Mönche, Krieger und Fischer
Von Leiria hat der Reisende nicht viel gesehen. Ob es an ihm selbst lag, ein Zufall war oder unausweichlich so kommen musste, wer will das sagen?
Die Kathedrale leidet vermutlich an ihrer langen Bauzeit (über hundert Jahre) mit den unvermeidlichen Schwankungen im Stil, der wohl schon von Anfang an nicht sonderlich sicher war. Dann kam das Erdbeben von 1755 und brachte einen Teil der Fassade zum Einsturz, kurzum, man kann nicht behaupten, dass die Kathedrale von Leiria größeren geistigen Lohn bietet, abgesehen vom religiösen Nutzen, versteht sich. Während der Reisende durch die Kirchenschiffe geht und die enorm hohen Säulen und die getäfelten Decken zu bewundern sich bemüht, schlägt ein Ball gegen eine Tür; auf dem Kirchenvorplatz spielen Jungen Fußball, und derjenige, der das Tor in Form der Kirchentür hütet, beweist kein besonderes Geschick. Der Aufprall hallt in den leeren, breiten Kirchenschiffen wie wütendes Gehämmer wider. Keinen von den wenigen in der Kirche Anwesenden scheint das zu stören – woraus der Reisende schließt, dass man in Leiria für spielende Kinder viel Verständnis hat. Gut so.
Obwohl es noch früh am Vormittag ist, ist es schon heiß. Die Jungen unterbrechen ihr Spiel nicht, und der Reisende beginnt den anstrengenden Aufstieg zur Burg. Allmählich dehnt sich die Landschaft vor ihm, sanft, doch ohne Überraschungen, und der Reisende erwartet auch keine. Doch er irrt: Die Burg von Leiria ist ein ungemein angenehmer Ort zum Spazierengehen mit ihren ländlichen Wegen, den schmalen Pfaden, wie absichtlich aufgestellten Ruinen. Bei der herrlichen Terrasse von Dom Dinis’ Palast denkt man an Hofdamen, die in ihren bodenlangen Kleidern wandelten, während sie Erlesenem in Versen und Prosa lauschten, das feurige Verehrer ihnen zuraunten. Nichts so Deutliches wie die Umarmung des jungen Pärchens da drüben in einer Ecke, vom Mund bis zu den Knien aneinandergepresst, wie es die Jugend tut. Der Reisende prüft sich streng, ob er moralisch urteilt, und entscheidet, nein, vor allem nicht, wenn er daran denkt, dass auch in alten Zeiten die Dame und ihr Herr sich so umarmt haben, nur nicht so öffentlich. Von hier aus gesehen ist Leiria schön.
Dann geht er zu den Ruinen der Kirche Nossa Senhora da Pena gleich nebenan. Von den Steinen, aus denen sie zur Zeit von Dom Afonso Henriques bestand, sind keine erkennbaren Reste mehr vorhanden. Was dort steht, stammt aus dem 14. Jahrhundert, als sie wiederaufgebaut wurde. Die Kirche ist mittelgroß und muss einmal prächtig gewesen sein. Selbst ohne Dach, ganz dem Wind ausgesetzt, besitzt sie noch heute eine sehr eigene Schönheit dank ihrer richtigen Größe, wozu vermutlich die obligatorische Rücksicht auf die Dimensionen des oberhalb gelegenen Palastes beigetragen hat. Der Reisende spaziert ein wenig längs der auf und ab führenden Wege, dann setzt er sich auf denselben Stein, auf dem Dona X ihrem hartnäckigen Dom Y das Jawort gegeben hat, breitet die Karte aus und entwirft seinen eigenen Schlachtplan. Beginnen wird er mit Batalha, ganz richtig, dann über São Jorge und Cós fahren und einen Blick auf Nazaré werfen. Vom Meer wird er wieder landeinwärts nach Alcobaça fahren und, zurück in Leiria, den Tag beschließen.
