So nah und doch sofern
Gegenüber von Santarém liegt Almeirim. Residenz im 15. und 16. Jahrhundert, bevorzugter Altar für königliche Hochzeiten – auch der einfältigste Reisende würde erwarten, hier auf zahlreiche Reste der gloriosen Vergangenheit zu treffen. Nicht ein Stein. Die Stadt wirkt, als sei sie gestern entstanden, als habe sie keine Geschichte, abgesehen von der anonymen Geschichte der Arbeit, aber das gilt allgemein. Der Reisende, der alles zu seiner Zeit und an seinem Ort betrachtet, findet in Almeirim nicht die Spur von Kunst, die sein Interesse wecken könnte, abgesehen vom Palast des Marquis von Alorna, doch auch dieser spricht ihn nicht an.
Der Weg ist einfach, immer einem Wasserlauf folgend, dem Tejo, dem Bach Alpiarça, dem schmalen Muge und weiter südlich, kurz vor Benavente, dem größeren Rio Sorraia. In Salvaterra de Magos besichtigt der Reisende die Kapelle des königlichen Palasts Paço Real, ein eigenwilliges Bauwerk, das mit seiner Raumaufteilung im Gegensatz zu den traditionellen Proportionen steht. Am sehenswertesten ist hier die Pietà aus dem 16. Jahrhundert, ein steif über dem Schoß der Jungfrau Maria liegender Christus, nur seine Arme hängen schlaff, als Ganzes erinnert die Arbeit an die Pietà von Belmonte, stellt sie aber nicht in den Schatten. Diese Skulptur ist aus Holz, wirkt aber, abgesehen von Marias gebeugtem Körper, als hätte der Künstler die minimalen Probleme an Plastizität, vor die das Material ihn stellte, nicht zu lösen vermocht. Der ältere Bildhauer von Belmonte hatte es mit Granit zu tun, und er hat in der einfachen Form einen dramatischen Ausdruck gefunden, den die schlichte Bemalung respektiert, wohingegen in Salvaterra de Magos die Farbe eine Stimmung auszudrücken versucht, die der Skulptur abgeht.
An großen und kleinen Brücken war der Tag reich. Da ist die von Vila Franca de Xira, zwar schief in Entwurf und Stützen, doch nützlich. Fast hätte man ihr am Tag der Einweihung den Garaus gemacht, falls die Geschichte stimmt, die man dem Reisenden damals erzählt hat. Sie lässt sich in wenigen Worten wiedergeben: Zu Ehren des einweihenden und das Band durchschneidenden Staatspräsidenten wurden auf der Brücke bäuerliche Reiter verteilt; auf ein bestimmtes Signal hin ließen diese ihre Pferde piaffieren, was die Pferde in solch regelmäßigem Rhythmus taten, dass die gesamte Struktur zu schwingen begann und die Anwesenden in Schrecken versetzte. Und da man Pferden nicht erklären kann, wie man den Rhythmus wechselt, mussten alle anhalten, damit die Brücke sich beruhigen konnte und die Ingenieure auch. Der Präsident weihte ein, ging hinüber, und die Brücke stürzte nicht ein. Verärgert über die mangelnde Voraussicht schüttelten die Pferde die Ohren.
Die Gegend, durch die der Reisende nun kommt, ist dicht besiedelt, die Dörfer liegen fast Tür an Tür, sie können einander von Traufe zu Traufe beobachten. Hier beginnt das Unbekannte. Was natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist, denn die Hauptstadt ist nicht weit, doch wie anders soll man eine Gegend beschreiben, die kaum besucht wird, gerade weil es nur eine kurze Reise ist? So wird, was nah ist, fern, und was im Blickfeld liegt, verbirgt sich. Die Lissabonner Reisenden, die sich auf der Suche nach dem Glück voller Eile in Strömen auf Landstraßen, Schnellstraßen und Autobahnen ergießen, fragt dieser, der keine Eile hat, warum sie es nicht hier suchen (das Glück, das Reisen schenken, kein anderes), in Orten mit Namen wie Arruda dos Vinhos, São Quintino, Sobral de Monte Agraço, Dois Portos, Torres Vedras, um nur jene zu nennen, die er besucht hat.
