Nester zerstören verboten

Von Estremoz sieht der Reisende wenig mehr als den hochgelegenen Teil, das heißt die Altstadt und die Burg. Innerhalb der Mauern sind die Straßen schmal. Weiter unten, wo es reichlich Platz gibt, wird das Städtchen zur großen Stadt. Estremoz dehnt sich so weit, dass es fast seinen Ursprung aus den Augen verliert, obwohl der berühmte Turm Torre das Três Coroas unübersehbar ins Auge fällt. Nirgends hat der Reisende so deutlich empfunden, dass eine Stadtmauer eine Grenze zwischen denen innerhalb und denen außerhalb zieht. Allerdings mag das ein ziemlich subjektiver Eindruck sein, der Reisende kann sich also dafür natürlich nicht verbürgen.

Die strahlend weiß gekalkten Häuser der Altstadt, gebaut aus Marmor, als wäre es gewöhnlicher Stein, sind schon allein für sich ein Grund, Estremoz zu besuchen. Doch hoch droben steht auch der Turm mit seinen dekorativen, zinnenverzierten Balkonen, und die Überreste des Königspalastes von Dom Dinis, der Vorraum mit Zwillingssäulen, auf denen der Reisende Darstellungen vom Mond und von Lämmern entdeckte. Da steht die Kapelle der Königin Santa Isabel aus dem 18. Jahrhundert mit ihrem theatralischen Chor und den überreich verzierten Azulejos, darauf Episoden aus dem Leben der wundertätigen Dame, die Brot zu Rosen verwandelte, wenn sie schon nicht Rosen zu Brot verwandeln konnte. Und da steht das Museu Municipal, in dem es etliches zu sehen gibt und vieles, was man nicht vergessen wird.

Die Exponate, die der Reisende ohne weiteres auch in anderen Museen finden könnte, lässt er aus, um in aller Ruhe die Tonfiguren bewundern zu können, die nach Estremoz benannt sind. Bewundern, sagt er, und es gibt keinen treffenderen Ausdruck. Zu Hunderten stehen die kleinen Figuren da, nach bestimmten Kriterien hübsch angeordnet, und jede einzelne verdiente, eingehend betrachtet zu werden. Der Reisende weiß nicht, wohin er blicken soll – sie werden als volkstümliche Typen bezeichnet, stellen ländliche Arbeitsszenen dar, Krippentableaus oder Hausaltäre, von unterschiedlichen Vorstellungen inspirierte Bilder, eine Welt, die man unmöglich ganz erfassen kann. Ein Beispiel soll genügen, eine einzige Vitrine, in der in geordnetem Durcheinander ausgestellt sind: »Schwarze, stehend und zu Pferd – Amazone und Reiter, Priester zu Pferd; Schäfer, Brotkrümel essender Mann, Brotsuppe zubereitender Mann; Soldaten, stehend oder im Garten sitzend; Dorfgeck, Akkordeonspieler; Frühlingsszenen mit und ohne Girlanden; volkstümliche Typen – Kastanienverkäuferin, Milchmann, Wasserträger; Hirtinnen mit Spindel oder Hühner, Truthähne oder Schafe hütend; Frauen, die im Bottich Wäsche waschen, bügeln, sich vor einem Spiegel frisieren oder Tee trinken; gezierte Dame; Schlachten eines Schweins mit drei Figuren und Frauen, die Wurst machen.« Oh, wie wunderbar, sagt der Reisende wieder. Geh nach Estremoz, sieh dir die Tonfiguren an, und deine Seele ist gerettet. Ein Sprichwort, vom Reisenden für die Nachwelt erfunden.

Gern wäre der Reisende länger geblieben, doch er kann nicht. Nachdem er die endlose Landschaft zu dieser und jener Seite betrachtet hat, begibt er sich hinunter ins Flachland, was heißen soll, dass er zum Platz Rossio geht, auf dessen einer Seite die Kirche São Francisco steht. In diesem Kloster starb Dom Pedro I., und er hinterließ den Mönchen sein Herz. Wenn es stimmt, dass die Mönche die Erbschaft angenommen haben, dann wird Pedro seiner Inês, wenn sie in Alcobaça auferstehen, kein Herz mehr schenken können.

