14
Der Staub hat sich ihnen in die
Augen, die Nasen und die Haare gesetzt. Demi rudert mit den Händen,
flucht und hustet, aber Baz steht schon wieder aufrecht, späht,
sobald der Laster sich entfernt, durch den Splittnebel. Sie weiß,
dass sie sich beeilen müssen. Ihnen bleiben nur wenige Sekunden,
bevor die Sicht wieder klar ist und der Fahrer den Leuten beim
Betriebshof alles erzählt, was er über sie beide erfahren hat, und
dann werden die zwei Männer in Anzügen jede ihrer Bewegungen
verfolgen können. Wie können sie das vermeiden? Es ist zu weit bis
zum Fuhrpark, um dort zwischen all den Lastern und den
Geräteschuppen zu verschwinden. Ohnehin müssten sie dafür die
Straße überqueren und direkt am Betriebshof vorbeilaufen. Zur
Rechten liegen die vertrockneten Baumwollfelder. Da gibt es keinen
Schutz außer der einen oder anderen verkümmerten Akazie ...
Sie packt Demi. Der Graben, der
zwischen ihnen und dem Feld liegt, ist so tief, dass sie sich
einfach nur bücken müssen, um nicht gesehen zu werden. Tatsächlich
gibt es hier sogar ein ganzes Netzwerk von ausgetrockneten
Bewässerungsgräben, die sich um jedes einzelne Feld ziehen. Wenn
sie Glück haben, können sie darin bis zum Zaun gelangen.
»Hier lang«, sagt sie, schon halb
von der Straße herunter, und reißt an seinem Arm, damit er ihr
folgt.
»Was! Ich dachte, dir ist
schlecht. Was ...?« Halb sich sträubend, halb ihrem Ziehen
nachgebend, taumelt Demi neben Baz in den Graben. Seine Augen
tränen vom aufgewirbelten Sand, seine Hände sind verschrammt und
seine Jeans an einem Knie aufgerissen. »Baz! Was machst du denn!
Guck doch mal! Wenn du dich im Dreck wälzen willst, hat keiner was
dagegen, aber lass mich in Ruhe damit. Der Mann eben hat uns ’ne
lange Wanderung erspart und uns von dem Laden hier erzählt. Wir
mussten nichts weiter tun, als still sitzen und ’n paar Dollar
zahln, um mit Raoul nach Hause zu fahrn. Und jetzt sehn wir
deinetwegen echt blöd aus.« Er haut sich aufs Bein und zuckt
zusammen. »Wie soll ich meine Arbeit machen mit ’ner kaputten Hand?
Kannste mir das mal ... Halt, wo willste hin?«
Baz bewegt sich, so schnell sie
kann, durch den überwucherten Graben. Dornen reißen ihr die Arme
auf und verfangen sich in ihrer Kleidung. Sie bleibt möglichst
dicht am Boden, stürmt auf Händen und Füßen voran, wie ein Affe.
Hinter sich kann sie Demi hören, immer noch grummelnd, aber er
folgt ihr. Nur noch ein paar Meter, dann können sie abbiegen und
sich von der Straße entfernen, im Zickzack zwischen den Feldern
hindurch den Betriebshof hinter sich lassen. Vielleicht wird der
Fahrer nicht reden, vielleicht wird man nicht nach ihnen jagen.
Vielleicht, vielleicht. Die Sonne brennt auf sie nieder, der
schmale Bewässerungsgraben speichert die Hitze wie ein Ofen. Baz
fühlt ihr heißes Gesicht anschwellen. Insekten schwärmen aus dem
Grasbewuchs heraus, stechen in Arme, Beine und Nacken.
Ende des ersten Feldes. Sie wuselt
weiter nach rechts.
Immer noch keiner hinter ihnen
her.
