23
Regen prasselt aufs Eisendeck und
fällt zischend auf den Schlamm, Donner grollt, und irgendwo
flussaufwärts ziehen sich kleine Risse spinnennetzartig durch den
großen Damm, kräuseln sich und vibrieren, bis sie zu klaffenden
Löchern aufplatzen, die tosend –
Baz wird mit einem Ruck wach. Sie
hat einen trockenen Mund. Die Tür zur Gasse klappert. Sie hört, wie
jemand leise zischend ihren Namen ruft.
Sie springt auf, läuft zur Tür und
zieht sie auf. Mama Bali platzt herein, riesig und schwarz wie die
Nacht selbst, drängt an Baz vorbei und marschiert direkt auf die
Rumflasche zu, die noch von vorhin dasteht.
Baz schließt die Tür und wirft den
Riegel vor. »Was ist?«, fragt sie. »Haste ihn geschliffen gekriegt?
Hat der Mann Probleme gemacht? Was ist passiert?«
Mama stellt den Becher ab, wickelt
sich den schwarzen Schal vom Kopf und tupft sich damit das Gesicht.
Sie atmet schwer, als wäre sie gelaufen. Seit sie im Barrio lebt,
hat nie jemand Mama sich anders bewegen sehen als langsam und
gemessen, aber die Zeiten ändern sich. Kopfschüttelnd sieht sie Baz
an, nimmt noch einen großen Schluck aus dem Becher und stellt ihn
dann auf den Tresen. »Hab den Schlüssel bezahlt.« Sie holt ihn aus
einer Falte ihres Schals hervor. »Hier.« Sie hält ihn Baz hin. »Hat
sich erst angestellt wie sonst was, aber dann hat er den Schlüssel
doch geschliffen. Ist das Beste, was ich für dich tun kann, Baz.
Der Mann ist ’ne Schlange, solltest also lieber hier verschwinden,
bevor sie mir die Bude abbrennen.«
»Hat dich jemand gesehn?«
Sie winkt müde ab. »Träumst du?
Sind hier im Barrio, Kind. Die halbe Welt weiß, was ich mach. Geh
los und hol Demi, und dann versteckt ihr euch irgendwo, bis sich
alles wieder beruhigt hat. Na los, geh.« Ihre beiden Hände liegen
auf den Knien, sie hat den Kopf gehoben und sieht Baz direkt in die
Augen. Kein Zorn, kein Verrat. Es ist, wie es ist.
Baz nickt und betrachtet den
grauen Schlüssel. »Hoffe, der funktioniert, eh.«
»Hoffnung ist so ziemlich das
Einzige, was wir habn.« Mama rührt sich nicht von ihrem
Hocker.
»Schließt du die Tür hinter mir
ab?«
Mama wedelt mit der Hand, als
würde sie eine Fliege verscheuchen. »Geh jetzt.«
Baz schlüpft hinaus, macht schnell
die Tür hinter sich zu, um kein Licht nach draußen dringen zu
lassen, und dann steht sie, genau wie Mama zuvor, stocksteif da und
lauscht. Sie sieht nicht, dass Mama sich die Hände vors Gesicht
hält, weil sie nicht sehen will, wie sie weggeht.
Baz hört Laufschritte – auf
Ledersohlen. Nur Moros Männer tragen Schuhe mit Ledersohlen, tragen
schicke Anzüge. Sie legt den Kopf auf die Seite. Es ist schwer zu
bestimmen, aus welcher Richtung sie kommen, vielleicht aus beiden.
Sie fasst einen Entschluss, läuft schnell zehn Schritte nach rechts
zurück, auf dem Weg, den sie gekommen ist, und findet die Stelle,
wo sie und Demi früher immer aufs Dach hochgestiegen sind.
Sie kraxelt nach oben, über ein
heilloses Gewirr von Rohren hinweg, und hievt sich genau in dem
Moment auf das Flachdach, als eine Reihe von sich zum Teil
kreuzenden Lichtkegeln durch die Gasse dringt. Und dann kann sie
die Männer ausmachen: zwei, nein, drei sind es, in lockerem
Laufschritt, schweigend, die Köpfe ständig in Bewegung, als würden
sie erschnüffeln wollen, was sich in Hauseingängen oder hinter
Rosten verbergen mag. Baz schmiegt ihre Wange an den warmen Beton
des Daches und lauscht den über den Boden trommelnden
Schuhen.