In der Kirche São Francisco gibt es einen schönen Baum des Jesse aus dem 17. Jahrhundert, und in der gegenüberliegenden Kapelle des Dritten Ordens der Franziskaner trifft der Reisende auf die beunruhigendste Sammlung von Heiligen, die er je gesehen hat. Nicht dass sie übermäßiges Leiden oder unerträgliche Strenge ausdrückten. Im Gegenteil. Alle gleich gekleidet, Männer wie Frauen, in langen, schlichten Tuniken aus echtem Satin – das Charakteristische an ihnen ist die teilnahmslose Miene und der starre Blick. Groß und schlank stehen sie in Glasvitrinen entlang der Kapellenwände. Nicht wie Richter stehen sie dort, sie befinden sich schon jenseits der noch menschlichen Knechtschaft. Stärker verunsichert, als er zugeben möchte, wagt der Reisende es, die Namen der beängstigenden Kohorte zu notieren, die auf ihren Konsolen stehen: Santa Luísa de Albertônia, Santa Delfina, Santa Rosa de Viterbo, die heilige Elisabeth von Ungarn, Ludwig der Heilige, König von Frankreich, Santo Ivo Doutor, Santa Isabel de Portugal, São Roque, Santa Margarida de Cortona. Den fast verblichenen Namen des letzten Heiligen zu entziffern gelingt dem Reisenden nicht. Er hätte auch nicht die Kraft dazu gehabt – die Hände zittern ihm, auf der Stirn steht ihm der Angstschweiß. Mögen ihm andere Heilige vergeben, von diesen hier ist keine Vergebung zu erwarten.

Zitternd wendet der Reisende sich ab. Er will schon hinausgehen, da wirft er für alle Fälle einen Blick auf ein Grabmal in der Nähe, einen prächtig skulptierten Sarkophag, darauf liegend ein bärtiger Mann, behütet von einem kleinen Engel, der die Flügel ausbreitet und seine Fußsohlen zeigt (als Hinweis darauf, dass er sowohl fliegen als auch laufen kann), an der Stirnseite zwei Wappen mit Halbmonden und zwei stattlichen Katzen, und in der Mitte eine Jagdszene, der Herr zu Pferd, am Handgelenk den Falken, ein Mann mit Lanze bläst ins Horn, ein anderer treibt die Hunde an, die ein Wildschwein verbellen und sich in ihm festbeißen. Der Reisende atmet erleichtert auf. Von diesem Totenschrein spricht das blühende Leben, mit einer Kraft, die die Leichenstarre der beängstigenden Heiligen zunichte und ihre Verachtung für die Welt wettmacht. Wie Dom Pedro de Barcelos in São João de Tarouca wollte dieser Vasco Esteves de Gatos die Erinnerung an die glücklichen Zeiten mitnehmen, als er hinter den Hunden über die Hügel galoppierte, während das Horn erklang und die Wälder grünten. Der Reisende verlässt die Kirche so zufrieden wie der Spatz, dem er in Torre de Palma die Freiheit zurückgegeben hat.

Es ist an der Zeit, nach Évora Monte zu fahren. Es liegt nicht weit und kommt gerade recht. In diesem Dorf hat Dom Miguel vor Dom Pedro kapituliert, wie man in der Schule lernt. Und bemerkenswert dabei ist, dass die Friedensverhandlungen nicht auf dem auf den ersten Blick dafür geeigneten militärischen Terrain der Burg und ihres Palastes Paço de Homenagem geführt wurden, sondern sich in einem einstöckigen Häuschen neben dem Haupttor der Stadtmauer die Grafen de Terceira und Saldanha als Vertreter der Liberalen und der General Azevedo Lemos, Befehlshaber der Absolutisten, unter den wohlwollenden Blicken von John Grant, dem Sekretär der britischen Gesandtschaft in Lissabon, versammelten – Freunde sind, wie man zu sagen pflegt, für solche Gelegenheiten da. Das Haus steht noch, und der Palast, von oben bis unten renoviert, böte heute neuen Verhandlungsdelegationen Komfort und Sicherheit. Das sagt der Reisende wegen der Arbeiten am Palast – drei Polizisten, deren Jeep draußen steht, bohren lange, schmale Vertiefungen in die Wände, um elektrische Leitungen zu verlegen, erzählen sich dabei Witze und pfeifen sehr männlich. Lassen wir sie, das liegt am Alter, so ist die Jugend.