Die Fahrt ist nicht lang, der Reisende kann sich Zeit lassen. Und um sie noch erholsamer zu gestalten, verlässt er die Hauptstraße und nimmt eine weit schmalere, die dem Ufer des Lis folgt. Auf diese Weise kann er sich in Ruhe auf das große Kloster Santa Maria da Vitória in Alcobaça vorbereiten. Der Reisende schreibt diese Zeilen, ohne zu zögern, doch innerlich weiß er, dass er verloren ist. Wo zehntausend Seiten nicht ausreichen würden, ist schon eine zu viel. Er bedauert zutiefst, dass er nicht im Flugzeug reist, sonst könnte er sagen: »Ich konnte kaum etwas sehen, wir flogen zu hoch.« Er aber ist auf dem Erdboden unterwegs und schon fast da, ein Mann darf sich nicht vor seiner Pflicht drücken. Nuno Álvares hatte es leichter, der musste nur die Kastilier besiegen.
Tatsächlich darf der Reisende sich weder von den Dimensionen des Bauwerks einschüchtern lassen, noch sich in der vermutlich bald ermüdenden Betrachtung der einzelnen Steine, Kapitelle, Ausschmückungen, Figuren und all dessen, was es da sonst noch gibt, verlieren. Er wird sich einen Gesamteindruck verschaffen und sich damit begnügen, und da er in diesen Dingen kein Experte, sondern schlicht neugierig ist, wagt er es, gegen den Strich fundierter und allgemein akzeptierter Meinungen zu denken, denn dazu autorisiert ihn, dass er Augen, einen eigenen Geschmack und möglicherweise ein ausreichendes Maß an Sensibilität besitzt. So sagt er zum Beispiel, dass die Capela do Fundador, nachdem er nun einmal die Kirche betreten hat, trotz ihrer reichen Steinmetzarbeiten und ihrer harmonischen Struktur ihn in kühle Verwunderung versetzt, womit das Gefühl von Ablehnung ausgedrückt werden soll, das ihn jählings überkommt. Verstehen wir uns recht. Der Reisende hegt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Lobpreisungen, mit denen man diesen Ort überhäuft hat, berechtigt sind, und er könnte mühelos seine eigenen hinzufügen. Da aber Vollkommenheit kein Selbstzweck ist und der Reisende ein höchst unvollkommener Betrachter, hätte er vielleicht, um sicherer sein zu können, lieber den Künstler während der langwierigen Arbeitsphase angetroffen, in der der Sieg über die Materie noch nicht vollkommen errungen war, ohne dass dies seiner Befriedigung Abbruch getan hätte. Das ist zweifellos paradox. Einerseits soll der Künstler sich vollkommen ausdrücken, die einzige Möglichkeit, zu erfahren, wer er ist – andererseits soll es ihm lieber nicht gelingen, alles zu sagen, vielleicht weil dieses alles noch ein Zwischenstadium des Ausdrucks darstellt. Gut möglich, dass manche scheinbar formalen Rückschritte letztlich nur das Resultat der beunruhigenden Feststellung sind, dass die Vollkommenheit sinnentleerend wirkt.
Der Reisende hat den Verdacht, dass er Blödsinn gesagt hat. Hilft nichts. Diese Gefahr besteht immer, wenn man auf Reisen geht und erzählt, was man gesehen hat. Und da der Reisende hier nicht unterwegs ist, um nur zu berichten, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, riskiert er ein paar aufwieglerische Kommentare, die im Grunde seine rein persönliche, aufrichtige Meinung sind. Und als aufrichtiger Mensch muss er sagen, welch große Freude ihn überkommt, als er vom Eingang aus auf das Hauptschiff schaut, auf die hohen, dicken Säulen, die aus diesem Blickwinkel eine geschlossene Wand bilden und die Seitenschiffe verdecken, doch als der Reisende weitergeht, deuten sich die Abstände zwischen ihnen erst nur an, dann werden sie breiter, bis die Seitenschiffe in ihrer ganzen Tiefe sichtbar werden, bevor die Säulenwand sich wieder schließt. Das Statische wird dynamisch, das Dynamische hält inne und schöpft Kraft aus dem Stillstand. Wenn man durch diese Kirchenschiffe geht, erlebt man sämtliche Eindrücke, die ein geordneter Raum bewirken kann. Doch schon bald muss der Reisende erkennen, dass noch nicht alles gesagt ist: Drei Schwalben sind durch die Tür hereingekommen und fliegen laut zwitschernd hoch oben unter der Decke; und da übermannt ihn ein neuer Eindruck, ein langer Schauer läuft ihm über den Rücken, womit bewiesen ist, dass man immer noch weiter gehen und zu der einen Ausdrucksform eine andere hinzufügen kann, zum Gewölbe einen Vogel, zum Schweigen einen Schrei.
