Wo die Adler zur Ruhe gehen

Der Reisende ist unterwegs nach Montemor-o-Novo. In Alcácer do Sal hat er die Kirche Senhor dos Mártires besichtigt, vom Orden Santiago im 13. Jahrhundert erbaut, und die Kirche Santa Maria innerhalb der Burg. Viel könnte man über Senhor dos Mártires mit ihren mächtigen Strebepfeilern als architektonisches Gesamtwerk sagen. Am sehenswertesten sind die dem heiligen Bartholomäus geweihte achteckige Kapelle und eine andere gotische, in der der Sarkophag eines Ordensmeisters steht. Die Kirche Santa Maria hoch droben wird von einer sehr alten Frau gehütet, weniger taub, als sie zu sein vorgibt, und mit ironischem Blick, der plötzlich hart wird, als sie unauffällig das Trinkgeld zählt, das die Hand flink in die Schürze gesteckt hat. Aber ihre Klagen sind aufrichtig: die Kirche sei in einem erbärmlichen Zustand, die Statuen seien weg, die Altartücher abgenommen und nicht zurückgebracht, sie vermutet, der Priester kümmere sich nun, weil er es leid sei, so hoch hinaufzusteigen, mehr um die Gemeinde in der Ebene und lasse die Sachen dahin bringen. Zum Glück können weder die Portale des ursprünglichen Baus noch die romanischen Kapitelle in einen Sack gesteckt oder auf dem Rücken weggeschleppt werden, wobei der Reisende bezweifelt, ob so alte Dinge für den modernen klerikalen Geschmack überhaupt von Interesse wären.

Weiter oben stehen die Ruinen eines Klosters. Die Pforte öffnet eine sehr junge Frau, hilfsbereit und flink im Antworten, die erklärt, was sie weiß, und sich entschuldigt, dass sie so wenig weiß. Sie gibt keine Ruhe, bis sie den Reisenden zur höchsten Mauer geführt hat, nur um ihm die Landschaft zu zeigen, wo der Sado sich weit zwischen leuchtend grünen Reisfeldern dehnt. Auch sie beklagt sich: Man habe aus der verfallenen Kirche die Azulejos geholt, mit denen sie von oben bis unten ausgekleidet war. »Und wo sind sie jetzt?«, fragt der Reisende. Die junge Frau sagt, jemand habe ihr erzählt, die Azulejo-Bilder befänden sich jetzt in der Pfarrkirche von Batalha, so viel, wie da hineinpasste, der Rest werde irgendwo in Kisten gelagert. Der Reisende kramt in der Erinnerung, aber die Erinnerung lässt nicht in sich kramen. Er wird noch einmal nach Batalha fahren müssen, um die Sache zu klären. Diese Burg indes macht ihrem Namen Castelo de Alcácer, Festung des Alkazar, alle Ehre: In ihren frühen Tagen muss sie beachtlichen Widerstand geleistet, alle abgewehrt haben, denn erst unter Afonso II. nahm sie, ohne sich weiter zu spreizen, die Portugiesen in sich auf.

Der Reisende folgt einer verschlungenen Route zwischen üppigen Feldern, denen die Sonne anscheinend nichts anhaben kann, überquert den Fluss Sitimos (solche rätselhaften Namen geraten allmählich in Vergessenheit), und wer ihn sähe, würde meinen, dass er den Alto Alentejo hinter sich lasse und auf direktem Weg in den Süden sei. Doch fährt er nur einen Umweg. Nachdem er in Torrão in der Pfarrkirche die Azulejo-Paneele angesehen und sich bei der Person bedankt hat, die, um ihm die Tür aufzuschließen, ihr Mittagessen unterbrochen hat, begibt er sich wieder Richtung Norden, nach Alcáçovas, einem Ort, der hier genannt wird, weil er das Geheimnis entdeckt hat, wie Kunstschätze zu schützen sind, zumindest die in der Kirche, und das ist schon eine ganze Menge. Genau genommen ist es das Ei des Kolumbus: die Kirche neben den Polizeiposten setzen (wenn es nicht umgekehrt war), den Schlüssel dem diensthabenden Beamten in Obhut geben, und wer die Kirchenschätze von Alcáçovas sehen möchte, muss seinen Personalausweis hinterlegen, dann geht ein Polizist mit dem Besucher mit und entriegelt die Tür. Wer mit bösen Absichten kommt, dem werden bei dieser Zeremonie sicherlich die Nerven versagen.