Der Paço de Homenagem soll italienisch beeinflusst sein. Gut möglich, denn Vergleichbares hat der Reisende hier noch nirgends gesehen – ein quadratischer Mittelkorpus, der sich in den Ecken zu kreisrunden Befestigungstürmen erweitert. Der Anblick des Innern ist großartig, dicke Säulen tragen die drei Stockwerke hohen Gewölbe, alle unterschiedlich, sowohl die Gewölbe als auch die Säulen, und die Räume gehen offen in die Türme über. Das Ambiente entspricht in der Tat der Renaissance, ein schöner Ort für Tagungen und stilvolle Feste. Die Polizisten unterhalten sich jetzt über Filme, die sie gesehen haben oder sich demnächst ansehen wollen. Der Reisende betrachtet neugierig die Säulen im Erdgeschoss, rings um die Basis sind Flammen in den Stein geschnitten. Warum Flammen? Was für ein Feuer ist das hier in Évora Monte, in Stein gebannt? Der Reisende hat schon viele Rätsel im Gepäck, hoffentlich wird dieses sie nicht alle in Brand setzen.

Der Reisende hätte gern die Pfarrkirche besichtigt, doch sie ist geschlossen. Desgleichen die Kirche São Pedro, trotz vieler Fragen und Mühen, die Schlüsselfrau ist nicht zu Hause, sechs friedliche Hunde bewachen ihr Gehöft, der Reisende wartet ungewöhnlich lange, redet mit den Hunden und gähnt mit ihnen, doch kein Schlüssel taucht auf. Droben hinter der Pfarrkirche ein Walnussbaum, in dem zwanzig oder dreißig Zikaden gleichzeitig singen, und zwar so, dass man nur einen einzigen Ton hört und nicht das übliche abwechselnde Gezirpe. Der Reisende wundert sich, dass der Walnussbaum und die Zikaden nicht abheben und singend gen Himmel fliegen. Der Walnussbaum jedenfalls hat Mühe, seine Wurzeln im Erdreich zu halten.

In der gleichen Richtung, aus der er gekommen ist, fährt der Reisende zurück, passiert Estremoz und durchquert auf dem Weg nach Borba dichte Olivenhaine. Der Tag verspricht glühend heiß zu werden. Gleich bei der Einfahrt nach Borba blendet das Auge fast unerträglich mit ihrem Weiß eine schlichte Kapelle, nur Tür, Giebelaufsatz und Kuppel. Eine schlichte Kapelle, sagt der Reisende. Ganz so schlicht aber doch nicht. Zwar besticht sie nicht durch ihre Größe, wohl aber durch ihre Monumentalität: Die Tür reicht bis zur Kuppel hinauf, die direkt auf dem Gesims ruht. Rechts und links vom Giebelaufsatz führen zwei schöne sitzende Figuren, die ihre Füße ins Leere hängen lassen, einen Dialog, den man unten nicht hört. Ein paar Frauen unterhalten sich im Schatten, der Reisende fragt, was für eine Kapelle das sei. Keine kann es ihm sagen. Gehörte sie früher zu einem Prozessionsweg? Vielleicht. Nur wenige Meter weiter steht die Kirche São Bartolomeu, ein Renaissance-Bau. Apropos, was es in dieser Gegend reichlich gibt: Renaissance und Weiß. Äußerlich zeichnet sich die Kirche nicht durch Prunk aus, innen hingegen ist sie prächtig mit Marmor ausgekleidet. Das Schönste an ihr sind allerdings die Deckenmalereien, mit Medaillons und Landschaftsbildern, eine Ausschmückung, wie man sie nur selten findet. Borba gefällt dem Reisenden ganz entschieden. Vielleicht liegt es an der Sonne, dem noch morgendlichen Licht, vielleicht am Weiß der Häuser (wer hat gesagt, Weiß sei keine Farbe, sondern das Fehlen von Farbe?), vielleicht an alldem und auch an allem anderen, dem Verlauf der Straßen, den Menschen, die in ihnen unterwegs sind, mehr wäre für aufrichtige Zuneigung gar nicht nötig, da entdeckt der Reisende plötzlich unter einer Dachtraufe die ungewöhnlichste Liebeserklärung, ein Schild mit der Aufschrift: DAS ZERSTÖREN DER NESTER IST VERBOTEN. ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN MIT 100 $ GEAHNDET.