Wer wäre auch so verrückt, ihnen
nachzulaufen? Warum sollten sich diese Männer in Anzügen dafür
interessieren, ob zwei Jugendliche per Anhalter hergekommen sind
oder nicht? Baz weiß aber, dass sie sich sehr wohl dafür
interessieren, ja, natürlich tun sie das. Niemand besucht den Berg,
es sei denn, er hat hier zu tun oder er will Ärger machen. Kinder
hinter dem Stacheldraht sind okay, denn die sind Sklaven, die sich
durch den Dreck wühlen, aber Kinder vor dem Stacheldraht, Kinder,
die Fragen stellen, die bringen Ärger. Und garantiert gibt’s eine
hübsche kleine Dollarbelohnung für jeden Schattenmann, der sie
schnappt und festhält, denn dann sind’s ja wieder zwei Arbeiter
mehr, zwei Sklaven mehr.
Ende des zweiten Feldes – nach
links.
Immer weiter. Ihr Atem geht
stoßweise und keuchend. Ende des Feldes. Wieder um die Ecke – und
es geht nicht weiter. Der Graben ist hier mit Beton ausgemauert
worden, ein eisernes Tor versperrt den Weg. Sie sinkt an der
Seitenwand nieder und Demi lässt sich neben sie fallen. Vorsichtig
schiebt sie ihren Kopf über den Grabenrand und checkt die
Lage.
Etwa dreihundert Meter in der
Richtung, aus der sie gekommen sind, kann sie gerade eben noch das
Dach des Betriebshofs erkennen. Zwei kurze Felder entfernt ist der
hohe Drahtzaun und dahinter der stinkende Berg selbst. Sie kann
Leute darauf sehen, mit gebeugten Rücken, langsamen, steifen
Bewegungen, Köpfe, Hände und Beine in Lumpen gewickelt. Ob es
Männer, Frauen oder Kinder sind, kann sie nicht
unterscheiden.
»Baz! Jetzt mach mal langsam.
Erklär mir endlich, was los ist. Ich bin mit dir hergekommen. Hab
einiges rausgekriegt und ich hab Geld. Sieh her!«
Sie dreht sich um. Demi hält ein
Bündel Geldscheine in der Faust. »Das ist mein Geld. Nicht Fays.
Meins. Der Fahrer vorhin meinte, er würd uns helfen, und du rennst
einfach davon wie ’ne Ratte. Warum benimmst du dich so
verrückt?«
»Du hast ihm zu viel
erzählt.«
Sein Mund ist schon offen, um
weitere Beschwerden herauszulassen, doch dann klappt er ihn zu, die
Augen schwarz und wütend. Demi ist nie böse auf sie und sie auch
nicht auf ihn. Dies ist eine Ausnahme, ein erstes Mal. Sie spürt
die Anspannung, aber sie weiß, dass sie recht hat. Er muss jetzt
auf sie hören, auch wenn er älter ist als sie. Auf der Straße hat
er zu bestimmen, denn dort ist er in seinem Element, aber hier sind
sie gleich.
»Woher solln wir überhaupt wissen,
ob Raoul hier ist?«
»Wir finden’s jedenfalls nicht
dadurch raus, dass wir ans Tor klopfen und nachfragen. Hast du sie
am Betriebshof gesehn? Die Schattenmänner, die da auf die Lastwagen
warten?«
Demi runzelt die Stirn. »Was für
Männer?«
»Mit Gewehren. Señor Moros Männer.
Meinst du, es wär schlau, wenn man die nach Raoul fragt?«
Der Zorn weicht aus seinen Augen.
Schulterzuckend wendet er sich ab, blickt zurück zum Betriebshof.
