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Baz dreht sich noch ein paarmal um
und muss dabei daran denken, dass Fay, so wie Demi es ihr
beschrieben hat, anscheinend immer genauso vorsichtig ist, wenn sie
zu ihrem Versteck geht. Vielleicht bin ich ein bisschen wie Fay,
denkt Baz. Wenn man lange genug mit einer Person zusammenlebt, wird
man ihr wahrscheinlich immer ähnlicher. Das hofft Baz zwar nicht,
trotzdem wirft sie einen spähenden Blick zurück. Demi hat mal
versucht, ihr zu folgen, aber sie hat es mitgekriegt und ihn
abgehängt. Demi weiß, dass sie irgendwo am Fluss ein Versteck hat,
aber Fay meinte, er solle sie in Ruhe lassen. »Ein Mädchen braucht
seinen Freiraum. Ihr Jungs seid wie die Affen, überall hängt ihr
eure schmutzigen Flossen mit rein. Baz braucht einfach mal Ruhe.
Stimmt’s, Baz?«
Baz hatte noch nie richtig darüber
nachgedacht, warum sie einen Ort für sich allein haben wollte. Sie
war immer gern mit Demi zusammen, auch mit den anderen, und in Fays
Bude hatte sie sich immer sicher gefühlt, sogar wenn sie auf dem
flachen Dach schlief. Aber ein geheimes Plätzchen, da konnte man
sich verkriechen und all die bösen Gedanken aussperren, die sich
ständig einschleichen wollten und einen bedrohten.
Sie hatte sich auch in anderen
gestrandeten Booten umgeschaut, aber die waren meistens leicht zu
erreichen und boten daher keinen Schutz. Verrostete Wracks waren
es, mit Graffiti übersät, außerdem stanken sie. Alles, was sich
abschrauben oder mit der Brechstange aushebeln ließ, hatte man
entfernt, alles Übrige war demoliert und kaputt. Baz hat lange
gebraucht, bis sie einen Weg hinaus zu dem alten Lotsenboot fand,
aber nun gehört es ihr – ein Andenken an die Zeit, als der Fluss
noch strömte und die Stadt noch in Richtung Meer atmete.
Zuerst bewegt sie sich in flachem
Winkel vom Ufer weg. Wo der Schlamm weich ist, tritt sie vorsichtig
auf, denn dort kann man bis zum Hals einsinken. Sie weiß das – als
sie zum ersten Mal hierherkam, hatte sie eine Vorhangstange dabei
und tastete sich damit voran. An der Biegung des Flusses durchquert
sie den Schlamm und hält sich immer geradeaus. Zwanzig Schritte
weiter wendet sie sich nach rechts und steuert eine alte, auf der
Seite liegende Eisenboje an. Vorsichtig umrundet sie die Boje,
dreht dann wieder nach links ab und strebt in regelrechtem Zickzack
auf das Boot zu. Fünfzehn Meter vor dem Wrack bleibt sie stehen,
dann läuft sie, so schnell sie kann, los. Der Schlamm ist hier
besonders weich, ein Ausrutscher oder ein Stolpern, und es ist aus
mit ihr, aber sie zögert keinen Augenblick; sie hat die Strecke
schon viele Male zurückgelegt und weiß, was sie tut. Als sie mit
dem linken Fuß bis zum Knöchel einsinkt, greift sie nach der
behelfsmäßigen Leiter, die sie sich zu diesem Zweck gebastelt hat,
zieht den Fuß mit einem angenehm saugenden Geräusch aus dem Schlamm
und klettert an Deck. Dort wäscht sie sich zunächst den Fuß mit
Wasser, das sie in einer Plastikflasche mitgebracht hat, dann tappt
sie über das schräg liegende Deck zur Laufplanke, die in die Kajüte
hinunterführt.
Am unteren Ende des abschüssigen
Fußbodens hat sie sich aus weichen Gegenständen ein Nest gebaut, wo
sie sich hinlegen, durch die Luke nach oben schauen und die Sterne
und den langsam dahinziehenden Mond betrachten kann, bis der Schlaf
kommt. Wenn sie träumt, dann oft das Gleiche: Sie hört Donner,
zunächst in der Ferne, dann immer näher, und sie weiß, es ist kein
echter Donner, denn sie sieht keinen Blitz, der den Nachthimmel
durchzuckt. Die Reling umklammernd steht sie an Deck, vorne am
aufragenden Bug, und starrt flussaufwärts, wo sich eine riesige,
vielleicht zehn Meter hohe Welle durchs ausgetrocknete Flussbett
wälzt, deren Schaumkrone in phosphoreszierendem Weiß glitzert. Und
Baz weiß, die Welle wird das Barrio überfluten und den ganzen
Schmutz und Unrat in den Ozean schwemmen, und auch sie selbst wird
davon mit fortgerissen werden. Aber sie hat die Reling so fest
umklammert, dass ihr die Hände wehtun, denn vielleicht hebt die
Welle das alte Boot ja einfach aus dem Schlamm, und dann geht es
Baz wie Noah, nur ohne Familie und ohne Tiere. Sie wacht immer auf,
bevor die Welle das Boot erreicht, und dann wüsste sie zu gerne,
was als Nächstes passiert wäre.