Gleich darauf herrscht wieder
Stille. Sie sind bei Mama, anders kann es nicht sein. Sie rufen
nicht und klopfen auch nicht an die Tür, aber Baz weiß, was sie
machen.
Sie muss nichts sehen können, um
zu wissen, dass sie einfach nur ihre Fingerspitzen benutzen, um die
unverschlossene Tür aufzustoßen. Muss nichts sehen können, um zu
wissen, dass Mama immer noch auf ihrem Hocker sitzt und auf sie
wartet.
Sie steht auf und bewegt sich
katzengewandt über verrückte Dächer, meidet Wellblech und steigt
leichtfüßig über Dachfenster, die mit Streckfolie und Draht
abgedeckt sind. Sie springt über eine schmale Hauslücke, drückt
sich an einer Ansammlung von heißen Rohren vorbei, überquert ein
weiteres Dach und macht dann an der Kuppel halt. Ihr und Demis
Rückzugsort. Falls sie jemand an diesem Platz sucht, dann kann er
nur von Demi hergeführt worden sein; und Demi führt niemanden
irgendwohin. Hier ist sie sicher.
Sie geht in die Hocke und lehnt
sich mit dem Rücken gegen die Wölbung der Kuppel. Mama wird denen
nichts sagen. Mama wird irgendeine Geschichte erfinden, sie wird
lospoltern und Widerworte geben. Mama ist die Seele des Barrio,
ihre Küche die einzige, die immer geöffnet ist. Niemand wird Mama
etwas tun.
Sie hört Rufe in der Ferne,
stampfende Füße, sie sieht den Strahl zweier Taschenlampen und dann
raunt genau unter ihr jemand etwas in ein Handy. Anschließend
wieder Totenstille, nur hin und wieder unterbrochen von Rufen und
gedämpften Verkehrsgeräuschen, die aus der Stadt
herüberdringen.
Baz schließt die Augen und
versucht zu schlafen, doch der Schlaf will nicht kommen. Die
Stunden vergehen langsam. Über ihr hängen die Sterne wie silbrige
Dornen am schwarzen Himmel, ringsum und unter ihr verstreut sich
das Barrio in alle Richtungen, einfach ein Chaos, denkt sie, nichts
als ein Durcheinander von Straßen, die nirgends hinführen. Zweimal
wird sie von Schreien aufgeschreckt, das eine Mal ist es nur ein
Kampf unter Katzen, das andere Mal ist sie sich nicht so sicher. Es
klingt nach Schmerz und es läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Sie
bleibt, wo sie ist. Fay lässt bereits das halbe Barrio nach ihr
suchen. Keiner bestiehlt Fay. Sie wird Baz zur Strecke bringen und
sie wird toben, und dann, wer weiß, wird sie sie an Moro übergeben.
Baz sagt sich, dass sie lieber sterben würde, als an Moro übergeben
zu werden. So also verbringt sie die Nacht, mit dem Rücken an die
Kuppel gelehnt, die Knie fest umschlungen, hinausstarrend auf die
schwarzen Nadelöhrgassen des Slums.
Eine halbe Stunde vor
Sonnenaufgang beginnt sich das Barrio zu regen. Es entsteht
Bewegung, Menschen rufen und husten. Einige von denen, die einen
Job in der Stadt haben, machen sich auf in Richtung Agua. Wer
bleibt, stellt den Herd an und beginnt mit der Tagesroutine. Fast
ist sie versucht, es drauf ankommen zu lassen und jetzt
aufzubrechen, aber es ist sicherer, wenn sie noch wartet: Später
sind mehr Leute unterwegs, es ist leichter, sich verborgen zu
halten und die Schattenmänner zu identifizieren, die an
irgendwelchen Ecken herumhängen, um Ausschau nach Fays Kindern zu
halten. Und so bleibt sie also noch, im Schneidersitz dem Fluss
zugewandt, wartet auf die Sonne und überlegt sich, was zu tun
ist.