Er mag es gar nicht, wenn er derjenige ist, der nicht mehr
weiterweiß. »Fay bringt uns um, wenn wir heut Abend nicht zurück
sind – das weißt du, Baz.«
Über Fay hat Baz sich überhaupt
keine Gedanken gemacht, außer darüber, wie sie zulassen konnte,
dass Raoul einfach so verschleppt wird. »Fay wird niemanden
umbringen.«
»Mich bringt sie um. Sie will,
dass ich heute Abend auf Raubtour gehe. In dem schicken Haus, das
du und ich jetzt angeblich gerade ausspionieren. Genau das hab ich
ihr heute Morgen erzählt. Von über die Brücke fahren und Raoul
suchen war nicht die Rede. Und jetzt plötzlich dieser Junge von
ihr, in den sie so verknallt ist –« Er bricht ab. »Baz, glaubst du,
dass Fay uns beide auch irgendwann mal weggeben würde?«
»Ich weiß es nicht, Demi.« Sie
haben jetzt keine Zeit für so etwas. Sie dreht sich um, als würde
der Berg an ihr zerren. »Willst du nun mitmachen oder trampst du
zurück? Weil, ich geh jetzt los und such nach Raoul.«
Er verzieht das Gesicht. »Was
glaubst du denn? So’n Mädel wie du würde nicht mal ’n Ei im
Hühnernest finden, wenn sie keinen Demi dabei hätte, der ihr beim
Suchen hilft.«
So angespannt sie ist, muss sie
doch lächeln. »Na, dann komm. Wir klettern um dieses Ding herum«,
sie zeigt auf die eiserne Barriere, »dann kommen wir an den Zaun
ran. Vielleicht müssen wir gar nichts weiter tun, als die Leute auf
der andern Seite fragen. Die werden uns schon nicht
verraten.«
»Nein«, sagt er, »hab ’n besseren
Plan.« Demi muss immer einen besseren Plan haben, aber sie ist
einverstanden mit dem Vorschlag, den er macht. Es hat wenig Sinn,
wenn sie beide das Gleiche tun. Während sie zum Zaun geht,
vielleicht sogar einen Weg hinein und auf den Berg findet, kann er
sich rückwärts wenden, zum Betriebshof schleichen und erkunden, was
für Sicherheitsvorkehrungen diese Schattenmänner getroffen haben.
Falls die Luft rein ist, überquert er den Weg, ist dann gleich beim
Fuhrpark. »Schnüffel ich da mal ’n bisschen rum.«
»Wie ’n Hund.«
»Kein Hund ist so schlau wie ich«,
sagt er. »Ich komm dann hier zu dir zurück. Gib mir ’ne halbe
Stunde, und lauf nicht weg.« Er hebt warnend den Finger, bevor er
sich umdreht und einen Teil des Weges, den sie gekommen sind,
zurückläuft. Sie wartet nicht ab, bis er außer Sicht ist, sondern
kriecht sofort die Grabenwand hoch, krabbelt flach auf dem Bauch um
das Hindernis herum und gleitet auf der anderen Seite wieder in den
Graben zurück. Dann macht sie sich, den Kopf immer unten haltend,
auf in Richtung Zaun. Am Rande des Felds, dort, wo ihr Graben auf
einen anderen trifft, macht sie halt. Näher heran geht es nicht.
Höchstens noch zehn Schritte bis zum Zaun.
Der Berg erhebt sich hinter dem
Sicherheitszaun wie eine riesenhaft angeschwollene Ratte: ein
krebsgeschwürartiger, mit Pocken übersäter Schlackenhaufen, in dem
Blechfetzen glitzern, glimmende Abfälle vor sich hin stinken, alte
Reifen sich zu Stapeln türmen. Zerbrochene Möbel liegen da und
Plastik, Plastik und noch mal Plastik, überall Plastik, das wie
eine Hundertschaft von Schlangenköpfen in der heiß aufsteigenden
Luft flattert und in schleimig verschlungenen Bändern am Drahtzaun
hängt.
Sie klettert aus dem Graben und
richtet sich langsam auf, fühlt sich schrecklich ausgesetzt dabei.
Vögel fliegen vom Zaun auf und kreisen, raue und wütende Rufe
ausstoßend, über ihr. Die Leute, die auf dieser Seite des Berges
arbeiten, unterbrechen einer nach dem anderen ihre Tätigkeit und
drehen sich zu ihr um. Sie fühlt die Augen in den verhüllten
Gesichtern mehr, als dass sie sie sieht. Was mögen sie denken, wenn
da plötzlich eine Gestalt aus dem Graben gekrochen kommt und sie
anstarrt, als wären sie Tiere im Zoo? Baz’ Nacken ist schon ganz
wund von der Sonne. Sie hält den Blick auf die Leute hinter dem
Zaun gerichtet, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper sie drängt,
sich umzudrehen und zu kontrollieren, ob nicht irgendein
Schattenmann über das Feld gelaufen kommt. Es ist zu spät, sich
umzudrehen, zu spät, um wegzulaufen.