In dieser Nacht dauert es lange,
bis der Schlaf kommt, und als sie dann schließlich doch schläft,
hat sie keine Träume, an die sie sich später erinnern kann. Bis
dahin aber liegt sie wach in der Dunkelheit, denkt an den Berg und
hat das ungute Gefühl, dass jemand sie beobachtet, ein Gefühl wie
ein bösartiges Jucken mitten im Rücken. Sie weiß, es ist albern,
denn da, wo sie sich jetzt aufhält, kann sie keiner sehen, es sei
denn, er wäre so was wie ein Magier, der am Ufer steht und durch
die Wände des Wracks hindurchschauen kann, aber solche Magier gibt
es nicht. Baz denkt praktisch, und praktisch denken ist das, was
man fürs Überleben braucht; spinnerte Fantastereien interessieren
sie nicht.
Als sie wieder aufwacht, fällt
schmutzig graues Licht durch die Luke. Es riecht nach Rost und
Schlamm, und man kann die frühmorgendliche Stadt hören, wie sie
leise vor sich hin murmelt. Baz klettert aufs Deck. In weniger als
einer Stunde, sobald die Sonne ganz aufgegangen ist, wird das Boot
sich aufheizen wie ein Ofen und das Eisendeck sich durch ihre
Schuhe brennen, aber jetzt ist es noch schön. Früh am Morgen gibt
es immer noch eine leichte Brise, sie trägt die Geräusche der Stadt
zu ihr und sogar einen ganz schwachen Salzgeruch vom weit
entfernten Meer.
Die andere Seite des Flusses ist
fremdes Gebiet für Baz. Rauch ist dort zu sehen und Häuser, aber
sie sind weit weg, und in noch größerer Ferne erstreckt sich eine
nebelverhangene Hügelkette, und dahinter schließlich sind die
Berge.
Unwillkürlich muss sie an
Paquetito denken, aber wie an jemanden, zu dem man keinen Kontakt
mehr hat. Raoul hat sein Verschwinden wirklich zu schaffen gemacht,
das konnte man sehen, aber Demi hat ihn, nach seinem anfänglichen
halbherzigen Protest, bestimmt schon völlig vergessen. Sie weiß,
dass es vernünftig wäre, so zu sein wie Demi und einfach zu
vergessen. Sie verdrängt Paquetito aus ihren Gedanken und wendet
sich dem neuen Tag zu.
Die Sonne steht jetzt hoch am
Himmel, scheint ihr genau in die Augen, sodass sie das jenseitige
Ufer nicht mehr erkennen kann. Sie wendet sich ab. Es wird Zeit,
zurückzugehen und einen weiteren Arbeitstag in Angriff zu nehmen.
Sie vollführt ihren Rutschsprint durch den Schlamm, bewegt sich im
Zickzack aufs Ufer zu, und obwohl ihr unterwegs einige stumme
Gestalten begegnen, die schon zur Arbeit trotten, ist noch niemand
auf, als sie in der Bude eintrifft. Sie lässt die Glocke nicht
klingeln, um diese Zeit will sie niemanden aufschrecken.
Sie kocht Kaffee und bringt eine
Tasse zu Fay, die ein abgetrenntes Eckzimmer in der ansonsten aus
einem offenen, großen Raum bestehenden Unterkunft für sich hat.
Ihre Haare liegen wild zerzaust auf dem Kissen und umrahmen ihren
Kopf wie ein unordentlicher Heiligenschein, allerdings nicht
goldfarben wie bei den guten Engeln und Heiligen, sondern feuerrot.
Ihr Gesicht ist blass, die Augen offen, die Lippen fest
zusammengepresst, als hätte sie Schmerzen. Baz fragt sich, ob sie
krank wird, aber Fay klagt nie über Unwohlsein, und ihr Gesicht
entspannt sich, als Baz mit dem Morgenkaffee in ihr Zimmer kommt.
Baz geht gleich wieder zurück und packt Tomaten, Käse und das Brot
von gestern auf den Tisch.
Das ist tägliche Routine. Die
Jungen werden langsam wach, gähnen, kratzen und strecken sich. Dann
kommt Fay herein. Sie hat bereits beschlossen, wer heute welche
Arbeit machen soll. Manchmal behält sie die Jüngeren bei sich, um
ihnen noch das eine oder andere beizubringen, doch in der Regel
teilt sie die Jungen in Zweiergruppen auf. Es ist in jedem Fall
sicherer, sagt sie, paarweise zu arbeiten, weil dann der eine immer
auf den anderen aufpassen kann, so wie Baz und Demi es tun. Baz
weiß aber, dass sie auf diese Weise auch immer zwei Tagesberichte
erhält, die sie miteinander vergleichen kann – so kriegt sie es
schnell mit, wenn ihr etwas verheimlicht werden soll. Fay kann in
den Jungen lesen wie in einer Zeitung. Jeder versucht irgendwann
mal, sie zu beschummeln; das erwartet sie gar nicht anders, aber
sie lässt es ihnen nicht durchgehen, und wenn sie daraus nicht
lernen, wenn sie ihr Glück vielleicht einmal zu oft versuchen, dann
ziehen sie, ehe sie sich’s versehen, weiter. Baz und Demi haben
früher gelegentlich gefragt: »Oh, was ist eigentlich mit dem und
dem?«, und Fay antwortete dann nur: »Der Junge is ’n Dieb – aber
Fay lässt sich nicht beklauen. Er ist weitergezogen.« Inzwischen
fragen sie nicht mehr nach. Baz glaubt auch nicht mehr, dass sie
einfach »weiterziehen«; vermutlich werden sie abgeholt und
fortgebracht wie Paquetito, vielleicht landen sie, wie Raoul gesagt
hat, auf dem Berg.