Der Reisende begibt sich in den königlichen Kreuzgang. Hier hat man ein Beispiel dafür, dass der Formenreichtum wesentlich mehr auf der Ausschmückung als auf der Struktur beruht. Ohne die prächtigen Steinmetzarbeiten der Bogenfelder über verzierten schlanken Säulen, die nichts von der Last des Bogens tragen, würde sich der königliche Kreuzgang überhaupt nicht oder nur kaum von zahllosen anderen unterscheiden, deren einziger Zweck darin bestand, einen geschützten Raum zum Meditieren zu schaffen. Es ist die manuelinische Üppigkeit in Verbindung mit der gotischen Strenge, die ihm seinen ganz eigenen szenischen Wert verleiht.
Da der Reisende zwar immer akzeptiert, dass er sich irren könnte, von sich selbst aber verlangt, konsequent zu sein, bietet sich hier die Gelegenheit, zu erklären, dass ihn der Kreuzgang von Dom Afonso V. wesentlich tiefer beeindruckt hat. Er wurde von Fernão de Évora erbaut, einem nicht sonderlich genialen Mann, doch darum geht es hier nicht. Der Kreuzgang von Dom Afonso V. hat einen ausgesprochen handwerklichen Charakter, geschaffen von jemandem, der eher zur Arbeit genutzte Innenhöfe entwirft als luxuriöse Paläste, und gerade dieser Aspekt hat den Reisenden berührt – das Rustikale von Entwurf und Ausführung, die geistige Zurückgezogenheit, die man dort findet, im Gegensatz zur prunkvollen Meisterhaftigkeit des königlichen Kreuzgangs. Als Ganzes gesehen ist der Afonso-Kreuzgang für den Reisenden von größerer Perfektion. Doch akzeptiert er, wenn man ihm widerspricht.
Als er den Kapitelsaal betritt, muss er an die Passage bei Alexandre Herculano denken, die ihn als Kind in seiner Schulzeit so beeindruckt hat: Der alte Baumeister Afonso Domingues sitzt unter dem Schlussstein des Gewölbes, die Arbeiter entfernen die Stützbalken und das Gerüst, voller Angst, die Konstruktion könnte einstürzen, und von draußen, durch die Tür und die Seitenfenster, lugen ebenso ängstlich die übrigen Arbeiter, darunter auch ein paar Edelleute, »Stürzt sie ein oder stürzt sie nicht ein?«, manch einer sieht das Unheil garantiert kommen, und dann, nachdem einige Zeit vergangen und der große Steinhimmel intakt geblieben war, die Worte des Afonso Domingues: »Das Gewölbe ist nicht eingestürzt und wird nicht einstürzen.« Der Reisende hat das Gefühl, dass sein Lehrer damals die Sache oberflächlich betrachtet hat, nur als eine Lektion wie viele andere, doch an Ort und Stelle sieht es anders aus. Afonso Domingues hatte sich in der Überzeugung hingesetzt, dass seine Berechnungen richtig waren, doch konnte er keineswegs sicher sein, dass die Sache gut ausgehen würde – der Mensch kann nichts mit absoluter Gewissheit vorhersehen. Dennoch verbürgte er sich selbst für das Werk vieler anderer. Er gewann, und wir mit ihm. Es ist ein wunderbarer Raum, Schauplatz eines anderen Kampfes, jenes, der starre Steine in ein am Ende ausgewogenes Kräftespiel verwandelt. Der Reisende stellt sich unter den Schlussstein des Gewölbes, dorthin, wo Afonso Domingues saß. Viele haben das schon getan und sich damit der Herausforderung des Architekten selbst gestellt. Das ist unser Vertrauensbeweis. Zwei lebende Soldaten stehen da und behüten einen toten Soldaten. Ein toter Baumeister behütet die Soldaten und den Reisenden. Es muss einen Weg geben, uns alle gegenseitig zu behüten.
