, um zu prüfen, ob es
außer diesem einen noch mehr Verfolger gibt. Sie hofft, dass Demi
die Fahrkarten hat. Sie sind so nahe dran. Der Zug steht da draußen
und wartet nur darauf, sie mitzunehmen. Falls Eduardo nur diesen
einen Anzugträger aufgeboten hat und glaubt, das würde reichen, um
sie und Demi aufzuhalten, dann ist er so schlau vielleicht auch
wieder nicht, aber sie müssen sich sputen, sonst fährt der Zug ohne
sie nach Norden. Und Lucien muss diesen Mann abschütteln.
»Hör zu, Lucien«, sagt sie. »Sag
ihm, du musst mal aufs Klo. Sag, du kannst es nicht mehr länger
aufschieben. Sag ihm, dass du gleich wiederkommst. Und dann triffst
du mich und Demi an der Bahnsteigsperre nach Tianna.« Es könnte
funktionieren.
Schweiß tropft ihm über das hagere
Gesicht. »Die sagen, du und Demi, ihr habt jemanden
umgebracht.«
»Das ist dummes Gerede! Glaubst du
das? Wen, glaubst du denn, würden wir umbringen wolln? Hat dich was
gebissen oder was?«
»Erzähl dir nur, was sie sagen,
Baz. Im Fernsehen heißt es, die Frau vom Captain wird vermisst. Es
heißt, du und Demi, ihr müsst sie getötet habn. Alle sagen das.
Auch die Zeitungen. Sagen, ihr seid hart und brutal. Sagen, die
Frau vom Captain war so ’ne Art Heilige, hat Demi besucht, als er
im Krankenhaus lag, aber dann ham du und Demi ihrn Ring gestohln,
sie umgebracht und auch den Wachmann umgebracht. Sagen, so’n
Diebesgesindel wie ihr zwei ist wie ’ne Plage, die die Polizei aus
der Stadt rausspüln muss. So sieht’s aus.« Die Worte sprudeln aus
ihm heraus wie das Rauschen im Radio, wenn ein Unwetter
bevorsteht.
Sie packt seinen Arm, drückt
richtig zu, ohne darüber nachzudenken, dass sie ihm die Jacke in
die wunde Stelle presst. Als er zusammenzuckt, lässt sie sofort
wieder los. »Die ham Bilder von uns? Wissen, wer wir sind?« Sie hat
keine Zeit, sich Sorgen um Señora Dolucca zu machen. Nicht jetzt.
Sie hat das Gefühl, ein Knoten würde sich in ihrem Nacken
zusammenziehen, so fest wie der Griff eines Polizisten.
»Nein«, murmelt er. »Bilder hab
ich nicht gesehn ...«
Der Knoten löst sich wieder. »Dann
los. Geh jetzt, sag dem Mann, was ich dir gesagt hab, und denk dran
– Tianna.«
Er neigt ganz leicht den Kopf und
Baz gleitet durch die sich unablässig bewegende Menge davon. Als
sie an der Seitentür der Vorhalle angelangt ist, blickt sie zurück
und sieht, dass Lucien auf den Mann zugeht, der gerade seine
Zeitung zusammenfaltet. Dann eilt sie hinaus auf die Straße und
rennt zum Haupteingang zurück. Das ist jetzt ihre Chance: Wenn sie
jetzt hier wegkommen, dann können sie in Tianna untertauchen.
Können von dort weiterziehen. Und sie werden zu dritt sein. Sie
wird sich die Haare wachsen lassen, einen Rock tragen. Sie werden
eine Familie sein. Sie werden sicher sein. Sie müssen nur den Zug
kriegen. Das ist alles.
Sie zwingt sich, die breite Treppe
langsam hinaufzugehen und ohne Hast die Bahnhofshalle zu betreten.
Sicher, viele Leute sind hier in Eile, aber wenn Kinder wie sie im
Laufschritt unterwegs sind, dann heißt das für die Uniformierten
immer nur eins: nämlich dass das betreffende Kind Ärger bedeutet.
Und dann schnappen sie zu, dann gehen sie auf sie los wie ein Hund
auf eine Ratte.
Baz sucht den Querbahnsteig ab,
aber sie kann Demi nicht sehen. Okay, sagt sie sich, er steht schon
beim richtigen Gleis. Alles, was sie zu tun hat, ist, das Gleis zu
finden. Noch einmal unterdrückt sie ihre Eile, geht gemessenen
Schritts zur Mitte des Querbahnsteigs und blickt hinauf zur Tafel.
Wie oft war sie schon hier mit Demi und hat dies doch noch kein
einziges Mal gemacht, hat noch nie bemerkt, wie viele Namen dort
oben in kleinen weißen Buchstaben stehen, ein bisschen flackernd,
sodass man sie schwer lesen kann. Zeiten werden eingeblendet, aber
die Gleisanzeige ist leer, bevor dann plötzlich doch eine Zahl
aufblinkt. Da! Tianna. Gleis sieben. Sie hat noch sechs
Minuten!
Sie geht schnell zur Sperre.
Reisende strömen in beide Richtungen über den Bahnsteig, und dazu
gibt es noch allerlei fliegende Händler und Obstverkäufer, Männer,
die heiße Esswaren in fettigen Papiertüten verkaufen, und solche,
die sich einen Behälter mit eiskaltem Wasser auf den Rücken
geschnallt haben und sich damit mühsam fortbewegen.
Aber von Demi keine Spur. Er hat
gesagt, er würde an der Sperre auf sie warten. Sie blickt zurück
zum Eingang. Vielleicht ist er dort und sucht sie. Vielleicht ist
er von Greifern geschnappt worden ...
Demi ist zu schnell. Keiner kann
ihn schnappen. Und sie wollten sich an der Sperre treffen.