Sie und Demi bringen immer alles
zurück, was sie ergattern, alles außer dem bisschen Geld, von dem
sie sich mal etwas zu essen kaufen oder das sie hin und wieder bei
Mama Bali ausgeben, und vielleicht vertraut Fay ihnen beiden daher
ein bisschen mehr als den anderen. Baz glaubt, dass Fay
wahrscheinlich nicht einmal sich selbst ganz und gar vertraut. Demi
pflegt, halb bewundernd, zu sagen: »Wenn sie in der Nähe ist, musst
du die ganze Zeit aufpassen, was du sagst. Ich schwör dir, Fay kann
um die Ecke gucken, und sie hört jede Ratte unten in der Gasse
quieken, vor allem, wenn die Ratte irgendwas über sie quiekt.« Baz
ist der Ansicht, dass Demi sich manchmal seinen eigenen Rat ein
bisschen mehr zu Herzen nehmen sollte.
Die Jungen werden losgeschickt –
Raoul bekommt mitgeteilt, dass Giacomo mit ihm zusammenarbeitet und
dass die beiden sich vom Stadtzentrum fernhalten sollen. Der Raub
des Rings auf offener Straße vor dem vornehmen Juweliergeschäft hat
garantiert Aufsehen erregt und deshalb werden die Wachleute die
Augen heute besonders scharf offen halten.
Fay, Demi und Baz bleiben allein
am Tisch zurück. Raoul hat kürzlich eine Brieftasche gestohlen, in
der nichts als Lotteriescheine steckten, daher vergleicht Fay jetzt
die Zahlen mit denen, die gerade im Fernsehen bekannt gegeben
werden, und zerknüllt nacheinander jeden einzelnen Schein, wenn die
Zahlen nicht übereinstimmen. »Weiß nicht, warum ich mich mit diesem
Jungen noch abgebe. Die Hälfte der Zeit bringt er mir praktisch
nichts zurück und essen tut er bald mehr als alle andern zusammen«,
sagt sie. »Wird Zeit, dass ihr beiden euch an die Arbeit macht.
Wohin wollt ihr heute?«
»Norte«, sagt Demi. Das ist einer
der vier Bahnhöfe, die die Stadt mit dem Umland verbinden. Bahnhöfe
sind ein ergiebiges Gelände: Touristen kommen und gehen, die
Menschen sind vollauf mit der Frage beschäftigt, wie sie dahin
kommen, wo sie hinwollen, tragen vielleicht mehr Gepäck mit sich
herum, als sie sollten. Aber auch hier gibt’s jede Menge
Uniformträger, die nach Dieben wie Demi und Baz Ausschau
halten.
Fay grunzt und stößt dann einen
kleinen Triumphschrei aus, weil endlich mal eine von ihren Zahlen
passt.
»Was jubelste da groß?«, sagt
Demi. »Wie viel haste gewonnen? Höchstens zwanzig.«
»Das Geld wächst nicht auf den
Bäumen, heißt es«, sagt sie. »Manchmal tut’s das aber doch.« Und
sie lacht. »Trotzdem müsst ihr’s heute wieder aus den Taschen
pflücken. Versucht keine ausgefallenen Sachen, hört ihr. Geld
isses, was wir brauchen, Geld, Geld und noch mal Geld.« Ihre
Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die Scheine und den
Bildschirm.
»Dann hat Raoul dir also doch was
gebracht«, sagt Baz. »Glatten Zwanziger.«
Fay langt nach einer Packung ihrer
dünnen schwarzen Zigarillos, steckt sich einen zwischen die Lippen
und zündet ihn an. »Du magst ihn, hm?« Sie beäugt Baz durch den
aufsteigenden Rauch.
Baz zuckt mit den Schultern.
»Mehr als Demi hier?« Sie zieht
sie nur auf, aber Baz geht nicht darauf ein. »Willst mit dem Dicken
auf Tour gehn?«
»Raoul ist in Ordnung«, lässt sich
Demi vernehmen. »Langsamer als ich, aber ganz in Ordnung.«
»Er redet zu viel«, sagt Fay
entschieden, während sie den letzten Schein zu Boden wirft. »Mit
’nem Zwanziger kommst du nicht weit in dieser Welt. Geht jetzt los
– ich hab einiges zu erledigen.«
Demi schlendert zum Becken in der
Ecke, wäscht sich das Gesicht und den Hals. Baz bleibt wartend
neben dem Tisch stehen. Fay raucht und geht dabei die Mitteilungen
auf ihrem Handy durch. Baz sammelt die Lotteriescheine auf, die Fay
hat fallen lassen, und sagt: »Fay, was ist auf der andern Seite vom
Fluss los? Warum gehn wir da nie hin?«
»Warum willst’n das wissen? Da
gibt’s nichts, was sich für uns lohnen würde.«
»Wenn du in den Norden willst«,
sagt Demi, während er sich das Gesicht mit einem alten T-Shirt
abreibt und sich ein neues aus seiner Ecke holt, »brauchst du nur
über die Brücke rüber, und die Straße bringt dich dann bis ganz
nach oben.«
»Ist das die Straße, die wir
nehmen, wenn wir genug Geld ham?«, fragt Baz.