An der Außenseite des Kapitelsaals entlang geht der Reisende zum Pantheon von Dom Duarte, das blödsinnigerweise, doch unabänderlich, die Unvollendeten Kapellen genannt wird. Zum Glück für uns ist das Pantheon nicht fertig gebaut worden. Wir hätten eine Kuppel über dem Kopf, und der Anblick böte keine Überraschungen. So aber haben wir ein Versprechen, das ein Versprechen bleibt, auch wenn wir wissen, dass es nie eingelöst wird, und dennoch sind wir damit ebenso zufrieden, wenn nicht noch zufriedener als mit einem vollendeten Werk. Und es ist schön, dass es Frühling ist. Im Freien über den Kapellen fliegen, vor Lebendigkeit strotzend, die Schwalben, schreien, als wären sie wütend, dabei sind sie nur aufgeregt wegen der Sonne, der Jagd auf Insekten oder vielleicht wegen der herrlichen Schönheit des Gemäuers, das wie in erstarrtem Flug seine sieben Arme emporreckt, um den Himmel zu stützen. Möge man dem Reisenden gelegentliche lyrische, wenn auch nicht sehr phantasievolle Anwandlungen gestatten. Manchmal muss man sich etwas von der Seele reden, weiß nur nicht recht, wie.
Dann sieht sich der Reisende in Ruhe das ganze Kloster an. Er betrachtet das Portal mit seinen Archivolten, bevölkert von Engeln, Propheten, Königen, Heiligen, Märtyrern, ein jeder auf seinem Platz in der Hierarchie; das Bogenfeld mit Christus und den Evangelisten; die Figuren der Apostel auf symbolischen Tragsteinen, die reinsten Meisterwerke. Der Reisende tritt zurück, breitet die Arme aus, um möglichst alles zu umfangen, und geht, verblüfft über seine Kühnheit, zufrieden weiter.
Ein naiver Reisender, der glaubt, Wörter hätten nur eine einzige Bedeutung, wird vermuten, wenn er den Schauplatz der Schlacht von Aljubarrota sehen will, müsse er in dem gleichnamigen Dorf danach suchen. Ein großer Irrtum. Aljubarrota liegt vierzehn Kilometer vom Kloster entfernt, doch ist das nicht der eigentliche Schauplatz der Ereignisse. Die entscheidende Schlacht wurde in São Jorge geschlagen, fünf Kilometer von Batalha entfernt. Viel zu sehen gibt es nicht, so wie auf keinem Schlachtfeld, wenn die Knochen der Gefallenen und die Waffen der Besiegten nicht erhalten sind. Im Kapitelsaal des Klosters gibt es einen unbekannten Soldaten, hier sind alle unbekannt. Aber der Reisende besucht dort die Kapelle São Jorge, die Nuno Álvares Pereira zum Dank hat errichten lassen. Von dem, was sie einst war, ist wenig oder nichts übrig geblieben. Die Phantasie hilft nicht viel weiter, wenn wir uns vorstellen wollen, was sich hier abgespielt hat. Selbst die Figur des heiligen Georg zu Pferd, eine bewunderungswürdige Statue aus dem 14. Jahrhundert, ist mit anderen Schlachten beschäftigt: Immer wieder muss der Drache getötet werden, immer wieder erwacht der Drache zum Leben, wann wird der heilige Georg einsehen, dass nur Menschen Drachen töten können?