Und noch anrührender als die Dörfer ist die ruhige Schönheit der Landschaft, eine agrarische Landschaft, viel Wein, Obstplantagen, Gemüseanbau, das Gelände ständig gewellt, so regelmäßig, dass alles Hügel und gleich wieder Tal ist. Die Landschaft ist weiblich, weich wie ein liegender Körper, und lau an diesem Apriltag, auf den Böschungen blühen Blumen, fruchtbare Erde, die Rebstöcke treiben schon aus, schnurgerade gepflanzt, eine seltene Geometrie in unserem so inkonsequenten Land. Es gibt keine Handbreit Erdboden, in den sich nicht die Hacke gegraben hätte, seit der erste Mustafa sich hier unter dem Schutz der Soldaten des Propheten niederließ und später seine Nachkommen, inzwischen mit geänderten Namen und neuem Glauben, unter neuen Herren, doch immer auf der Hut. Der Reisende fährt durch einen Garten, der nicht nach Rosen zu duften braucht.
In Arruda dos Vinhos findet er an einer Kirche, die mit ihrer glatten Fassade nicht ins Auge fällt, ein schönes manuelinisches Portal, bemerkenswert ausgewogen, nur gerade in dem Maße verziert, dass der Schmuck sich der Struktur harmonisch anpasst. Der Reisende fragt sich, warum er so überrascht ist, und kommt zu dem Schluss, dass er, nachdem er in eine topographisch und landschaftlich so ganz andere Welt gekommen ist, unbewusst auch eine andere Architektur erwartet hat. Das sind Geheimnisse des Denkens, die hier aber nicht geklärt werden müssen. Im Innern ist die Kirche harmonisch mit ihren am Schaft geringelten Säulen und sehr schönen Azulejos mit Szenen aus dem Leben der Heiligen.
Auf den Hügeln oder auch an ihrem windgeschützten Fuß stehen zahlreiche Bauernhäuser, teils zum Wohnen, teils für die Arbeit genutzt. Es sind palastgroße Gebäude von schlichter Bauart, doch so gut in die Landschaft integriert, dass jedweder Neubau im heutigen aberwitzigen Stil wie eine brutale Aggression sowohl gegen seine Umgebung als auch gegen den Betrachter wirkt, dessen Blick anderen Einklang gewohnt ist. Viele dieser Häuser sehen vernachlässigt aus – die Besitzer leben nicht hier, manche bewohnen nur einen Teil des Hauses, oder neue Eigentümer kümmern sich nicht um die Instandhaltung. Der Unterhalt solcher Häuser kostet heute ein Vermögen, wer weiß, ob die Landwirtschaft dafür genug abwirft. Wie dem auch sei, wer das Land bearbeitet, kann nicht weit wegziehen – die großen Häuser sind wie Landmarken, Bezugspunkte einer Reise, die immer wieder zu derselben Scholle und denselben Arbeiten führt, pflügen, säen, pflanzen, düngen, jäten, ernten, derselbe Anfang und dasselbe Ende, der wahre immerwährende Kreislauf, den niemand zu erfinden brauchte, denn er ergibt sich aus der Notwendigkeit.
Nach São Quintino führt ein Weg, der sich zunächst in der Senke einer Kurve der Hauptstraße verbirgt und sich dann gabelt, was bedeutet, dass der Reisende entweder, wenn er sich richtig entscheidet, finden wird, was er sucht, oder, falls er verkehrt fährt, immer noch die Gewissheit hat, etwas anderes zu finden. Es ist ja keine Tour im Hochgebirge, wo man sich verirren könnte – hier ist alles nah, doch die Hügelkette mit ihren immer neuen Scheitelpunkten und Talsohlen gaukelt eine falsche Perspektive vor, bewirkt ein neues Entfernungsempfinden, man meint, man brauche nur die Hand auszustrecken und könne die Kirche von São Quintino schon fast berühren, da verschwindet sie plötzlich, spielt Verstecken, wir sind nur zwanzig Meter von ihr entfernt und können sie nicht sehen.
Es wäre ein Jammer gewesen. Die Kirche von São Quintino verdiente eine direkte Busverbindung, einen kenntnisreichen Fremdenführer, der über Azulejos genauso gut sprechen kann wie über Architektur, über den manuelinischen Stil wie über Renaissance, über die Außenansicht wie über das harmonische Innere. Denn diese Kirche am Hang eines Hügels mit Blick über den weiten Horizont ist ein fast unbekanntes Juwel. Und um noch einmal auf den Führer zurückzukommen, ihm zur Seite sollte, als unverzichtbarer Teil der Information, die Frau gestellt werden, die der Reisende in einem Gemüsegarten in der Nähe ausfindig machte und die ihm bei der Besichtigung Gesellschaft leistete. Diese Frau wäre die Stimme der aufrichtigen Liebe zu den Dingen, jene, die nichts von Gelehrsamkeit weiß, wie sie so oft als bloßes Etikett dem wahren Antlitz der Schönheit aufgedrückt wird, sondern bei der in jedem gesprochenen Wort fast schmerzliche Rührung mitschwingt, jenes Empfinden, das Menschen mit der scheinbaren Starre und Gefühllosigkeit lebloser, bearbeiteter Gegenstände verbindet. Diese Frau gibt gelegentlich Wörter wieder, die sie beim Besuch von gebildeteren Leuten aufgeschnappt hat – als Echo fremder Stimmen erhalten sie aus ihrem Mund eine neue Bedeutung, Keimlinge eines vielleicht exakten Wissens in der ungeformten menschlichen Scholle, die bereit ist, jede Kultur aufzunehmen.