Sie hebt eine Hand. Niemand rührt
sich. Sie tritt über einen holprigen Weg, der, gerade breit genug
für ein Motorrad, direkt entlang des Zauns verläuft. Sie
registriert die Reifenabdrücke, doch ihre Aufmerksamkeit gilt den
Leuten. »Ich such nach einem Jungen«, sagt sie in die Runde.
Jemand kichert und hustet. Das
Husten steigert sich zu einem trockenen Würgen und ein Stück zur
Linken sinkt eine Gestalt auf die Knie. Niemand schenkt ihr
Beachtung. Baz packt den Draht mit der rechten Hand. »Ein Junge,
von den Männern hergebracht, vielleicht vor zwei Tagen. Den Männern
im Anzug.«
»Moro«, sagt eine der Gestalten
und spuckt aus. Das ist sicherlich ein gutes Zeichen. Sie werden
ihr helfen. Sie müssen ihr einfach helfen.
Sie beginnen schlurfend näher zu
kommen, die Älteren, wie sie bemerkt, mit vorsichtigen Bewegungen,
die Kinder schneller, manchmal stolpernd, die Füße können plötzlich
einsacken, und alle schleppen sie einen Sack hinter sich her. Einer
stürzt und schreit auf, rafft sich wieder auf und stakst, sich den
Arm haltend, weiter den Hang hinunter auf Baz zu. Beim Gehen wühlen
sie den Boden auf, dadurch verstärkt sich der Geruch, die Luft ist
ranzig von Gasen. Baz bedeckt ihren Mund mit dem Unterarm. Ratten
huschen aus dem Abfall.
Es sind die Kinder, die bis an den
Zaun treten, vier von ihnen, mit wässrigen Augen, die Baz
anstarren, als sei sie eine vielversprechende Mahlzeit. Die Älteren
bleiben etwas zurück, auf halber Höhe des Hangs. Einer hat einen
Stock in der Hand, den er erhebt und in Baz’ Richtung schüttelt.
Sie weiß nicht, ob es eine Warnung sein soll, ein Willkommensgruß
oder ein Versuch, sie in einer Rauchwolke verschwinden zu lassen.
Er erinnert sie an einen sehr, sehr alten Mann im chinesischen
Viertel des Barrio, mit einer Haut so trocken wie Papier, von dem
die Leute sagen, dass er zaubern könne.
»Hast ’ne Uhr.« Ein Junge mit
heiserer Stimme starrt ihren Arm an.
»Weiche Haut«, sagt eine andere
Stimme, die eines Mädchens. Der ihr Gesicht einhüllende Lumpen ist
etwas verrutscht, und Baz versucht, nicht auf die entzündeten
Blasen zu starren, die ihre Stirn bedecken.
»Willste meine Uhr?« Sie streift
sie sich vom Handgelenk. Sie ist billig, aus Plastik, aber sie
funktioniert.
Der erste Sprecher streckt seine
Hand aus. Er hat den kleinen Finger verloren, die Wunde ist
unbehandelt und trieft. Sie lässt die Uhr fallen und zieht hastig
ihre Hand zurück. Der Anflug eines Lächelns flackert über sein
Gesicht. »Hast Angst, du kriegst die Krätze, eh, kleines, hübsches
Ding?« Dann betrachtet er die Uhr und stößt einen der anderen, der
zu nahe herangekommen ist, beiseite. »Hast ’n Handy?«
Sie schüttelt den Kopf.
Das Mädchen hat Baz nicht einen
Moment lang aus den Augen gelassen. »Wer ist der Junge, den du
suchst?«
»Raoul. Bisschen dicker. Ungefähr
dreizehn. Lacht gern.« Dieser Ort macht nicht den Eindruck, als
würde man hier irgendeinen Grund zum Lachen finden.