»Genug! Was redest du da? Willste
von Träumen leben, Mädchen? Wir ham gar nichts.«
»Was ist mit dem Ring? Damit warst
du doch ganz gut zufrieden. Ich und Baz, wir bringen dir immer was
zurück.«
»Geh mir weg mit dem Ring. Dieser
Ring nützt mir gar nichts, solang ich ihn nicht in Dollars
verwandeln kann. Glaubst du, das ist so leicht? Kommt, sucht euch
was zu tun. Ich sag euch, was wir brauchen: Wir brauchen Dollars.
So viele.« Sie streckt die Arme aus, als würde sie einen Sack
halten, der mindestens so groß und dick ist wie Mama Bali.
»Kapiert? Mehr, als ihr je von geträumt habt.«
»Wie ein Berg«, sagt Baz.
»So isses, Mädchen. So, und jetzt
raus hier, damit ich mal ’n bisschen Ruhe kriege. Hier –«, sie
zieht einen Geldschein aus ihrem Brustbeutel, »ihr braucht Geld für
die Straßenbahn. Seht ihr. Kaum gewinnt man mal was in der
Lotterie, isses gleich wieder weg.«
Demi nimmt den Schein entgegen und
steht auf. Auch Baz erhebt sich, doch an der Tür dreht sie sich
noch einmal um: »Fay, hat der Schattenmann Paquetito auf’n Berg
gebracht?«
»Das reicht jetzt! Ich will nichts
mehr davon hörn! Hast du verstanden! Wenn du in Sicherheit leben
willst, hältste den Mund, Baz.«
»War ja nur ’ne Frage, Fay.«
»Lass sie stecken, Baz.« Doch
gleich darauf klingt sie wieder versöhnlicher. »Passt auf euch auf.
Will nicht hörn, dass euch irgendwelche Greifer ins Schloss
gebracht ham.«
»Wir kommen heil wieder, Fay«,
sagt Demi und zieht Baz am Arm, dann dreht er sich um, rutscht die
Leiter hinunter und Baz folgt ihm. »Warum fragst du solche Sachen,
Baz – da kriegt sie nur schlechte Laune von. Raoul muss jetzt echt
aufpassen, nur wegen dir.«
»Du sagst auch Sachen, die ihr
nicht gefalln, über Geld und so.«
»Ich glaub, Geld liebt sie mehr
als alles andere.«
»Was meinst du, wird sie irgendwie
krank? Sie sieht nicht besonders gut aus.«
»Ihr geht’s gut. Mach dir nicht so
viele Gedanken. Fay wird ewig leben, die ist zäher als alle andern
in der Stadt. Nur, dass sie halt ’n bisschen zu doll hinterm Geld
hinterher ist.«
Mama Bali putzt gerade ihr
Küchenfenster, als die beiden vorbeikommen. »Ich schwör euch, ich
zieh den Stöpsel aus dem Damm, den sie oben am Fluss ham. Die ganze
Gegend muss mal ordentlich abgeschrubbt werden«, sagt sie wie schon
so viele Male zuvor, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum
Baz immer von der Flut träumt. »Irgend so’n junger Typ hat mich
gefragt, ob ich was von ’nem Ring gehört hab. Hat mir sogar Geld
angeboten. Hab mich gefragt, ob er vielleicht nach jemand mit
tanzenden Fingern sucht, Demi, nach jemand wie dir zum
Beispiel.«
»Die Einzigen, die nach mir
suchen, sind Mädchen wie du, Mama.«
Der Ring schon wieder. Baz
versucht sich ihre Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Demi
dagegen wirkt völlig unbekümmert.
Mama Bali lacht. »Diesmal nicht.
Dieser Typ, der hat sich ganz locker bewegt, als würd er sich gar
nicht drum schern, wo er ist. Reicher Junge. Hab ihm gesagt, er
soll lieber wieder dahin zurück, wo er hingehört, bevor ihm hier
jemand Kummer macht.« Sie runzelt die Stirn. »Wisst ihr, was er da
gesagt hat? Er sagt, er hätt seinen eignen Kummer mitgebracht, und
den würd er jedem geben, der ihm was will. Er kommt vielleicht
aus’m vornehmen Haus, aber so anders als die Jungen in dieser
Gegend ist er nicht.«
»Einer wie ich?«
Sie lacht wieder. »Du bist kein
einfacher Taugenichts, Demi, du bist ’n richtiger Bösewicht. Aber
ich sag euch, irgendwas geht hier vor, weil, grad vorher ist auch
einer von Señor Moros Männern hier gewesen und hat Fragen gestellt,
wollte wissen, was ich über dies weiß und über das weiß und was ich
über einen bestimmten Ring gehört hab. Falls ihr zwei was drüber
wisst, haltet ihr schön die Klappe. Hört ihr?«
»Hörn immer auf dich, Mama, aber
ich und Baz, wir sind zwei reine Engel ohne Ahnung von nix.« Und
schon ist er außer Reichweite getänzelt, bevor Mama Bali ihm einen
Knuff verpassen kann.
Lachend schüttelt sie den Kopf.
»Du wirst noch so manches Mädchen unglücklich machen. Das verrat
ich dir gratis. Baz, nimm dich in Acht.«
Baz hat das Gefühl, dass es der
Ring ist, der sie beide unglücklich machen könnte.
Sie reden kaum ein Wort, bis
sie die Stadt mit der Straßenbahn durchquert und den Bahnhof
erreicht haben. An manchen Tagen spürt Baz schon im Voraus die
Erregung, die es mit sich bringt, sich durch die Menge zu bewegen,
mit Demi zu arbeiten, seine Magie zu beobachten, aber es gibt auch
Tage, die fangen ganz unglücklich an, da muss man an jeder Ampel
warten und jede Tür fällt einem vor der Nase zu. Heute ist so ein
Tag.