Die aufgehende Sonne ist knallgelb
und wirkt irgendwie müde und trotz des Dunstes über dem
ausgetrockneten Fluss kann Baz noch so gerade eben den flachen
eckigen Klotz von Fays Haus ausmachen. Dort wird sich noch niemand
rühren. Der Raum wird heiß und stickig sein. Die Jungen werden rund
um den stummen Fernseher gekuschelt liegen, und Fay, die zerzausten
Haare wie orangefarbene Flammen rund um ihr Gesicht züngelnd, wird
reglos wie eine Leiche auf ihrem schmalen Bett liegen, die Augen
geöffnet, doch ohne Blick, mit Pläneschmieden beschäftigt. Es gab
Zeiten, da hätte sie Baz und Demi in diese Pläne eingeweiht, da
saßen sie alle drei am Tisch, und Demi war immer ganz begierig
darauf, endlich loszulegen.
Langsam erhebt sich Baz, sorgsam
darauf bedacht, sich von der Dachkante fernzuhalten, streckt sich,
stellt sich auf die Zehen, dreht sich, die Arme ausgebreitet,
langsam um, wie eine von den Tänzerinnen an Mamas Wand. Dann sieht
sie den Rauch und erstarrt.
Es ist dichter und ölig schwarzer
Rauch, der genau aus der Richtung von Mamas Küche aufsteigt, aber
niemand da, der Eimer aus Luciens Brunnen schöpft, niemand ruft,
niemand kommt gelaufen. Warum nicht? Es passieren oft Unfälle im
Barrio. Häuser geraten in Brand. Und wenn auch kein
Feuerwehrhauptmann versuchen würde, seine Wagen in das Gassengewirr
des Barrio zu schicken, so gibt es doch immer Hilfe von den
Nachbarn, und sei es nur, weil diese verhindern wollen, dass das
Feuer auf ihre Häuser übergreift. Und um Mama zu helfen, würden die
Leute kilometerweit laufen, es sei denn, Señor Moro hätte einen
seiner Männer losgeschickt, der dort in der Gasse steht, an die
Mauer gelehnt, die Arme verschränkt. Niemand wird Mama helfen, wenn
der Schattenmann den Weg versperrt.
Niemand außer Lucien. Er würde
helfen, unter allen Umständen. Er verdankt Mama alles. Baz kann
seinen kleinen Platz von der Nordseite ihres Daches aus sehen. Sie
sieht den Brunnen, und jetzt sieht sie auch Lucien, er steht da,
hält schützend eine Hand vor die Augen und starrt auf den Rauch.
Aber auch er rührt sich nicht. Vielleicht ist ihm noch nicht klar
geworden, dass es Mama ist, die in Schwierigkeiten steckt.
Und dann, ohne groß nachzudenken,
kriecht Baz vom Dach herunter. Sie wird es ihm sagen. Bestimmt darf
sie sich in seinem kleinen Verschlag verstecken, während er
erkundet, was passiert ist. Er wird helfen, Lucien, auf jeden Fall.
Er bietet immer seine Hilfe an, wenn sie Wasser holen kommt. Jedes
Mal. Sie eilt durch die überdachte Gasse, durch das
Ching-Chang-Haus, bleibt stehen und blickt sich nach links und
rechts um. Die Luft ist rein. Sie läuft los, den breiteren Weg
hinunter, der zum Brunnen führt. Da hört sie den Ruf: »Baz, hey!
Was machst du? Fay ist schon halb verrückt vor Sorge, was mit dir
ist.« Sie bleibt stehen und dreht sich um.
Miguel! Ist er also doch
zurückgekommen. Er läuft auf sie zu, versucht seine Begierde, sie
einzufangen, dadurch zu verbergen, dass er die Stirn runzelt, ein
ganz besorgtes Gesicht macht, aber in Baz’ Augen sieht er aus wie
eine hungrige Ratte: verlottert, das zerrissene Shirt um den Leib
flatternd, den Mund aufgerissen. Sie fragt sich, für wen er
eigentlich arbeitet.
Instinktiv sprintet sie in die
entgegengesetzte Richtung.
»Baz! Warte! Fay sagt, wir solln
dich suchen!«
Sie biegt scharf nach links ab,
stößt eine Mülltonne aus dem Weg, schlüpft durch eine kleine Lücke
zwischen zwei Häusern, doch leider ist sie nicht schmal genug.
Miguel zwängt sich hinterher, bleibt an ihr dran. »Baz. Was machst
du denn? Soll Fay denken, dass du was vor ihr verstecken willst?