»Lachen?«, sagt sie. »Vor zwei
Tagen ham sie ’n Jungen gebracht, der versucht hat zu lachen, aber
der ist jetzt krank.«
»Wo ist er?«
Das Mädchen zuckt mit den
Schultern. Die Älteren haben inzwischen das Interesse verloren, und
auch die Jungen, die nach unten gekommen sind, um Baz von Nahem zu
sehen, machen sich langsam wieder auf den Rückweg den steilen und
wackeligen Hang hinauf, bleiben hier und da stehen, um ein Stück
Gummi oder einen Stofffetzen unter die Lupe zu nehmen, und manchmal
fügen sie ihr Fundstück auch der Sammlung in ihrem Sack
hinzu.
»Bitte, ihr dürft nicht gehen«,
fleht Baz. »Helft mir.«
»Warum?« Das Mädchen dreht sich
um. »Du kannst mir ja nichts tun.«
Für einen Moment glaubt Baz, dass
sie sich verhört hat. »Ich will niemandem was tun.«
Das Mädchen lacht bitter. »Du bist
da draußen. Willste hier reinkommen, mein Leben habn?« Sie wartet
die Antwort nicht ab, beginnt sich von Baz zu entfernen.
»Bitte«, ruft Baz.
Einer der Jungen, der schon weiter
oben ist, äfft sie nach: »Bidde, bidde.«
Es ist ihnen egal. Wie auch nicht?
Baz’ Finger klammern sich um den rostigen Draht. »Bitte«, fleht
sie. Das Mädchen beachtet sie nicht. Warum erkennt sie nicht, wie
viel das hier bedeutet, wie viel Baz bereit wäre zu geben?
Plötzlich rüttelt sie am Draht. »Bring mich zu ihm«, ruft sie.
»Bitte. Wenn du weißt, wo er ist, bring mich zu ihm. Ich kletter
über den Zaun. Irgendwie komm ich rein.«
Das Mädchen bleibt stehen. Eine
Ratte schnüffelt an ihrem Fuß, aber sie achtet nicht darauf, ihre
Aufmerksamkeit ist ganz und gar auf Baz gerichtet, und Baz, die
bisher eigentlich nur die Blasen auf der Stirn des Mädchens bemerkt
hat, sieht jetzt auch ihre Augen, die wie schwarze Tümpel wirken.
Tümpel voller Schmerz.
Dann, von irgendwo weiter hinten,
hört Baz das Aufheulen eines Motorrads.
»Lauf weg! Du musst dich
verstecken. Wenn sie dich fangen, geht’s dir wie uns. Lauf
schnell!«, sagt das Mädchen. »Die fahrn hier immer rum, diese
Männer, gucken, dass es keinen Ausbruch gibt. Gucken, ob jemand
weglaufen will. Versteck dich. Sofort.«
»Aber Raoul – was ist mit ihm?
Kann ich nicht reinkommen?«
»Nein!« Ihre Stimme ist plötzlich
scharf. »Versteck dich und dann bring ich den Jungen.«
»Wie lange?«
»Ich bring ihn«, sagt sie schroff.
»Du wartest.«
Das Geräusch des Motorrads wird
lauter, ein wütendes Brummen.
Das Mädchen dreht sich abrupt um
und klettert, eilig jetzt, den Hang hoch, während Baz zum Graben
zurücksprintet, darin verschwindet und dann vorsichtig ihren Kopf
hochschiebt, um durch die trockenen, scharfkantigen Gräser nach
draußen zu spähen.
Kurz darauf erscheint das Motorrad
auf der Bildfläche, es rollt langsam über den holprigen Weg. Nur
ein Fahrer: schwarzes T-Shirt, keiner von den geleckten
Anzugträgern. Er trägt eine Schutzbrille gegen den Sand, so groß,
dass sie fast sein ganzes Gesicht bedeckt, und um den Rücken hat er
ein Gewehr geschnallt. Sein Kopf ist zum Zaun hin gewandt, nicht
zum Feld. Er hält also nicht nach ihr und Demi Ausschau. Das
Motorrad zuckelt weiter, nimmt Geschwindigkeit auf, ist um die Ecke
und dann außer Sicht.