Der Reisende hatte schon zuvor die Barockfassade sehr bewundert. Im Innern ist es eine geräumige, luftige Salon-Kirche mit hohen dorischen Säulen und einer weiten Kassettenkuppel, mit Emblemen bemalt. Rechter Hand vom Eingang liegt eine ganz mit Azulejos ausgekleidete Kapelle, darin eine strenge Jungfrau Maria mit starrer Stola, deren Anblick den Reisenden verunsichert, bis ihm der Verdacht kommt, dass es sich um eine moderne Imitation handelt – trotzdem ist die Wirkung großartig. Ganz anderer Herkunft und makellos ist die aus dem 15. Jahrhundert stammende Grabkapelle des Henriques de Transtâmara. Der Reisende verweilt länger, als die Schönheit des Raums rechtfertigt, doch mag er nicht das Ehrgefühl der schlüsselverwahrenden Instanz kränken. Schließlich holt er seinen Personalausweis wieder ab und fährt weiter nach Santiago do Escoural, wo er sich unbedingt die Höhlen ansehen will. Die Straße führt direkt daran vorbei, doch weder diese Tatsache noch die bestellten Felder ringsum beeinträchtigen die Ursprünglichkeit des Ortes. Die Höhlen, die man besichtigen kann, sind niedrig und schwierig zu begehen. Der Fremdenführer weist auf Spuren von Malereien hin, auf Knochenfragmente hier und da in den Wänden, und man merkt ihm an, dass er seine Arbeit liebt. Er muss dieselben Worte ständig wiederholen, doch da die Besucher wechseln, sagt er sie im Ton einer ganz frischen Neuigkeit, so als hätten er und in diesem Fall der heutige Besucher soeben die Höhlen entdeckt. Es heißt, hier hätten vor 17 000 Jahren Männer und Frauen gelebt, dann wurden die Höhlen zu einer heiligen Stätte und später zu einem Friedhof. Die Reihenfolge hat ihre unbestreitbare Logik.

In Montemor-o-Novo besichtigt der Reisende als Erstes die Burg, die von weitem, von Osten her, wie eine solide, intakte Anlage aussieht. Doch hinter den Mauern und den östlichen Wehrtürmen gibt es nur noch Ruinen. Und der Zugang dorthin ist alles andere als einfach. Der Reisende muss allerhand Mühen auf sich nehmen, um das maurische Schlachthaus mit seiner eleganten Kuppel aus der Nähe zu sehen. Alles verkommt. Steine haben sich mit der Zeit gelöst und sind herausgefallen, auch haben Leute für ihre eigenen Bauvorhaben Steine herausgerissen und mitgenommen. Von der ehemaligen Kirche Santa Maria do Bispo steht noch das manuelinische Portal, davor ein Drahtgitter wie für einen Hühnerstall, vom Palast der Alkalden zerlöcherte Türme und Giebel, die Kirche São João ist abbruchreif. Auf dieser Reise hat es an desolaten Anblicken nicht gefehlt – dieser übertrifft alles. Als Entschädigung will der Reisende die Kirche des Convento da Saudação besichtigen, doch verwehrt man ihm den Zutritt. Nichts zu machen. Also geht er ins Kloster Convento de Santo António und tröstet sich mit den wunderbaren polychromen Azulejos, mit denen die Kirche von oben bis unten ausgekleidet ist. Die ehemaligen Zellen hat man zu einem Stierkampfmuseum umfunktioniert. Jedem nach seinem Geschmack. Nach dem Geschmack des Reisenden ist die Wallfahrtsstätte Nossa Senhora da Visitação, in ländlicher Interpretation des Manuelinisch-Mudéjar-Stils erbaut, wobei kleine zylindrische Türme und große, weißgekalkte Flächen entstanden sind. Die Fassade stammt aus dem 18. Jahrhundert, kann allerdings nicht alle Spuren des Originals überdecken. Im Innern erfreut sich das Auge an üppig verzierten Azulejos und Gewölberippen. Am Eingang steht eine große Holztruhe für den Weizen, der für die Kosten des Gottesdienstes gespendet wird. Der Reisende wirft einen Blick hinein: tief unten ein paar spärliche Handvoll Körner, entweder zur Ermunterung gedacht oder die Reste der Kollekte.