Man wird dem Reisenden darin zustimmen, dass ein Ort größtes Lob verdient, wenn man dort öffentlich erklärt, dass die ganze Härte des Gesetzes jene Übeltäter trifft, die die Behausungen der Vögel vernichten. Der Schwalben, genauer gesagt. Da das Schild unter einer Dachtraufe hängt, wo ja die Schwalben im Allgemeinen ihre Nester bauen, wird klar, dass der Schutz nur ihnen gilt. Alle anderen Vögel, gewiefter und den Menschen weniger vertrauend, bauen ihre Nester in den Bäumen außerhalb des Ortes und setzen sich den Risiken des Krieges aus. Aber es ist schon hervorragend, dass wenigstens ein Stamm des geflügelten Volkes das Gesetz auf seiner Seite hat. Wenn es so allmählich weitergeht, wird das Gesetz am Ende sämtliche Vögel und sämtliche Menschen schützen, mit Ausnahme, versteht sich, denn andernfalls verdiente es nicht die Bezeichnung Gesetz, der Räuber auf der einen wie der anderen Seite. Vermutlich wegen der Hitze hat der Reisende an diesem Tag nicht den allerklarsten Kopf, doch hofft er, dass man ihn versteht.

Fonte das Bicas wird häufig erwähnt, und zu Recht. In der Form eines kleinen Tempels mit geschlossenen Bögen würzt der Brunnen seinen neoklassizistischen Stil mit dem besonders weichen weißen Marmor aus der Region. Am besten gefällt dem Reisenden jedoch oder, genauer gesagt, amüsiert ihn eine Art von Irrgarten vor dem Brunnen, die vielen Gitter, die entweder den Weg versperren oder freigeben. Der Ortsfremde, der ihn zum ersten Mal betritt, reagiert verwirrt. Der Reisende vermutet, dass von ferne immer Einheimische belustigt zusehen und über die Ratlosigkeit des Fremden lachen.

Auf der Strecke nach Vila Viçosa begegnen dem Reisenden zu beiden Seiten der Landstraße zahlreiche Marmorbrüche. An diesen Knochen der Erde haftet noch fest der Lehmleib, der sie zuvor bedeckte. Und wo schon von Knochen (portug. ossos) die Rede ist, stellt der Reisende fest, dass sich zu seiner Rechten hinten am Horizont die Gipfel der Serra de Ossa abzeichnen, was nicht die weibliche Form von osso ist, denn die gibt es nicht, sondern so viel wie Bärin bedeutet. Wie wir sehen und uns vor Augen geführt wird, ist nicht alles das, was es zu sein scheint.

In Vila Viçosa besucht man den Paço Ducal. Der Reisende nimmt sich nicht von dieser Pflicht aus, die ja auch durchaus Vergnügen bereitet, doch muss er gestehen, dass solche Paläste ihn immer fast an den Rand geistiger Verwirrung bringen. Die Überfülle an Gegenständen, Exzellentes neben Mittelmäßigem, ein Saal nach dem anderen, das alles ermüdet ihn hier genauso wie schon zuvor in Sintra oder Queluz. Oder in Versailles, ohne sich damit brüsten zu wollen. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass der Palast von Vila Viçosa so aufmerksam besucht zu werden verdient, wie es die Zeiten zulassen, an die sich die Fremdenführer halten müssen. Nicht immer ist der als sehenswert hervorgehobene Gegenstand, was der Reisende lieber betrachten würde, doch die Auswahl gehorcht vermutlich einem Durchschnittsgeschmack, mit dem man alle zufriedenstellen möchte. In jedem Fall herrscht garantiert Einstimmigkeit bei den Sälen der Tugend (Sala das Virtudes) und der Herzoginnen (Sala das Duquesas), auch im Herkules-Zimmer im Nordflügel und dem Gemach der Königin (Sala da Rainha) und dem David-Saal (Sala de David), wobei die Dekoration mit Azulejos aus Talavera am Fuß der Wände im letztgenannten besonders hervorzuheben ist. Großartig ist auch die Kassettendecke in der Sala dos Duques und ausgesprochen schön die Hauskapelle der Herzogin Dona Catarina, deren Deckenbemalung von Themen aus Pompeji inspiriert ist. Gemälde gibt es in großer Zahl in Vila Viçosa, viele von zeitgenössischen Portugiesen und auch ein paar gute Kopien von Gemälden aus dem 16. Jahrhundert, insbesondere von van der Goes’ Kreuzabnahme. Und dass der Reisende sich auch die Küche ansieht und über die Vielzahl und Vielfalt der Kupfergeräte staunt, dann die Waffen, Rüstungen und Harnische besichtigt und auch die Remise von Dom João V. sich nicht entgehen lässt, hat seinen Grund darin, dass man sich alles ansehen muss, um etwas über das Leben der Herzöge zu erfahren und derer, die ihnen dienten, auch wenn die Besichtigung des Palastes über diese nicht viel Auskunft gibt.