Demi ist anderer Ansicht. Als er
vor dem Bahnhof Norte von der Straßenbahn springt, hat er ein
Grinsen im Gesicht, und Baz rechnet fast damit, dass er sich gleich
die Hände reiben wird in Vorfreude auf einen guten Tag mit reicher
Ausbeute.
Manche Leute halten den Bahnhof
für etwas ganz Besonderes, so etwas wie einen prächtigen Palast. Na
gut, er ist mächtig groß, hat breite weiße Treppen, die in die
geschäftige Halle führen, doch in erster Linie gibt dieser Bahnhof
Baz das Gefühl, ganz klein zu sein – und zwar nicht praktisch
klein, sodass man nicht auffällt, sondern eher ameisenklein, sodass
man gute Aussichten hat, zertrampelt zu werden.
»Heute sahnen wir ab, Bazzie.«
Demi streckt die Finger und lässt die Gelenke knacken. »Wir
werden’s Fay zeigen, bringen genug nach Hause, um ’n ganzes Haus zu
bauen.«
»So wie gestern?«
»Mit Demi ist jeder Tag ’n
besondrer Tag. Mach die Augen auf, eh, und pass auf, was ich
mache.«
Bevor sie mit der Arbeit
beginnen, kaufen sie sich erst einmal jeder eine Bahnsteigkarte.
Eine kleine Investition, die sich aber auszahlt, falls etwa ein
Polizist anfängt, Fragen zu stellen, denn dann können sie sagen,
dass sie einen Verwandten von seinem Zug abholen wollen. Immer eng
beisammen bleibend, schlendern sie auf den Querbahnsteig, studieren
die Ankunftszeiten, damit sie wissen, was sie sagen müssen, wenn
sie tatsächlich angehalten werden, kaufen sich dann etwas zu
trinken und setzen sich auf eine Bank, um sich in Ruhe
umzusehen.
Bahnhöfe wie dieser sind ein
bisschen wie der Ozean, das hat Fay ihnen vor langer Zeit mal
erklärt: Du wartest, bis die Flut kommt, bis der Strand überspült
wird von Menschen, die zu ihren Zügen eilen oder gerade
ausgestiegen sind, und dann wirfst du dich hinein. Viel Zeit hast
du nicht, dir dein Opfer auszuwählen. Du begibst dich einfach in
die Menge und lässt dich mitziehen, hierhin, dorthin, aber du
hältst immer die Augen offen. Du siehst ein Portmonee, das
aussieht, als müsste man sich mal drum kümmern, und schon treibst
du an der betreffenden Person vorbei und bist gleich wieder weg.
Und dann machst du wieder Pause, bis die nächste Flut kommt. Wenn
Fay darüber redete, klang das Ganze wie ein Sonntagsausflug, und
Baz erinnert sich, wie aufgeregt sie war, als sie das erste Mal mit
Demi in einen Bahnhof gegangen ist, aber diese Erregung hat nicht
lange gehalten.
Als sie das dritte Mal im Bahnhof
Norte auf Tour waren, ist etwas Schlimmes passiert. Gerade hatten
sie beide eine neue Nummer abgezogen. Und mächtig clever waren sie
sich dabei vorgekommen. Baz tat so, als würde sie weinen. Sie war
damals noch kleiner, Fay gab ihr Mädchensachen zum Anziehen und die
Sache mit den großen runden Augen hatte sie perfekt drauf. Ein Mann
blieb stehen. Er hatte einen grauen Spitzbart, aber sonst kann sie
sich an nichts mehr erinnern, außer dass Demi, als der Mann sich zu
ihr beugte und fragte, was denn los sei, ihm die Brieftasche so
sauber aus der Tasche pflückte, wie ein Affe sich die Flöhe aus dem
Fell zieht. Und genau in diesem Moment kam ein Junge direkt auf sie
zugerannt und Baz kriegte die Panik. Es ist ihr seither nie wieder
passiert, aber damals ist sie richtig erstarrt, dachte, der Junge
hätte sie gesehen, würde alles der Polizei erzählen und dann würde
sie festgenommen und geradewegs ins Schloss geschafft. Sie wusste,
dass sie jetzt eigentlich die Füße in die Hand nehmen müsste, aber
sie konnte sich nicht rühren.
Der Junge hätte sie glatt über den
Haufen gerannt, aber der Mann mit dem Bart packte schnell ihren Arm
und zog sie aus dem Weg. Sie war schon am Heulen, und zwar echt
diesmal, weil sie dachte, das wär’s gewesen, jetzt hätten sie sie
erwischt, doch der Mann ließ sie gleich wieder los und eilte davon.
Aber sie sah jetzt das Gesicht des Jungen von Nahem: den weit
aufgerissenen Mund, das Weiße seiner Augen. Es war ein
Straßenjunge, keine Schuhe, schäbiges Unterhemd, überall Risse und
Schweißflecke, aber beweglich war er: den Kopf zurückgelegt, Arme
und Beine nur so am Wirbeln. Er umkurvte einen Träger, der einen
vollbeladenen Gepäckwagen vor sich her schob, und sprang einfach
über die Sperre auf einen der Bahnsteige. Vielleicht hoffte er, er
könnte auf den Zug springen, der gerade abfuhr. Aber dafür war es
zu spät, denn der Zug war schon halb aus dem Bahnhof heraus und
nahm gerade Geschwindigkeit auf.