Baz, warte ...«
Sie springt, Ellbogen und Knie
aufgeschrammt, aus dem Spalt heraus und läuft den Weg hinunter, der
zum Brunnen führt. Fast kann sie das schmierige Plopp hören,
mit dem Miguel hinter ihr aus der Dunkelheit platzt. »Baz, du
machst einen Fehler.«
Sie sieht Lucien, der verwirrt in
ihre Richtung blickt. Seine Augen weiten sich, als er bemerkt, dass
Miguel ihr hart auf den Fersen ist, und dann verändert sich sein
Gesichtsausdruck, als Miguel nach Baz greift und sie packt, sie
herumwirbelt, sodass sie gegen die Seitenmauer prallt. Miguel
bemerkt Lucien nicht – warum sollte er auch? Niemand kümmert sich
hier darum, was der andere macht. Kinder, die sich balgen – na und?
Machen sie doch ständig.
Miguel ist klein, aber er besteht
fast nur aus Sehnen und Muskeln, und er ist hungrig, ehrgeizig,
möchte die Nummer eins sein für Fay, die Nummer eins für Eduardo.
Hätte Miguel eine Pistole oder ein Messer, würde er töten,
allerdings hat ihm niemand aufgetragen, zu töten, er soll sie nur
finden, soll sie zurückbringen. »Du kommst mit mir«, keucht er,
packt mit einer Hand ihren Nacken, dreht ihr mit der anderen den
Arm nach hinten, und er lässt nicht los, obwohl sie heftig austritt
und mit dem Kopf nach ihm stößt, ihn auch voll mit der Stirn am
Kinn erwischt. Blut läuft ihm über die Lippen, aber er bemerkt es
gar nicht. »Du kommst mit, Baz. Du kommst mit mir mit.«
Er registriert nicht, dass Lucien
auf ihn zugelaufen kommt. Lucien mag spindeldürr und kränklich
sein, aber er hievt seit Jahren Wassereimer aus seinem alten
Brunnen, und als er Miguel mit vollem Schwung die Faust an den Kopf
schlägt, wird dieser durchgeschüttelt, als hätte der Boxweltmeister
im Schwergewicht ihm eine verpasst. Miguel taumelt rückwärts, und
etwas fällt ihm aus der Tasche – ein Handy –, aber er kriegt es
nicht mit. Blinzelnd hält er sich den Kopf, das Blut tropft ihm
übers Kinn, und es ist, als würde er Lucien zum ersten Mal in
seinem Leben sehen. »Du!«, zischt er, und Baz weiß nicht, ob das an
sie gerichtet ist oder an Lucien. »Du bist erledigt.« Er spuckt
roten Schleim zusammen mit einem Stück Zahn aus, dreht sich um und
läuft, etwas schwankend, los in Richtung Bude.
Baz lehnt schwer atmend an der
Wand und schaut Lucien an, als habe auch sie ihn noch nie vorher
gesehen. Lucien, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet, der
von kümmerlichen Resten und den paar Cent für sein Wasser lebt,
Lucien mit all seinen Wunden und Geschwüren – dieser Lucien
erscheint wie aus dem Nichts, um sie zu retten. Sie blinzelt. »So
was hat noch nie jemand getan für mich. Demi nicht, keiner. Du hast
mich gerettet, Lucien.« Nur halb nimmt sie knallende Geräusche im
Hintergrund wahr, so als würden Türen zugeworfen oder
Bratpfannendeckel gegeneinander geschlagen.
Lucien wendet sich ab, betrachtet
die Hand, die den Schlag geführt hat. »Hab gesehn, dass er dir
wehgetan hat.« Er bückt sich und hebt das Handy auf, das aus
Miguels Tasche gefallen ist. »Er wird noch mal wiederkommen und das
hier suchen, schätz ich.«
»Er wird noch mal wiederkommen und
dich suchen, Lucien, und falls Fay ihn nicht aufhält, wird er jede
Menge Ärger mitbringen.«
Lucien zuckt mit den Schultern.
»Hey, kannste das brauchen, Baz? Hab keinen, den ich anrufen kann.
Aber vielleicht willst du mal telefoniern.« Der Krach wird lauter.
Er runzelt die Stirn.