Draußen betrachtet der Reisende das Reiterstandbild von Dom João IV. Er findet, die Mähne passt besser zu der Statue von Dom João I., die in Lissabon steht, was natürlich weder für die erste schmeichelhaft ist noch die zweite aufwertet. Und um das Herz von dieser Last zu befreien, geht er in die Altstadt, die die besondere Schönheit der alten Alentejaner Orte besitzt. Bevor er zur Burg hinaufsteigt, die viele Besucher nicht beachten, was ein Fehler ist, betritt er die Kirche Nossa Senhora da Conceição, von oben bis unten mit polychromen Azulejos ausgekleidet – ein weiteres Beispiel, das uns vor die Frage stellt, warum wir dieses wunderbare Material vergessen oder es, wo es heute verwendet wird, so verhunzt haben.

Der Reisende bewundert gebührend die Heilige, die Dom João IV. ohne Rücksicht auf göttlichen Willen krönte und zur Schutzpatronin Portugals erklärte, außerdem weiter Azulejos, diese von Policarpo de Oliveira Bernardes, einem sehr qualifizierten und produktiven Künstler. Da der Reisende aber, wie schon bei anderen Gelegenheiten bewiesen, besonders auf kleine und alltägliche Dinge achtet, indes auch sich bemüht, die seltenen und großen nicht außer Acht zu lassen, verwundert es nicht, dass ihm die imposanten Truhen für Getreide- und Olivenölspenden aufgefallen sind, die gleich am Eingang stehen, und ebenso die beachtlich großen Kollektekästen, der eine, in Form und Beschriftung älter, für die päpstliche Bulle der Kreuzzüge, der andere, theatralisch wie ein barockes Altarbild, für die Schutzpatronin. Jeweils rechts und links vom Mittelschiff an den Säulen stehend, fordern sie die Gläubigen zu Großzügigkeit auf. Wer die Pfarrkirche von Vila Viçosa betritt und Geld, Olivenöl oder Getreide abzugeben hat, muss ein sehr hartes Herz besitzen, wenn er nicht erleichtert wieder hinausgeht.

Die Burg von Vila Viçosa, womit der Reisende das sogenannte Castelo Novo meint, im 16. Jahrhundert auf Geheiß des Herzogs Dom Jaime errichtet, ist eindeutig ein Kastell. Alles ist der militärischen Funktion untergeordnet. Eine solche Festung, deren Mauern an manchen Stellen vier bis sechs Meter dick sind, muss im Hinblick auf lange, erbitterte Belagerungen geplant worden sein. Angesichts des trockenen Grabens, der mächtigen runden Wehrtürme, so weit vorgeschoben, dass jeder zwei Seiten des Vierecks abdeckt, der breiten Rampen innerhalb des Kastells für die Bewegung von Truppen, Artillerie zur Verteidigung und vermutlich auch Zugtieren, hat der Reisende das Gefühl, wie er es selten erlebt hat und noch nie so intensiv, Kriegsluft und den Geruch von Schießpulver zu atmen, obwohl sich dort keinerlei Kriegsgerät befindet. Innerhalb der Burgmauern steht die Zitadelle Alcáçova dos Duques mit einigen schönen Gemälden, und in der Zitadelle sind untergebracht, und zwar gut, nebenbei bemerkt, das Archäologische Museum und das Archiv des Königshauses Bragança, eine enorm große Sammlung von Dokumenten, die noch nicht alle ausgewertet sind. Der Reisende sieht mit ziemlich bedrückten Gefühlen an einer Wand an prominenter Stelle die vergrößerte Fotografie eines von Damião de Góis, wenige Wochen bevor die Inquisition ihn verhaften ließ, unterschriebenen Dokuments. Bedrückte Gefühle trifft es nicht richtig, eher Melancholie oder skeptische Melancholie oder eine andere undefinierbare Empfindung, wie sie sich angesichts des Unwiderruflichen einstellt. So als wäre der Reisende, da er weiß, dass Damião de Góis verhaftet werden wird, weil das Datum und die Fakten ihm dies sagen, verpflichtet, die Geschichte zu korrigieren. Das kann er nur nicht – will man die Geschichte korrigieren, muss man jedes Mal auch die Zukunft korrigieren.