Auf dem Weg nach Arraiolos, Stadt der Teppiche und des Herrenhauses Sempre Noiva, schwankt der Reisende, ob er nicht einen Abstecher nach Gafanhoeira machen soll. Dort lebt ein Mann, der zehnzeilige Spott- und Groteskengedichte aufsagt, einmal Straßenwärter war und auf den wunderbaren Namen Bernardino Barco Recharto hört. Der Reisende macht keinen Abstecher, die Zeit ist knapp, aber er ahnt, dass er es in einer Stunde bereuen wird. Dann ist es zu spät. Er nimmt sich vor, künftig stärker seinen Impulsen nachzugeben, wenn die Vernunft wohlwollend ist und ihnen nicht unabweisbare Gründe entgegenhält.

In Arraiolos wundert sich der Reisende. Zwar weiß er, dass die Alentejanos nicht ohne weiteres lachen, doch zwischen dem mit den ersten Schritten auf eigenen Beinen erlernten Ernst und diesen verschlossenen Gesichtern besteht ein himmelweiter Unterschied. Das Böse in der Welt muss ungeheuer groß sein. Der Reisende hält an einem kleinen Platz, um sich zu orientieren, er fragt nach Sempre Noiva und dem Convento dos Lóios. Ein ausgemergelter, runzliger alter Mann, dessen schlaffe Augenlider die rosige Seite mit der Schleimhaut sehen lassen, erklärt. Und während sie da so stehen, der Alte redend, der Reisende lauschend, kommen drei uniformierte und bewaffnete Männer vorbei. Der Alte verstummt abrupt, auf dem Platz sind nur noch die Schritte der Polizisten zu hören, und erst als diese um die Ecke gebogen sind, spricht er weiter. Aber nun ist seine Stimme zitterig und etwas heiser. Dem Reisenden ist unwohl, weil er nach einem Mönchskloster und einem Herrenhaus sucht, will sich schon entschuldigen, aber dann lächelt der Alte doch noch und sagt: »Hier kommen viele Leute her, die Sempre Noiva sehen wollen. Sind Sie aus Lissabon?« Der Reisende weiß mitunter nicht so genau, woher er ist, deshalb antwortet er: »Ich bin mal hier, mal dort gewesen.« Worauf der Alte sagt: »Wie es uns allen so geht.« Dann zieht er sich in den Schatten seines Hauses zurück.

Das Herrenhaus Sempre Noiva auf dem Weg nach Évora hat einen wunderschönen Namen: »Auf immer Braut«. Es wäre ein herrliches Gebäude, wäre es nicht so überfrachtet mit Beiwerk und Anbauten. Dennoch besitzt das um 1500 erbaute Haus in seinem Mittelkorpus die Proportionen, die sich bei Beachtung des goldenen Schnitts ergeben, denn diese Bezeichnung verdienen jene, die derart Gestalt annehmen. Wieder beklagt der Reisende, dass die gegenseitige Befruchtung des christlichen und des maurischen Geistes sich nicht hat fortsetzen können. Kraft und Anmut zusammenzufügen und Leben einzuhauchen wäre ein Akt der Intelligenz und Sensibilität gewesen. Einfacher war es, Köpfe abzuschlagen, die einen mit dem Schrei: »Santiago, auf die Mauren!«, und die anderen: »Im Namen von Allah!« Worüber Allah und Jehova sich im Himmel unterhalten, das wissen wir nicht.