Der Reisende fährt über abfallendes Gelände in Richtung Meer. Auf dem Weg dorthin liegt die Ortschaft Cós. Es ist Nationalfeiertag – der 25. April –, zwar hat der Reisende beobachtet, dass alle Feiertage mit Freuden begangen werden, doch hier sind die Leute draußen auf den Straßen und feiern das Datum und ihre eigene Freude besonders ausdrücklich. In Cós liegt das Kloster Santa Maria oder was von ihm übrig ist. In einer Ortschaft so fern der üblichen Wege erwartet man kein derart grandioses und künstlerisch reiches Bauwerk. Farbe und Komposition der Kirchendecke mit ihren bemalten Kassetten sind großartig, und die Sakristei, an den Wänden ganz mit blauweißen Azulejos ausgekleidet, darauf Szenen aus dem Leben des heiligen Bernard de Clairvaux, ist prächtig. Cós zählt zu den angenehmen Überraschungen der Reise.
Eine Überraschung ist auch Maiorga, nicht wegen spezieller Bauwerke, sondern weil man dort gern musiziert. Der Reisende ist praktisch nur durch den Ort gefahren, doch auch so sieht er an mindestens drei Gebäuden Hinweise, dass dort eine Kapelle, ein Orchester oder eine Musikgruppe ansässig sind. Und eins der Gebäude hat, als genügte ihm nicht die erklärte Liebe zur Musik, einen wunderschönen manuelinischen Eingang (möge Apollo ihn erhalten); später erfährt der Reisende, dass es ursprünglich eine Kapelle war, die Ermida do Espirito Santo, und danach das Armenspital. Das alte Gebäude ist seiner Tradition treu geblieben: Erst hat man sich dort um die Seele gekümmert, dann um den Körper und nun um sinnlichen Genuss.
Wozu ist der Reisende nach Nazaré gefahren? Wozu ist er in all die Orte und an all die Stätten gefahren, die er besucht? Ansehen und weiterfahren, weiterfahren und ansehen. Er hat dem schon vorgebaut, hat schon erklärt, dass Reisen nicht darin besteht, sondern dass man sich eine Weile aufhalten muss, aber das kann er nicht ewig wiederholen. Dennoch, hier muss er dasselbe Lied noch einmal anstimmen, damit ihm Vergebung sicher ist; er hätte eine Weile bleiben müssen und zusehen, wie die Fischer aufs Meer fahren und vom Meer zurückkehren, gebe Gott, sie alle; er hätte Farbe und Brandung der Wellen kennenlernen müssen; hätte Boote an Land ziehen müssen; mit denen schreien, die schreien, und weinen mit denen, die weinen; er hätte den Fang begutachten müssen und den Lohn, das Leben und das Sterben. Dann wäre er einer aus Nazaré, wie vorher einer aus Póvoa de Varzim oder aus Ovar. So ist er lediglich ein Reisender, der an einem Feiertag vorbeikommt, kein Mensch auf dem Meer, einem friedlichen Meer, und eine so strahlende Sonne, dass sie blendet, viele Menschen gehen auf der Uferpromenade spazieren oder sitzen auf der Mauer, und dazu eine brummende Autoprozession. In solchen Momenten wird der Reisende melancholisch, fühlt sich vom Leben abgeschnitten, wie hinter einer Glasscheibe, die zwar durchsichtig ist, aber verzerrt. Deshalb beschließt er, zum Sítio hinaufzufahren, von dort oben auf das Häusermeer zu schauen, das sich nach Süden hin dehnt, auf die sanft geschwungene Bucht, das ständig Schaum herantragende Meer, den ihn ständig aufsaugenden Strand. Auch hier sind viele Menschen, die die Aussicht genießen. Es wäre sicherlich reizvoll, zu sammeln, was jeder Einzelne sieht, die verschiedenen Meere, verschiedenen Nazarés zu vergleichen und dann zu dem Schluss zu kommen, dass es noch immer nicht genug Augen waren. Der Reisende hat das sichere Gefühl, dass dem Leser hiermit wenig gedient ist, und bittet um Vergebung.