Über Ciladas de São Romão erreicht der Reisende die Straße, die von Alandroal nach Elvas an Juromenha vorbeiführt. Und als er an einem schattigen Platz anhält, um die Landkarte zu studieren, stellt er fest, dass auf der Generalstabskarte, für ihn der beste Reiseführer, die Grenze vor dem spanischen Olivenza nicht als solche eingezeichnet ist. Da ist überhaupt keine Grenze. Nördlich von dem Fluss Olivenza und südlich von dem Fluss Táliga, beide jenseits des Guadiana, ist die Grenze mit einem gestrichelten Streifen markiert; als ob sich das portugiesische Gebiet zwischen den beiden Flüssen über die geschlängelte blaue Linie des Guadiana hinaus erstreckte. Der Reisende ist ein Patriot. Er hat immer sagen hören, Olivenza sei uns auf schändliche Weise abgenommen worden, mit diesem Glauben ist er groß geworden. Nun wird der Glauben zur Überzeugung. Wenn die kartographische Abteilung des Militärs so demonstrativ zeigt, dass Portugal auf einer Länge von dreißig oder vierzig Kilometern keine Grenze hat, dann ist der Weg frei für die Zurückeroberung, keine gestrichelte Linie hindert uns daran, nach Spanien einzudringen und einzunehmen, was uns gehört. Der Reisende verspricht, noch einmal darüber nachzudenken. Nur eins befürchtet er: dass auf den Karten des spanischen Militärs keine durchgezogene Linie fehlt und für sie also die Sache als erledigt gilt. Zur Vorbereitung wird der Reisende an den nächsten Zusammenkünften der gemischten Kommissionen für Grenzfragen teilnehmen. Er wird aufmerksam zuhören, was, wieso und wozu diskutiert wird, dann aber irgendwann die innig gehütete Karte hervorziehen und sagen: »So weit, so gut, aber nun behandeln wir das Problem Olivenza. Meine Karte hier sagt mir, dass die Grenze noch nicht festgelegt ist. Also legen wir sie jetzt fest, und zwar mit Olivenza auf unserer Seite.« Er würde nur zu gern wissen, was dann geschehen würde.

Bis der glorreiche Tag kommt, fährt der Reisende erst einmal weiter, nun hinauf nach Juromenha. Das Dorf außerhalb der ehemaligen, von einer schrecklichen Explosion 1659 praktisch zerstörten Festung strahlt im Weiß seiner Häuser, der fast klinischen Reinlichkeit der Straßen. Unter der großen, glühenden Sonne kommt ein alter Mann heran und gibt Auskunft, seine Gestalt zeichnet sich gegen den weißen Hintergrund der Hauswand ab, als wäre er nur zweidimensional. In den Straßen ist fast kein Mensch zu sehen, doch spürt man, dass das Dorf Leben beherbergt wie ein Ei.

Der Reisende geht zur Burg. Sie ist wirklich ein Ruinenfeld. Am Eingang des Mauerrings aus dem 17. Jahrhundert, unter dem Portalbogen, käuen eine Kuh und ein Kalb geduldig (oder pflichtbewusst) wieder, was sie zuvor gefressen haben. Im Burginnern ahnt man, wo die Menschen gelebt haben: ein Schornstein, dem das Stockwerk fehlt, über dem er sich erhob, schwebt fast im Leeren. Das Gelände ist weitläufig, der Reisende geht es nicht ganz ab. Noch mehr Ruinen, die Reste einer Kapelle, vermutlich der Capela da Misericórdia, und andere, noch trauriger anzusehen, von der Kirche Nossa Senhora do Loreto, zwischen denen eine Schafherde Siesta hält und sich dabei auch vom unerwarteten Besuch des Reisenden nicht stören lässt. Vielleicht, weil er selbst zu dieser Stunde tiefe Trägheit empfindet, den Wunsch, eine Pause zu machen, nur zu ruhen hier zwischen den Schafen unter dem so gar nicht mehr triumphalen Bogen, in den andere, nach Unsterblichkeit dürstende Besucher ihren Namen geritzt haben. Alle Reisen haben irgendwann ein Ende, und Juromenha wäre für den Abschluss kein schlechter Ort.