Um zum Convento dos Lóios zu kommen, fährt man hinunter nach Vale de Flores. Das Kloster ist ein mächtiges Gebäude mit einem riesigen Glockenturm. Die Kirche, die man unter einem Vordach betritt, ist sowohl an der Front als auch an der sichtbaren Seite durch enorm hohe Widerlager verstärkt, wobei die an der Front ein wenig niedriger sind. Das erzeugt den Effekt einer plastischen Bewegung, die den Blickwinkel des Betrachters und folglich auch seine Sichtweise verändert. Im Großen und Ganzen ist der Stil manuelinisch-mudéjar, doch die inzwischen verschwundenen Azulejos hatte um 1700 der Spanier Gabriel de Barco gemalt. Wie bereits bewiesen, neigt der Reisende zu Phantasien. Nachdem er weiß – weil Fachleute das sagen –, dass Arraiolos 300 Jahre vor Christi Geburt von Gallo-Kelten oder aber etwas später von Sabinern, Albalongern und Tuskulanern gegründet wurde, sei ihm die Vermutung gestattet, dass der Versdichter aus Gafanhoeira ein Nachkomme dieses Azulejo-Malers ist, beide Künstler, beide mit dem Familiennamen Barco. Man hat schon aus weit weniger Material Stammbäume konstruiert. Nicht nur einen solchen Baum, sondern einen ganzen Wald entdeckt der Reisende in Pavia, einem Dorf an der Straße nach Avis, südlich des Flusses Tera. Hier lebte einst eine italienische Kolonie, deren Oberhaupt ein gewisser Roberto de Pavia war, der als sein Erbe einen Namen hinterließ, den er sich wiederum nach dem Ort zugelegt hatte, aus dem er stammte. So wird die Welt geformt. Der Reisende hat auf seiner Reise viel gelernt. Etwas so Einfaches: Da bricht vor siebenhundert Jahren ein Mann aus einer italienischen Stadt auf, kommt hier an und sagt: »Ich bin Roberto, aus Pavia«, und aus irgendeinem Grund, vielleicht weil den Leuten der Name gefiel, nahm das Dorf den Namen an und hat ihn bis heute behalten. Anhand dieses Beispiels versteht man sofort, warum der Zeichner Manuel Ribeiro, als er zum Zeichnen und Hungerleiden nach Lissabon kam, sagte: »Ich bin Manuel Ribeiro de Pavia«, und dabei blieb es dann; ob mit oder ohne Komma, darüber sollen sich die Aussprache-Pedanten streiten.

Manchmal suchen Reisende in Einöden oder Berglandschaften nach so erinnerungsträchtigen Steingebilden wie Hünengräbern oder Dolmen. Dieser Reisende hat, wie seinerzeit berichtet, auf der Fahrt durch den Norden erst nach vielen Mühen einen gefunden, doch hier in Pavia steht mitten im Dorf ein enorm hoher Dolmen, aus dem die Menschen im Laufe der Jahrhunderte eine Kapelle gemacht haben. Sie ist dem heiligen Dinis geweiht, einem nicht sonderlich häufig verehrten Heiligen, was den Reisenden auf den Gedanken bringt, dass die Menschen ihm dieses heidnische Gebilde geweiht haben, weil sie nicht wussten, auf welchen Altar sonst sie ihn hätten setzen sollen. Die Tür zur Kapelle ist geschlossen, im Innern ist nichts zu erkennen. Der zwischen den großen Steinblöcken eingesperrte heilige Dinis dürfte sich fragen, was er getan hat, dass er in einer solchen Finsternis sitzen muss, er, dem die Römer den Kopf abgeschlagen haben und der deshalb zumindest als Standbild ständig das Licht der Sonne vor Augen haben sollte. Von der schattigen Seite des Platzes her beobachten alte Männer den Reisenden – vermutlich können sie kaum verstehen, was an sieben grauen Steinplatten, die dort schon standen, als sie geboren wurden, so interessant sein kann. Hätte der Reisende Zeit, würde er es ihnen erklären und dafür andere Geschichten zu hören bekommen, in denen es vielleicht keine abgeschlagenen Köpfe, aber sicherlich keinen Mangel an gefesselten Händen gäbe.