Mit Alcobaça endet der Tag. Die Tour war nicht lang, aber intensiv, wahrscheinlich zu intensiv. In Alcobaça stellt sich unter anderen Vorzeichen die alte Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Anders gesagt, hat Alcobaça seinen Namen erhalten, weil die Flüsse dort Alcoa und Baça heißen, oder hat man, weil die Flüsse noch nicht benannt waren, beschlossen, seinen Namen aufzuteilen, du kriegst dies, und du kriegst das. Fachleute sagen, der Name Alcobaça komme von Helcobatie, wie eine römische Siedlung in der Nähe hieß, doch ist damit unsere brennende Frage noch nicht beantwortet, das Problem nur auf eine andere Epoche verlagert: Hießen die Flüsse damals Helco und Batie? Wurde Helcobatie nach ihnen benannt? Oder wurde Helcobatie großmütig in zwei Hälften geteilt, damit die Flüsse nicht namenlos blieben? Das klingt nach Spielereien des Reisenden, dabei ist es ein ernstes Thema. Und es ist nicht in Ordnung, dass man uns Erklärungen gibt, die nichts erklären. Auch wenn man zugeben muss, dass man selbstverständlich in Ruhe leben und arbeiten kann, ohne dass die Frage nach Alcobaças Namen gelöst ist.
Das Bemerkenswerte an der Fassade des Klosters ist das perfekte Zusammenspiel der verschiedenen Stile, zumal das jüngere Barock keinerlei Konzessionen an das gotische Portal zu machen versucht. Allerdings ist dieses auch in seinen Möglichkeiten, mit den übrigen Elementen der Fassade zu konkurrieren, dadurch eingeschränkt, dass es schlichte, schmucklose Archivolten besitzt und durch barocke Pfeiler eingerahmt wird. Struktur und Dynamik des Ganzen sind also barock geprägt, daran ändern auch die beiden manuelinischen Fenster links und rechts neben der Rosette nichts. Die Glockentürme sind der Triumph des Stils, in zahllosen Beispielen im ganzen Land zu finden.
Doch im Kircheninnern vergisst der Reisende die Fassade. Hier herrscht das Zisterzienserreich, eine nach reiner Funktionalität geschaffene Atmosphäre, die Strenge der Architektur spiegelt die Strenge der Klosterregeln. Das Hauptschiff ist immens lang (das längste in Portugal) und wirkt durch die hohe Gewölbedecke ungemein schmal. Die Seitenschiffe verstärken diesen Eindruck noch, sie muten fast wie Korridore an. Das Bauwerk ist imposant, überwältigend, in diesen Raum gehören nur große Chorgesänge und feierliche Gebete. Der Reisende fühlt sich ein wenig fehl am Platz, wie auf der Suche nach seiner eigenen Dimension.
Hier befinden sich die Sarkophage von Pedro und Inês, den unsterblichen Liebenden, die auf das Ende der Welt warten, um aufzuerstehen und, falls so etwas im Himmel geduldet wird, ihre Liebe ab dem Augenblick weiterzuleben, an dem »die brutalen Mörder« ihr ein Ende machten. Es sind die Sarkophage eines portugiesischen Königs und einer Hofdame, aus Galicien gebürtig, die einander liebten und Kinder hatten. Sie, die Hofdame, wurde vermutlich aus politischen, keinen anderen Gründen ermordet. Es sind zwei Juwele der Steinmetz- und Bildhauerkunst, leider mutwillig beschädigt, was man jedoch dank des herrlichen Gesamteindrucks fast vergisst. Der Reisende bedauert nur, dass die hohen Sarkophage ihren wichtigsten Teil, die liegende Figur, praktisch verbergen, denn man kann sie nur mühsam und bruchstückhaft sehen. Schon in Batalha hat der Reisende die Doppelgestalt von Dom João und Dona Felipa kaum sehen können, sie liegen nebeneinander, er hält ihre Hand, als Bildnis des glücklichen Ehepaares; der Reisende ist rundherum gegangen, wusste aber, dass ihm das Wesentliche entging. All diese Grabstätten, die heute einzig und allein Kunstwerke sind und keine Denkmäler für Ruhm und Macht derer, die darin liegen (oder nicht mehr liegen oder nie gelegen haben), sollten, wann immer es möglich ist, ohne den sie umgebenden Raum zu beeinträchtigen, tiefer gesetzt werden, mit Stufen und einem ausreichend breiten Umlauf, damit sie sich dem Auge aus allen Blickwinkeln darbieten können. Das geht nicht, werden die Fachleute sagen. Es sollte aber so sein, erwidert der Reisende. Und jeder hält an seiner Meinung fest.