Doch solche Gedanken vergehen. Der Reisende widersteht der Versuchung, sich hypnotisieren zu lassen, und geht in der sengenden Sonne weiter über Staub und lose Steine. Er achtet darauf, wohin er die Füße setzt (es könnte ja ein Schatz auftauchen, nicht wahr?), doch auf einem etwas ebeneren und saubereren Weg kann er den Blick heben. Er hatte den Guadiana vergessen, und da ist er nun, herrlich frisch, wie die Bächlein, die der Quelle entspringen und das letzte Refugium für Kräuter und Enten sind. Der Guadiana umspült seine Ufer mit Leben, ohne zwischen dem hiesigen und dem dortigen, das der Landkarte nach auch ein hiesiges ist, einen Unterschied zu machen, und erweckt den merkwürdigen Eindruck, ein urwüchsiger Fluss zu sein, obwohl er in Sichtweite eines bewohnten Ortes vorüberfließt. Er ist fraglos der am wenigsten bekannte Fluss auf portugiesischem Gebiet.

Der Reisende kehrt auf die Landstraße zurück, Richtung Alandroal, wo er nur zu einer Erfrischung anhält. Von dort geht es weiter südwärts, nach Terena. Der Reisende möchte die Festungskirche sehen, die mehr als alle ihresgleichen eher Festung denn Kirche ist. So sieht es auf den Fotos aus, und der Reisende hat die Bestätigung bald vor Augen. Nähme man ihr den Glockenturm, wäre sie eine perfekte kleine Burg mit ihren kräftigen spitzen Zinnen und dem Austritt, der sich mühelos zu einem Bollwerk machen ließe, sofern das nicht sowieso seine ursprüngliche Funktion war.

Räumlich ist diese Kirche Nossa Senhora da Boa Nova wie ein Turm mit kreuzförmigem Grundriss und gleich langen Flügeln, gedrungen und niedrig, auch wenn sie von innen höher wirkt. Dieses kostbare Kleinod unserer mittelalterlichen Architektur wird dem Reisenden in Erinnerung bleiben, zumal die Kirche intakt ist. Auch anderen ist sie in Erinnerung geblieben, wie zum Beispiel Alfonso X. von Kastilien, der in seinen Cantigas de Santa Maria von ihr spricht. Der Überlieferung nach wurde Boa Nova auf Geheiß einer Tochter von Dom Afonso IV., König von Portugal, im Jahre 1340 erbaut. Alfonso X. jedoch starb 1284. Ist die Kirche älter, als behauptet wird, oder stand an ihrer Stelle schon eine andere? Eine Frage, die der Klärung noch harrt, so wie auch die rätselhafte Deckenbemalung in der Hauptkapelle, die auf den ersten Blick wie eine Illustration der Apokalypse wirkt, jedoch Figuren zeigt, die im Johannes-Evangelium nicht vorkommen. Die anderen Flügel der Kirche sind mit volkstümlichen Heiligendarstellungen bemalt.

Als der Reisende Redondo erreicht, hat er für viele Besichtigungen keine Zeit mehr. Er sieht sich die Pfarrkirche und die Igreja da Misericórdia, diese innerhalb der Burg, von außen an, und die Burgtore da Revessa und do Relôgio. Mehr nicht. Er verzichtet darauf, zu den Dolmen in der Serra de Ossa zu fahren, nicht wegen der Bären, die gibt es nicht mehr, sondern wegen der Zeit, denn auch die hat er nicht mehr. Dafür isst er die köstlichsten, saftigsten und prächtigsten Schweinskoteletts, die ihm je zwischen die Zähne gekommen sind. Wenn Redondo allen seinen Besuchern so etwas bietet, wird es ihm nicht an Freunden mangeln.

Die Portugiesische Reise
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