Dann geht der Reisende sich vergewissern, ob die Pfarrkirche von Pavia tatsächlich so einzigartig ist, wie man ihm gesagt hat. Einzigartig ist sie ganz fraglos und auf den ersten Blick auch unzugänglich. An der höchsten Stelle im Ort erbaut, wirkt sie, vor allem an ihrer Südseite, weit eher wie eine Festung als ein Gotteshaus. Solche Charakteristika sind nicht selten, aber nur selten sind sie so sehr auf die Spitze getrieben wie hier, wo kein einziges Bauelement daran erinnert, dass dies ein Ort zum Beten ist. Die Außenwand krönen maurische Sattelzinnen, und fünf Türme auf kegelschnittförmigem Rumpf, die in perfekten Kegeln enden, verstärken in regelmäßigen Abständen massiv das Mauerwerk. An der Frontseite gibt sich die Kirche offen als Kirche zu erkennen, nur dass die Tür geschlossen ist. Während der Reisende nun dasteht und überlegt, ob er sich auf die Suche nach dem Schlüssel machen soll (eigentlich ist er nicht in der Stimmung für dieses nicht immer einfache Unterfangen), fängt die Kirchenglocke an zu läuten, in einem bestimmten Rhythmus, der etwas bedeuten muss. Gleich darauf ein lautes Quietschen von Schlössern und Riegeln, und die Tür geht langsam auf. Das hat der Reisende noch nie erlebt, und er hat nicht einmal sagen müssen: »Sesam, öffne dich.«

Die Sache hat eine einfache Erklärung: Es ist halb sechs Uhr nachmittags, vielleicht die Stunde der Messe, und das zweifelnde Adverb benutzt der Reisende deshalb, weil während der gesamten Zeit, die er in der Kirche verbringt, kein Mensch in die Nähe, geschweige denn hereinkommt. Auf einer Bank sitzt der Priester, der die Glocke geläutet und die Tür geöffnet hat, und meditiert oder betet. Der Reisende murmelt in entschuldigendem Ton ein »Guten Tag« und sieht sich um. Die Kirche von Pavia ist sehr schön, mit achteckigen Granitpfeilern, deren Kapitelle menschliche Gestalten und Blattwerk zieren. Das Altarbild in der Hauptkapelle zeigt die Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus – bei einem Blick durch die offene Tür sieht der Reisende keinen weiteren Paulus herankommen. Die steingepflasterte Straße gegenüber ist menschenleer. Die Sonne brennt auf Pavia. Der Reisende wendet sich wieder dem Altarbild zu und stellt fest, dass darauf außer einem Bischof und dem heiligen Antonius auch der heilige Jakobus dargestellt ist und wild auf Mauren eindrischt. Man muss sich das vor Augen halten: Maurisch ist die Architektur dieser Kirche, aber den Mauren wird es damit vergolten, dass der heilige Jakobus gegen sie vorgeht. Ein ungleicher Kampf, denn der Heilige siegt immer. Der Reisende wünscht wieder einen guten Tag. Der Priester hört es nicht. Als der Reisende erneut über den Platz geht, auf dem die Kapelle des heiligen Dinis steht, begegnen ihm zwei bewaffnete Polizisten.