Eine Bewegung auf der Kuppe des
Berges erregt ihre Aufmerksamkeit. Ein, zwei, drei Gestalten sind
auf dem Weg zurück zum Zaun. Sie klettert aus dem Graben und läuft
ihnen entgegen. Zwei von ihnen halten den Dritten, seine Arme um
ihre Schultern gelegt, der Kopf herabhängend, sodass sie das
Gesicht nicht sehen kann. Die zwei haben sichtlich Mühe, müssen die
Person in ihrer Mitte halb tragen. Und diese ist ganz anders
gekleidet als sie, nicht in schäbige Lumpen, sondern eher wie Baz,
wie Demi, nur dass das T-Shirt von der Schulter bis zum Bauch
eingerissen ist und braune Flecken hat.
Einen halben Meter vor dem Zaun
bleiben sie stehen. »Ist das der Junge?« Es ist natürlich das
Mädchen von eben, aber sie hat ihr Gesicht wieder eingewickelt,
sodass nur ihre Augen zu sehen sind. Der andere Helfer ist der
Junge mit der heiseren Stimme, dem Baz ihre Uhr geschenkt hat. Er
würdigt Baz keines Blickes, nimmt einfach nur den Arm des Jungen
von seiner Schulter und klettert, dem Mädchen die ganze Last allein
überlassend, sofort wieder zurück. Der Junge stöhnt leise und hebt
den Kopf; sein Gesicht ist fiebrig, schweißbedeckt, die Augen
stumpf und blicklos, aber ja, es ist Raoul. Seine Lippen sind
geschwollen und schorfig, schwarz von getrocknetem Blut, und auch
an seinem rechten Ohr klebt Blut. Baz erinnert sich daran, was
Señor Moro gesagt hat: »So’n Junge ist ’n guter Arbeiter, kräftig
... gut für den Berg.« Armer Raoul, jetzt ist er vielleicht für gar
nichts mehr gut. Genau das ist es, was Lucien ihr erzählt hat: Man
kann Pech haben, irgendwas passiert, man stürzt, zieht sich eine
böse Schnittwunde zu, und ganz schnell wird man krank.
»Ja!«, sagt sie zu dem Mädchen.
»Danke. Danke.«
»Er hat versucht übers Tor zu
klettern«, sagt das Mädchen. »Gleich die erste Nacht. Als sie ihn
runtergezogen ham, hat er den Männern erzählt, dass er noch in der
Stadt zu tun hat. Ham sie alle gelacht. Und dann ham sie ihn
verprügelt.« Das Mädchen lässt Raoul langsam auf den Boden sinken.
»Ich komm zurück«, sagt sie, »wenn du gehst.«
»Aber wir nehmen ihn mit, Demi und
ich.«
»Demi?«, sagt sie. »Ist Demi
jemand, der durch Draht spaziern kann, um diesen Jungen zu holn?
Vielleicht kann er ja zaubern – und uns alle hier wegholn.« Ihre
Stimme ist spöttisch. »Ich komm zurück, wenn du gehst.«
Dann entfernt auch sie sich.
»Wie lange noch, bis das Motorrad
hier wieder vorbeikommt?«, ruft Baz, die Augen auf Raoul gerichtet,
der ein einziges Häufchen Elend ist.
»Kann jederzeit kommen.«
Baz wartet kurz ab, lauscht auf
das verräterische Motorengeheul, aber es ist nichts zu hören außer
den Schreien der kreisenden Vögel und dem regelmäßigen Stampfen
irgendeiner Maschine drüben beim Betriebshof. Sie beugt sich vor,
langt durch den Draht, um Raoul zu berühren. »Raoul? Raoul! Ich
bin’s. Baz. Raoul, wir kommen dich holen! Was ist passiert?«
Der Junge hebt leicht den Kopf,
und seine Augen scheinen sich auf sie zu richten, blinzeln gegen
das Licht an. Baz hebt eine Hand, um sein Gesicht vor der Sonne
abzuschirmen. »Baz.« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen.