Drei Männer waren diesem Jungen
auf den Fersen, und nicht einer von ihnen trug Uniform. Das war das
erste Mal, dass Baz die gefürchtete APA in Aktion sah:
Polizeibeamte in Zivil. Damals wusste sie noch nichts Näheres über
sie, abgesehen von dem Namen. Heute kann sie sie eine Meile gegen
den Wind riechen.
Als er erkannte, dass er den Zug
nicht erreichen würde, sprang der Junge hinunter auf das Gleis. Die
Männer zögerten keine Sekunde. Der Erste übersprang ebenfalls die
Schranke und folgte ihm, während die anderen beiden den Weg
absperrten und die Leute wegscheuchten. Es sollte niemand dem
Geschehen zu nahe kommen, doch von ihrem Standort aus konnte Baz
sehen, wie der Mann aufs Gleis hinunterhechtete. Der Junge war ihm
vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte voraus. Nicht viel, aber
mit ein bisschen Glück würde er seinen Verfolger abhängen
können.
Doch dann sah Baz, dass der Mann
gar nicht die Absicht hatte, ihm hinterherzulaufen: Er zog eine
Pistole aus seiner locker sitzenden Jacke, zielte, drückte ab – und
der Junge stürzte, die Arme weit ausgebreitet, vornüber zu Boden,
als hätte ein Maultier ihn in den Rücken getreten. Man sah, dass er
noch lebte, denn er bewegte sich, versuchte sich weiter über die
Schienen zu schleppen. Der Mann ließ sich Zeit. Gemächlich
spazierte er auf den Jungen zu, stand für einen Augenblick über ihm
und sah ihn sich an, dann hob er die Pistole und schoss noch
einmal. Danach rührte der Junge sich nicht mehr.
Sie weiß noch, dass sie sich
innerlich wie tot fühlte und Demi sie fortziehen musste. »Als Dieb
lebste auf eignes Risiko.« Demi versuchte sich tough zu geben, so
wie Fay zu klingen, denn das war eine der ersten Lektionen, die Fay
ihnen erteilt hatte. »Als Dieb lebst du auf eignes Risiko, also
müsst ihr jede Sekunde nutzen, die ihr habt, und vorsichtig sein,
hört ihr.« Das sagte sie immer zum Abschluss, und sie waren
vorsichtig, denn sie hatten gesehen, wie Kinder verprügelt wurden,
und sie wussten, dass üble Sachen passierten. Aber so übel wie das
hier – das hatten sie noch nicht erlebt. Ein Junge wird einfach
erschossen, am helllichten Tag, vor den Augen einer großen
Menschenmenge, und keiner sagt etwas. Vielleicht konnte auch Demi
das Geschehen nicht so einfach abschütteln, denn kurze Zeit später,
als sie zusammen mit der Straßenbahn ins Barrio zurückfuhren, sagte
er wie aus heiterem Himmel: »Wie einen Hund, Baz. So ham sie ihn
abgeknallt – wie einen Hund, den keiner will.«
Und jetzt sitzen sie also, nachdem
sie sich einen Überblick darüber verschafft haben, was der
Norte-Bahnhof ihnen heute zu bieten hat, auf ihrer Bank, schlürfen
ihre Getränke und suchen den Querbahnsteig nach Polizei ab, nach
APA-Männern. Es sind immer junge Männer, die auf der Straße
arbeiten, schlank und sehnig – Baz muss an hungrige Wölfe denken,
wenn sie sie sieht. Allesamt haben sie dunkle Bartstoppeln im
Gesicht und wie so ziemlich alle anderen Polizisten in der Stadt
auch eine Sonnenbrille auf der Nase. Sie tragen Designerjeans, kein
billiges, kopiertes Zeug vom Markt, und die leichten, legeren
Jacken dienen dazu, die Pistole zu verdecken, die sie alle bei sich
haben. Wenn man genau hinschaut, sieht man die Ausbeulung. Das
Verräterischste an ihnen ist aber, dass sie nie etwas anderes tun,
als zu gucken, immer nur die ganze Zeit Leute zu beobachten – genau
wie sie und Demi, wenn man’s genau überlegt.
Heute ist nichts zu sehen von der
APA und das ist gut so. Als der nächste Zug eintrifft, verlassen
sie ihre Bank, Demi wird tätig und kurz darauf reicht er eine
kleine Klammer mit bündelweise hineingeklemmten Geldscheinen an Baz
weiter. Anschließend lassen sie sich zu einem anderen Verkaufsstand
treiben, um auf den nächsten Zug zu warten. Dann das Gleiche noch
einmal. Und auf einen weiteren Zug warten. »Aller guten Dinge sind
drei«, sagt Demi. Baz hält nichts von solchen Sprüchen, aber sie
vertraut Demi, also folgt sie ihm hinein in die wuselnde
Menschenmenge, wobei sie darauf achtet, ihm nicht auf die Hacken zu
treten, sondern ein bisschen Abstand zu lassen. Doch behält sie
seinen auf und ab hüpfenden Kopf immer im Blick, damit sie gleich
zur Stelle ist, wenn er zuschlägt.
Jetzt dreht er nach rechts ab, hat
plötzlich ein lohnendes Ziel ausgemacht. Baz erspäht eine
untersetzte Frau, die sich an ihrer Tasche zu schaffen macht. Das
ist sie. Doch plötzlich schert Demi wieder aus, dreht sich zu ihr
um, verzieht das Gesicht: »Zurück!«, bedeutet das. Sie macht auf
dem Absatz kehrt und wird fast umgerissen von einer Familie, die
sich, alle Mann eng auf einem Haufen, durch die Menge drängt und
dabei lautstark am Diskutieren ist. Dann schließt sie zu Demi auf,
der neben einer der Sperren auf sie wartet.