Die Straße führt nach Mora, doch so weit fährt der Reisende nicht. Der Nachmittag geht zur Neige, und zwar sind die Tage lang, doch möchte der Reisende den »Adlerturm« Torre das Águias in der Nähe des Dorfes Brotas in aller Ruhe besichtigen. Die Straße verläuft über sanft gewellte Hügel, die dennoch nicht vergessen lassen, dass die Gegend hier kaum mehr als hundert Meter über dem Meeresspiegel liegt. Nur selten eine kleine Siedlung.

Brotas taucht an einem Hang auf, es zieht sich in schmalen Gassen mit weißen Häusern hinauf. Die Landstraße muss sich zwischen schiefen Ecken und den sich in gebrochener Linie reihenden Fassaden hindurchwinden. Hier gibt es eine Wallfahrtsstätte, in einem Stil erbaut, der ebenso viel an Gotik beibehalten wie vom Barock genutzt hat, eine volkstümliche Lektion, erlernt von einem Baumeister, der sich nicht viel um strenge Genauigkeit gekümmert haben dürfte.

Glaubt man den Informationen, ist Torre das Águias einfach zu erreichen. Der Reisende hat schon Schlimmeres erlebt, doch dieser Weg, der auf und ab führt, quer über Gräben oder von ihnen gequert, ist fraglos für Traktoren besser geeignet als für Stadtautos. Endlich, nachdem drei Abzweigungen, zwei Bäche und etliche lose Steine überwunden sind, geben die Bäume den Blick frei, fällt der Hang des letzten Hügels ab, und wie eine Erscheinung aus einer anderen Epoche taucht Torre das Águias auf. Schon so manches Mal ist der Reisende von solchen zivilen Bauwerken aus dem 16. Jahrhundert überrascht worden, doch nie so wie hier. Giela sieht man von der Hauptstraße aus, Lama fast ebenso, und Carvalhal bietet sich nach einer Kurve vollkommen dar. Nicht so Torre das Águias. Hier im Verborgenen steht noch mächtiger als bei den anderen die massive Steinmasse, gekrönt von konischen Türmen. Öffnungen wie Fenster und Schießscharten besitzt das Bauwerk kaum. Auf einer Wand reihen sie sich in einer einzigen vertikalen Linie mit großen blinden Mauerflächen rechts und links davon. Aber vielleicht ist der imposante Eindruck, den dieser Turm vermittelt, durch seinen bei solchen Bauwerken ungewöhnlichen pyramidenförmigen Grundriss bedingt.

Er gehörte den Grafen von Atalaia. Es ist nicht bekannt, wer der Baumeister war, welcher Geistesblitz ihn veranlasste, obenauf die konischen, praktisch nutzlosen, da massiven Türme zu setzen; auch weiß man nicht, ob die Bezeichnung ihre Berechtigung darin hat, dass früher Adler diesen Ort aufsuchten. Wohl aber weiß man, weil es ins Auge fällt, dass der Turm gar nicht anders heißen könnte. Dieses wunderbare und so schlichte Bauwerk braucht nicht auf einem hohen Gipfel zu stehen, es muss nicht von Wolken gestreift werden, jeder kleine Vogel kann es mit einem Flügelschlag erreichen, und damit ist es, niedriger als der nächste Hügel, ein Adlerhorst. Der Reisende war erst vor wenigen Tagen in der Serra de Sintra – wie armselig und bedeutungslos ist der Palácio da Pena, so hoch gelegen, neben diesem unbearbeiteten, nackten Gestein. Der Reisende schließt diese neue Liebe in sein Herz. Und als er sich endlich auf den Weg macht, beschäftigt ihn ein Gedanke: Er wird sich etwas Wichtiges in seinem Leben entgehen lassen, wenn er nicht noch einmal hierher zurückkehrt.

Die Sonne will untergehen, sehr bald schon. Der Reisende fährt ihr entgegen. Er kommt durch Ciborro. Zu seiner Rechten erhebt sich über der Ebene Guarita de Godeal. Der Reisende fährt in das Dorf Lavre, klopft an eine Tür. Hier wohnen Freunde. Hier wird er übernachten.

Die Portugiesische Reise
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