Sie nimmt das Handy, ohne groß
darüber nachzudenken. »Hast doch das Feuer gesehn. Ich weiß, dass
du’s gesehn hast. Das ist Mamas Küche. Du musst gehn und gucken, ob
alles in Ordnung ist mit ihr, Lucien.«
Er nickt, macht ein unglückliches
Gesicht dazu. »Sie ist letzte Nacht zu mir gekommen. Hat gesagt,
wenn ich mitkriege, dass irgendwas passiert bei ihrm Haus, soll ich
nicht kommen und gucken, was los ist. Musste es ihr schwörn.« Er
wischt sich mit dem Handgelenk über die Stirn. »Hab den Rauch
gesehn und wollte grade los, egal, was sie sagt, Baz, und dann seid
du und er genau in meinen Hof geplatzt. Vielleicht geh ich jetzt.«
Er ist einen halben Meter größer als sie und so dünn, dass neben
ihm alle anderen Barrio-Bewohner wie fette Wohlstandsbürger wirken.
Er trägt ein altes, ausgeblichenes Hemd, das Mama ihm überlassen
hat. Es ist sauber, besteht aber inzwischen mehr aus Löchern als
aus Baumwolle. Von der Schulter bis hinunter zum Ellbogen verläuft
ein Riss, durch den man eine seiner wunden Stellen sehen kann.
»Meinst du, dass ich gehn sollte, Baz?«
Das durchdringende Geräusch einer
Trillerpfeife ertönt und dann das plötzliche Krachen von
Gewehrschüssen. Das rhythmische Knallen erstirbt und stattdessen
hört man Rufe und Schreie.
Sie weiß, was das ist: der Beginn
der Unruhen, auf die Eduardo hingearbeitet hat. Eduardos Krieg, und
da möchte sie nicht hineingeraten. »Ja, musst du wohl, Lucien. Aber
ich kann nicht. Der Lärm da hinten, das ist die Polizei. Die kommen
ins Barrio. Ich muss sehn, dass ich wegkomme, sonst steck ich hier
fest und dann kann keiner mehr Demi holn.« Sie gibt ihm einen
sanften Stoß. »Los, Lucien.«
»Pass auf, Baz.«
»Klar, Lucien.«
Sie ist schon unterwegs, fängt an
zu laufen, biegt in einen Durchgang, der in die Richtung des
Agua-Platzes führt.
Der Durchgang weitet sich zu einer
Gasse, teilt sich, krümmt sich nach links, und dann ertönt das
Schlagen, Knallen und Rufen wieder. Pfeifen schrillen und plötzlich
kommt eine Schar von Menschen auf sie zugerannt: eine junge Mutter
mit ihrem Baby im Arm, eine ältere Frau, ein humpelnder Mann,
hinter ihnen eine Reihe von Kindern. Alle rufen sie durcheinander,
aufgeregt, verängstigt. Ein Junge hält sich ein zusammengeknülltes
T-Shirt vors Auge. »Polizei!«
Sie hält den Jungen an, der
verletzt zu sein scheint. »Komm ich hier durch?«
»Nein! Hier kommt keiner durch.
Die nehmen alle hops. Wenn du da lang läufst, greifen dich die
Bullen ab. Willste mal sehn, was sie mit mir gemacht ham?« Der
kleine Junge nimmt sein Shirt aus dem Gesicht, sodass sie sein Auge
sehen kann, das bereits anzuschwellen und sich rundherum zu
verfärben beginnt. »Hat mich einer mit seinem Stock erwischt.« Er
klingt fast stolz. »Jetzt lass mal meinen Arm los.«
»Was wolln sie?«
»He, lass mich los!« Das Kind
windet sich plötzlich wie ein Aal und ist gleich darauf
verschwunden.
Baz trabt zur nächsten Ecke und
rauscht um ein Haar einem Uniformierten in den Rücken, der so
breite Schultern hat, dass er praktisch die ganze Gasse blockiert.
Er hat einen langen Stock in der Hand, dessen Spitze auf dem Boden
ruht. Seine Aufmerksamkeit ist auf einen Vorgang zu seiner Rechten
gerichtet. Rasch drückt sie sich rückwärts in einen
Hauseingang.
Ein neuerliches Krachen ertönt,
dann das Heulen und Prasseln von Kugeln, die von Mauern abprallen,
und der Uniformierte tritt blitzschnell zurück. Eine Abteilung von
Blauen mit Plexiglas-Schutzschilden stürmt an ihm vorbei, und
dahinter noch mehr Blaue, diesmal mit kurzläufigen Gewehren. Einer
bleibt stehen und feuert, es gibt ein dumpfes Donnern, dann noch
mehr Geschrei und einen bitteren Geruch. Gas? Vielleicht wollen sie
das Barrio mit Gas vollpumpen, alle und alles daraus vertreiben,
einschließlich der Ratten.