»Ich bin so schlapp, Baz. Könnte nicht mal ’nem Blinden das
Portmonee aus der Tasche ziehen.« Er versucht zu lachen, muss aber
stattdessen husten und spuckt leuchtend roten Blutschleim aus, die
einzige leuchtende Farbe auf dem ganzen Berg.
Nur zwei Tage und schon in diesem
Zustand! »Was ist mit dir passiert, Raoul? Wie bist du so krank
geworden?« Er antwortet nicht. »Wir sind da, um dich zu holn«,
wiederholt sie hilflos. Tränen steigen ihr in die Augen. Und Baz
weint nie. Niemals. Wo ist Demi? Wenn er nur hier wäre – zusammen
könnten sie etwas tun.
»Fay wollt mich nicht mehr, Baz.
Hat mich an den Mann weggegeben ... Ham mich geschlagen, als ich
...« Er hustet erneut, bringt einen weiteren roten Klumpen
hervor.
»Schh«, sagt sie.
Seine Augen werden stumpf, der
Kopf sinkt auf die Brust, sein Körper sackt gegen den Zaun.
Sie berührt sein feuchtes Haar,
sein glühendes Gesicht.
Und so trifft Demi sie kurz
darauf an: ihren Kopf dicht an Raouls geschmiegt, ihre Hand um
seinen Nacken gelegt, der Drahtzaun zwischen ihnen.
Demi ist aufgeregt, er hüpft auf
seinen Zehen, hat den Kopf ständig in Bewegung, nimmt alles in sich
auf. »Du hattest recht mit dem Fahrer. Der hat uns verraten. Die
durchsuchen die ganze Gegend nach uns. Wir müssen los, Baz, weg von
hier.« Sein Blick bleibt an Raoul haften. »Steht schlimm um ihn,
ja?«
»Wir können ihn nicht hierlassen«,
sagt sie.
»Der schafft es nirgends mehr hin,
Baz. Hat er überhaupt noch ’n Puls?«
»Ich weiß nicht.« Mit schwacher
Stimme gesprochen.
»Lass mal sehn.«
Er bückt sich neben sie, schiebt
ihre Hand weg und drückt seine Finger seitlich gegen Raouls Hals.
Nach einer Weile sieht er sie kopfschüttelnd an. »Fast gar
nichts.«
»Wir können ihn nicht hier liegen
lassen, Demi! Das können wir einfach nicht tun!«
Er blinzelt hinauf zum Berg, will
ihr nicht antworten. Die Sonne ist ein Stück herumgewandert und
scheint ihnen fast direkt in die Augen. Drei Gestalten tauchen auf
der Kuppe auf, schwarze Umrisse, wie Krähen oder Geier. Demi hat im
Fernsehen mal was über Geier gesehen und weiß, wie sie leben. Eine
Ratte huscht über Raouls Bein. Er rührt sich nicht. Demi schlägt
gegen den Draht, doch die Ratte lässt sich nicht stören. Sie hat
glänzendes Fell, sieht sehr gesund aus. Schließlich verschwindet
sie in einem Spalt unter einem abgefahrenen Autoreifen.
»Es gibt Dinge, die kann man nicht
ändern, Baz. Komm. Er kriegt nichts mehr mit. Komm, lass ihn
liegen. Er hat keine Schmerzen.«
Irgendwo vom Betriebshof her
ertönt eine Hupe, so laut und durchdringend, dass eine Schar von im
Abfall pickenden Möwen aufgescheucht wird. Gleich darauf hört Baz
wieder das Aufheulen des Motorrads. Lauter und höher jetzt,
offenbar fährt es schneller. Keine Routinerunde diesmal.
Sie lässt sich von Demi bei der
Hand nehmen, hochziehen und eilig vom Zaun wegführen. Keiner von
ihnen blickt zurück. Demi, weil er nichts mehr sehen will,
Baz, weil sie’s nicht mehr aushält.