»Haste sie gesehn?«, fragt
er.
»Wen?«
»Raoul und Giacomo. Was ham die
hier zu suchen? Fay weiß, das ist heute unser Gelände. Ich sag dir,
der Arsch hat mir glatt dazwischengefunkt. Wenn er das noch mal
macht, kriegt er so’n Tritt von mir, dass ihm sein feistes Grinsen
aus’m Gesicht fällt.«
»Raoul würde nicht herkommen, wenn
er nicht geschickt worden wär.«
»Ja, und wer hat ihn geschickt?«,
faucht er. »Ich war so dicht dran«, er schnippt mit den Fingern,
»und dann – Zack! – läuft er mir genau vor die Füße und geht
an das Portmonee ran ...«
»Und, hat er’s gekriegt?«
»Klar. ’n Blinder hätt sich das
Teil greifen können.«
Dann, während Demi noch wütend am
Gestikulieren ist, ertönen schrille Pfiffe und zornige Rufe. Die
Leute auf dem Querbahnsteig stieben auseinander und geben einen
schockierenden Anblick frei, der Baz trifft, als würde ihr jemand
mit einem Knüppel gegen die Brust schlagen.
Raoul ist auf den Knien, den Kopf
vorgebeugt. Ein Polizist in Uniform steht hinter ihm, ein griffiger
schwarzer Totschläger schwingt locker in seiner rechten Hand. Zwei
andere Polizisten stehen seitlich daneben, sprechen mit der
untersetzten Frau, die ihre Tasche fest an ihre Brust klammert, als
befürchte sie, dass auch die Polizei noch versuchen könnte, sie ihr
wegzunehmen.
Baz tritt einen Schritt zurück und
schaut, ob sie Giacomo in der Menge ausmachen kann. Er müsste sich
irgendwo am Rand aufhalten, damit er Fay genau berichten kann, was
mit Raoul passiert ist, aber es ist nichts von ihm zu sehen.
Instinktiv rückt sie näher heran. Vielleicht, überlegt sie, kann
sie herausfinden, wo sie ihn hinbringen werden. Sie bemerkt, dass
Demi sich dicht an ihrer Schulter bewegt. Er ist nicht mehr wütend.
Was auch immer jetzt mit dem armen Raoul geschieht, es wird
hundertmal schlimmer sein als alles, was Demi ihm an den Hals
gewünscht haben mag.
Die wenigen Reisenden, die stehen
geblieben sind, um die Verhaftung zu beobachten, haben das
Interesse verloren und gehen weiter. Ein Taschendieb mal wieder,
weiter nichts. Eins von vielen Straßenkindern. Keiner hat Mitleid
mit dem kleinen, pummeligen Jungen, nicht einmal, als der Polizist,
der hinter ihm steht, plötzlich seinen Totschläger fest packt und
dem Jungen ein-, zwei-, dreimal heftig auf den gebeugten Rücken
schlägt. Baz zuckt zusammen. Armer Raoul! Ein die Szene
beobachtender Mann grummelt: »Dieses Ungeziefer. Sollte man alles
ausrotten ...«
»Wie können Sie so was sagen?!«
Sie kommt nicht dagegen an; eine wilde Wut ergreift sie, bestimmt
genauso heftig wie die Anfälle, von denen Fay manchmal gepackt
wird. »Vielleicht hat er ’n schlechten Vater, einen wie Sie!« Die
Worte platzen als lautes, zorniges Gestammel aus ihr heraus. Der
Mann macht große Augen, die Polizisten drehen sich um. Demi packt
sie am Arm. Nur Raoul reagiert nicht.
»Tschuldigung«, sagt Demi, indem
er Baz zurückzieht. »Meine Schwester is ’n bisschen zimperlich,
wissense. Kann’s nicht aushalten, wenn jemand was abkriegt. He, he,
nun komm schon.«
Sie denkt nicht darüber nach, was
sie tun könnte; sie kann gar nicht denken. Sie ist so wütend und
verängstigt, dass sie einfach nur den Kopf in den Nacken legen und
laut schreien möchte. Als würde ein Sturm in ihrem Innern wüten. So
ist sie sonst nicht. Niemals. Immer total kontrolliert, achtsam,
nachdenklich. Jetzt allerdings nicht, und nur dadurch, dass Demi
sie fest am Arm gepackt hält und sie kräftig durchschüttelt, kommt
sie wieder zu sich.
»Typisch Mädchen, eh?«, sagt der
Mann.
»Ja, Señor, natürlich. Ist halt ’n
Mädchen. Muss man sich nix bei denken.«
Der Mann nickt. Die Polizisten
wenden sich wieder ihrem Geschäft zu und Baz lässt den Kopf sinken.
Der Sturm hat sich gelegt, die Spannung fällt von Demi ab. Er legt
einen Arm um ihre Schulter und dreht sie von Raoul weg. Es gibt
nichts, was sie tun können, außer den Bahnhof zu verlassen, bevor
die Polizei anfängt, ihnen Fragen zu stellen, sie womöglich
durchsucht und das Geld aus Demis ersten beiden kleinen Fischzügen
findet.
»Du hast mir Angst gemacht, Baz.