Aber wo ist er?
Sie wünschte, sie würde nicht
aussehen wie die letzte Rotznase aus dem Barrio. Sie wünschte, sie
wäre sauber. Sie wünschte, Demi und Lucien wären jetzt hier, sie
würden zusammen über den Bahnsteig gehen, den Zug besteigen, sich
ihre Plätze suchen, die Stadt verlassen.
Sie springt auf einen Gepäckwagen
auf, achtet nicht auf das Schimpfen des grauhaarigen Bediensteten
im gelben Hemd der Bahngesellschaft, der sie auffordert, sie soll
da sofort runterkommen. »Fährt dieser Zug pünktlich ab?«, fragt sie
ihn.
»Woher soll ich das wissen? Komm
da runter, sonst ruf ich ’n Polizisten. Willst du das?«
Statt darauf zu antworten, springt
sie wieder ab und trabt am Rande des Querbahnsteigs entlang. Keine
Zeit mehr, sich noch Gedanken darüber zu machen, was die Leute beim
Anblick eines rennenden Kindes denken mögen. Sie sucht die Bänke
ab, wo ganze Familien, die gerade von irgendwo aus der Provinz
eingetroffen sind, erst einmal Mahlzeit halten und sich aufgeregt
umgucken, hier in der großen Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Sie sucht
bei den kleinen Ständen, wo irgendwelcher billiger Tinnef für alle
Naiven und Ahnungslosen feilgeboten wird: ein Mann, der Knochen
wirft und dann das Schicksal vorhersagt – jedes Schicksal, das man
hören will; er hat die Gabe, es einem auszumalen. Und eine Frau,
die Briefe schreibt für Leute, die ihren Angehörigen mitteilen
wollen, dass sie sicher angekommen sind. Wer ist schon sicher in
der Stadt?
Die große Uhr sagt ihr, dass sie
noch drei Minuten hat, aber ohne Fahrkarte und ohne Demi kann sie
nirgendwohin. Sie bleibt stehen. Sie dreht sich um. Und sie sieht
ein Handgemenge neben einem Zeitungsstand, ganz in der Nähe des
Bahnsteigs, wo sie eben noch gestanden hat: Zwei Jungen prügeln
sich, ein Mann winkt mit beiden Händen, ein Polizist geht auf sie
zu, wird schneller, fängt an zu laufen, ein schriller Pfiff ertönt.
Sie weiß, dass es Demi ist, und der andere ist Miguel, sie balgen
sich wie die Hunde, und der Uniformierte schreitet ein, seine
Pfeife kreischt, sein Schlagstock saust nieder.
Ohne zu überlegen, rennt sie auf
das Geschehen zu, kann gerade noch einem alten Ehepaar ausweichen,
das ihr genau vor die Füße läuft, ebenso wie sie angelockt von dem
plötzlichen Aufruhr. Vorübergehend abgelenkt, sieht sie den kleinen
Jungen nicht, der, Blicke nach links und rechts werfend, auf sie
zusaust, und so prallen sie mit den Schultern zusammen, verlieren
das Gleichgewicht und stürzen beide zu Boden. Baz ist
augenblicklich wieder auf den Füßen, hält sich die schmerzende
Schulter, aber sonst ist nichts passiert.
Der Junge, der sich beim Sturz das
Kinn ein bisschen aufgeschlagen hat, blinzelt und japst beinahe
ihren Namen: »Baz!«
Es ist Sol, das Baby der Bande.
Ängstlich, mit Rotz im Gesicht, will er sich hochrappeln. Sie packt
ihn, bevor er ihr entwischen kann. »Was tust du hier?«, zischt sie
ihn an. Wäre sie eine Schlange, würde sie ihn beißen, solch eine
kalte Wut empfindet sie, auf ihn und auf alle anderen.
»Fay hat mich hergeschickt. Soll
gucken, ob du und Demi sicher seid.«
Sie glaubt ihm nicht. »Du bist mit
Miguel gekommen!«
»Nein. Ich schwör’s, Baz. Miguel
ist nicht mehr bei Fay. Lass mich los, wir müssen weglaufen, Baz.«
Plötzlich windet er sich los und ist auf und davon. Halb setzt sie
dazu an, ihm nachzulaufen, bleibt dann aber stehen. Drüben, wo die
Schlägerei stattgefunden hat, hievt der Polizist Demi mit einer
Hand vom Boden hoch, er hat den Kragen von Demis T-Shirt in die
Faust geklemmt und diese einmal umgedreht, und Demis Kopf hängt
vornüber, als würde er toter Mann spielen oder so was. Der Polizist
hat die rechte Hand mit dem Schlagstock hoch erhoben und jetzt
saust sie nieder. Warum? Demi sieht jetzt schon aus, als ob kaum
noch Leben in ihm steckt! Aber dann erkennt sie, dass es gar nicht
Demi ist, auf den er einschlägt, sondern Miguel, der den Arm
erhoben hat, um seinen Kopf zu schützen, und aufheult, als ihn der
Schlagstock trifft. Gleich darauf hat der Polizist den Stock
losgelassen, sodass er am Handgelenk baumelt und er die rechte Hand
frei hat, um den Jungen fest am Nacken zu packen.
Also hat es sie beide erwischt.
Zwei Jungen für den weißen Transporter. Zwei Jungen fürs
Schloss.
Das war’s jetzt. Nichts mehr zu
wollen. Baz guckt nur noch reglos zu, die Füße wie Blei, die
Schulter wund, das Gesicht taub. Zwei Mal. Demis Glück ist
aufgebraucht. Keiner kommt zwei Mal davon. Jetzt kann ihn keiner
wieder aus dem Schloss herausholen.