Der Reisende sollte sich nicht wiederholen. Er muss es sogar vermeiden. Aber er will nicht verheimlichen, dass er, obwohl er die Sarkophage von Dom Pedro und Dona Inês außergewöhnlich schön findet, die andere Kapelle, die Sala dos Túmulos, unter gestalterischem Aspekt vorzieht. Als Beispiel sei nur der Sarkophag von Dona Beatriz de Gusmão aus dem 13. Jahrhundert genannt. Ein kleiner Schrein, der natürlichen Größe einer Frau entsprechend, umgeben von roh skulptierten Figuren mit höchst dramatischem Ausdruck, obwohl in gewisser Weise stereotyp.
Dramatisch ist auch der Zustand des Altarbildes vom Tod des heiligen Bernard, die Keramik ist gesprungen und zerbrochen. Trotzdem ist es ein Meisterwerk. Die Figuren sind so lebendig gestaltet, wie es vielleicht nur dieses Material ermöglicht – schließlich ist Tonerde, wie es heißt, unserer menschlichen Fragilität wesentlich näher als Stein. Jedenfalls redet man uns das ein.
Der Reisende wäre gern durch die Sakristei zu der Kapelle gegangen, in der sich das barocke Reliquiar des Frei Constantino de São Paio befindet. Er musste sich mit der Betrachtung der Sakristeitür begnügen, mit üppiger Blattwerkstilisierung von João de Castilho, die den Reisenden an seinem eigenen Geschmack zweifeln lässt: Vermutlich bewundernswert, denkt er, aber nicht vielleicht allzu bewundernswert? Es ist, als hätte die Tür einen Mund und sagte: »Hier bin ich, bewundere mich.« Der Reisende hat sich noch nie gern befehlen lassen.
Vom Kreuzgang hat er den Gegensatz zwischen dem robusten Charakter der unteren Bogenreihe und der Leichtigkeit der oberen in Erinnerung. Zwei Epochen, zwei Arten, das Material zu bearbeiten, zwei Techniken, zweierlei Wissen über mögliche Härtegrade. Aber auch die Elemente der Kapitelle, robust und zart zugleich, haben ihn beeindruckt.
Der Reisende besichtigt die Küche und das Refektorium, umringt von einer lärmenden Gruppe spanischer Schülerinnen. Zwei mächtige Hallen, entsprechend der Größe der Gesamtanlage. Der Reisende erfreut sich an dem noch immer durch die Küche rinnenden Wasser, reißt unter dem riesigen Rauchfang vor Staunen Mund und Augen auf, und als er das Refektorium betritt, kann er nicht umhin, sich vorzustellen, wie die Mönche alle dort saßen und diszipliniert auf das schmackhafte Mahl warteten, in Gedanken das Klappern des Geschirrs, der großen weißen Wasserkrüge zu hören und wie sie mit Appetit, angeregt von der Arbeit im Klostergarten, lebhaft kauten und schluckten und schließlich nach dem letzten Gebet zum Verdauungsspaziergang in den Kreuzgang hinausgingen, Herr, unser täglich Brot gib uns heute.
Wie die Zeit vergeht. Bald wird das Kloster geschlossen. Die spanischen Mädchen sind inzwischen in dem großen Bus, der sie hergebracht hat, abgefahren, wo mögen sie um diese Zeit hinwollen? Der Reisende bleibt vor dem Portal stehen, schaut auf den Platz vor ihm, auf die Häuser, den Hügel mit der Burg. Der Ort ist im Schatten der Abtei entstanden und groß geworden. Heute lebt er aus eigener Kraft. Aber der Schatten fällt noch immer weit, oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass die Sonne sich neigt und der Reisende sich täuschen lässt.