Baz zieht sich zurück. Probiert
einen anderen Weg. Auch der ist versperrt. Die ganze Gegend ist
verrückt geworden, es ist, als hätte jemand das Barrio gepackt und
in eine riesige Pfanne gekippt, um es kräftig durchzuschütteln und
zu braten, und kein Wunder, dass Baz kaum mehr weiß, wo oben und
unten ist, geschweige denn, wo es nach draußen geht.
Als Nächstes probiert sie die
Dächer aus. Schafft es fast bis dreißig Meter an den Agua-Platz
heran. Sie kann die Rückseiten der alten Gebäude am Südende des
Platzes sehen, eine Wand, die das Barrio zum Fluss hin abgrenzt,
aber weiter kommt sie nicht. Ein Polizist entdeckt sie, und eine
Sekunde später knallt eine Kugel durch eine Ansammlung von
Blechschornsteinen, neben die sie gerade getreten war. Sie lässt
sich fallen und krabbelt auf dem Bauch, so schnell sie kann, von
der Dachkante weg.
Etwas Hartes und Scharfes bohrt
sich in ihren Oberschenkel, und für einen Moment glaubt sie, sie
sei getroffen worden, vielleicht vom Splitter einer Kugel. Sie
rollt sich auf die Seite, um nachzusehen.
Es ist nichts. Nicht mal ein
Kratzer, nur der Schlüssel, den sie in ihre Hosentasche gestopft
und in der Aufregung des ganzen Gerennes, Geschreis und Geschießes
total vergessen hat. Sie zieht ihn heraus, in der Absicht, ihn in
die Gesäßtasche zu stecken, und dabei fällt ein zweiter, kleinerer
Schlüssel heraus und poltert aufs Dach. Demis Schlüssel, der fürs
Motorrad. Und da kommt ihr eine Idee.
Beide Schlüssel fest in der
rechten Hand, geht sie kurz in Kauerstellung, rennt dann in vollem
Tempo auf den Rand des Daches zu und springt. Der Abstand zwischen
den Häusern ist nicht so groß, daher erreicht sie mit Leichtigkeit
die andere Seite und schwenkt, ohne merklich an Geschwindigkeit
nachzulassen, nach rechts, springt noch einmal, taucht unter einer
Wäscheleine hindurch, setzt über einen behelfsmäßigen
Regenwasserspeicher hinweg. Zwischendurch bleibt sie
vornübergebeugt stehen, um Atem zu schöpfen. Dann läuft sie weiter.
Hinüber auf das nächste Dach und das übernächste, immer in die
Richtung von Luciens Hof. Sie umkurvt eine hohe Mauer, einziges
Überbleibsel einer alten Fabrik, die dort einst gestanden hat. Sie
hat sich noch nie gefragt, was dort wohl produziert wurde – wozu
auch? Inzwischen ist es »Moros Mauer«, der Ort, an dem immer mal
wieder Leichen von Leuten gefunden werden, die es sich mit dem Boss
des Barrio verscherzt haben.
Sie schaut sich um. Nichts. Schaut
nach unten: zwei Männer in schnellem Laufschritt. Jung, von der
Wäscherei kommend. Sie gleitet über den Rand, hängt für einen
Moment in der Luft, lässt sich dann fallen und landet sicher auf
den Füßen. »Geh nach Haus«, sagt einer der Männer. »Geh nach Haus,
bevor dir jemand den Kopf vom Hals schießt.«
Das laute Wummern einer Explosion
ertönt, gleich darauf riecht es überall nach brennendem Benzin.
Ungefähr dreißig Meter entfernt, in Richtung Agua, steigt eine
schwarze Wolke auf. Die Männer rennen weiter.
Nach Hause? Es gibt im Barrio kein
Zuhause mehr für sie. Sie hofft, dass Lucien beim Brunnen ist.
Vielleicht kann er helfen. Es ist nur eine kleine Hoffnung, aber
sie hält sich daran fest, während sie durch die letzte Gasse zu
seinem Hof sprintet.