Hast ausgesehen, als würdste den Mann beißen wollen.«
»Hab selber Angst gekriegt.« Sie
fühlt ein Zittern durch ihren Körper laufen.
»Wenigstens warn’s die Uniformen,
die ihn erwischt ham, nicht die APA.«
Ja, denkt sie, wenigstens wird er
nur geschlagen, nicht gleich erschossen. Aber nach den Schlägen,
was kommt dann? Das Schloss vielleicht ...
»Demi, was können wir tun?« Sie
beginnt hastig zu sprechen, mit großer Dringlichkeit. »Wir starten
’ne Ablenkungsaktion, wie das eine Mal, als ...«
»Freund von euch, der Dieb da.«
Diese Worte, die eher eine Feststellung formulieren als eine Frage,
erklingen in der lässig gedehnten Sprechweise der Oberschicht. Sie
unterbrechen Baz’ Versuch des Pläneschmiedens und jagen ihr einen
Schrecken ein: Ein junger Mann, groß und schlank, versperrt ihnen
den Weg. Das Erste, was Baz an ihm auffällt, ist die Manschette an
einem teuren Hemd, das um ein schmales Handgelenk geschlungene
Silberkettchen, die Hand, die sauber und blass ist, mit ordentlich
geschnittenen Fingernägeln, und ein Notizbuch hält. Mit geradezu
alberner Schärfe wird sich Baz ihrer abgekauten Fingernägel
bewusst, ihrer billigen Kleidung, und dann durchzuckt sie ein
besorgniserregender Gedanke: Hat er gehört, was sie gesagt
haben?
»Kenn ich nicht«, sagt sie. Es ist
etwas Vertrautes an diesem jungen Mann, der ein Student sein
könnte, etwas, das sie nicht recht einordnen kann. Weiche Haut, ein
bisschen wie Fay, aber Haare, die sich um seinen Kopf kräuseln wie
ein schmaler gelber Heiligenschein, sodass Baz an die Kirche an der
Plaza beim Barrio denken muss, mit den hohen Fenstern, auf denen
bunte Abbildungen von steifen Männern und Frauen zu sehen sind.
Doch dieser junge Mann hier ist nicht von irgendeinem
Kirchenfenster herabgestiegen. Sein Blick ist scharf, und er starrt
Demi an, als würde er ihn kennen. Baz beachtet er nicht.
»Vielleicht kann ich helfen«, sagt
er.
Demi zuckt mit den Schultern. »Wir
ham diesen Jungen noch nie gesehn.«
»Bist du sicher?«
»Klar. Ich weiß doch, wen ich
kenne. Okay, gehn wir«, sagt er zu Baz, aber Baz rührt sich nicht,
sie lässt den jungen Mann nicht aus den Augen. Sie hat ihn schon
mal gesehen, das weiß sie genau.
»Ihr wollt also meine Hilfe nicht.
Ist euch egal, dass dieser Junge ins Gefängnis kommt.«
»Wer sind Sie?«, fragt Baz
unvermittelt. »Sie sind nicht hier, weil Sie mit’m Zug fahrn
wollen.«
Er lächelt, antwortet jedoch
nicht. Sein Schweigen hat etwas Unheimliches.
»Wenn Sie dem Jungen helfen
wollen, nur zu«, sagt Demi. »Wir ham damit nix zu tun. Wir müssen
los.«
Der junge Mann tritt zur Seite, um
Demi und Baz durchzulassen, die sich schleunigst in Richtung
Haupteingang wenden. »Ich hab ihn schon mal gesehn«, sagt Baz.
»Diesen Typen – gestern, als du den Ring gemopst hast – am
Zeitungskiosk, bevor du Richtung Juwelier gegangen bist. Erinnerst
du dich?«
Demi schüttelt den Kopf. »Weiß ich
nix von.«
»Raoul meinte, dass irgend so’n
Typ sich im Barrio rumgetrieben hat. Hat mit Paquetito geredet, mit
Mama Bali auch. Vielleicht war er das?«
»Vielleicht.« Dann: »Raoul wird
jetzt nicht mehr allzu viel zu reden ham.«
Erst als sie auf der Treppe sind,
die aus dem Norte-Bahnhof führt, fühlt Baz sich befreit und hat
nicht mehr das Gefühl, dass der reiche junge Mann sie beobachtet.
Dieser Ort ist wie eine Falle, findet sie, wenn man Pech hat,
steckt man fest. Draußen ist es besser. Auf der Straße hat man
Platz. »Hier arbeiten wir nicht wieder, Demi. Ist kein guter
Ort.«
»Lief doch ganz okay für
uns.«
Besser als für Raoul, denkt sie,
mit seinem Lächeln und den großen Worten. Was wird jetzt mit ihm
passieren? Wird man ihn ins Schloss bringen? Wird Raoul den Mund
halten? »Fay geht an die Decke, wenn sie hört, was passiert ist«,
sagt sie. »Und was wir mitbringen, das reicht nicht, um sie zu
beruhigen.« Fay hat es tausendmal gesagt: »Falls einer von euch so
dumm ist, sich von der Polizei schnappen zu lassen, dann ist keiner
mehr sicher. Ich auch nicht. Passt bloß auf, dass es nicht dazu
kommt.«
»Wir ham so viel eingenommen, wie
wir konnten«, sagt Demi missmutig. »Mehr ging nicht.«
Aber Baz weiß, dass sie recht hat,
und sie freut sich nicht auf die Heimkehr.