Das Portal stammt aus dem Jahr 1530, wie die Inschrift auf einem Pilaster besagt. In ihm finden sich manuelinische und Renaissance-Elemente vereinigt, was jeder sofort feststellen kann, der nur minimale Kenntnisse von beiden hat. Der Reisende besitzt vermutlich kaum mehr als dieses Grundwissen, hat sich aber zur guten Gewohnheit gemacht, über die Dinge nachzudenken, und in diesem Fall sagt ihm sein Nachdenken, dass sie nicht ganz zu Ende geführt worden ist, die geplante Symbiose zwischen einem gänzlich importierten Stil (Renaissance) und dem anderen (manuelinischen), der zwar in Portugal zur Blüte kam, aber ebenfalls seine Wurzeln in der Ferne hatte, in noch größerer Ferne, und seine Nahrung aus einem anderen Kulturboden bezog. Exotisch der eine wie der andere – so wie letztlich auch die Romanik und die Gotik exotisch waren, internationale Stile par excellence –, jedoch aus einer dem künstlerischen Schaffen gegenüber offeneren oder, anders gesagt, weniger vorschreibenden Epoche, gut möglich, dass ihre Weiterentwicklung durch die im 17. Jahrhundert aufkommende ideologische Repression gebremst wurde. Die Verbindung Renaissance/Manuelinischer Stil war ein Schlagen mit den Flügeln, schaffte es aber nie, sich wirklich aufzuschwingen.
Ein Beispiel soll genügen. Wie man weiß, hat die Formensprache der Renaissance bis zum Überdruss die Maske benutzt, das heißt das subtil oder brutal verzerrte menschliche Antlitz, und Pilaster, Simswerk, Bogenfelder, alles an architektonischer Umsetzung, damit zu rein dekorativen Zwecken übersät. Hier in São Quintino, und sicherlich auch andernorts in Portugal, durfte die Maske oder sollte sie vielleicht gar als ein beunruhigendes oder auch einschüchterndes Element auftreten. Die Maske wurde zur Fratze. Ob beabsichtigt oder nicht, solche Einschüchterung erweist sich deutlich in der volkstümlichen Bezeichnung der dreifachen Maske hoch oben an dem linken Pilaster, die auf eine fraglos ungeordnete Landschaft blickt, und in dem Ton, in dem die Bezeichnung ausgesprochen wird: »das Gesicht mit den drei Nasen«. Das Portal von São Quintino präsentiert noch andere phantastische Formen des Renaissance-Vokabulars, doch keine so reich an zusätzlichen Bedeutungen wie diese.
Im Innern folgen weitere angenehme Überraschungen. Der Ring auf halber Schafthöhe der Säulen, wie schon in Arruda dos Vinhos gesehen, findet sich auch hier. Doch am schönsten sind die Azulejos aus dem 18. Jahrhundert, mit denen die Seitenwände in halber Höhe sozusagen zum Schutz ausgekleidet sind, und im Eingang, oberhalb der Wandverkleidung im Diamantspitzenmuster. Obwohl der Reisende schon so viele Azulejos gesehen hat, wird er diesen Eindruck nicht vergessen. Und die Taufkapelle linker Hand vom Eingang ist wahrhaftig ein Ort der Initiation, so intim und abgeschirmt von den Eltern, Paten und Gästen findet die Taufzeremonie statt.
An Bildwerken hat São Quintino nicht viel zu bieten. Neugierig gemacht hat den Reisenden jedoch ein Gemälde in der Sakristei, das zweifellos die Jungfrau Maria und das Jesuskind zeigt, allerdings beide ohne Glorienschein, und das Jesuskind ist nicht wie üblich ein Säugling, hier ist es schon fünf oder sechs Jahre alt und hat ein verkrampftes, unschuldiges Lächeln, das viel älter ist. Der Maler hat die Anatomie nicht sicher genug beherrscht. Der Körper der Jungfrau versinkt in ihrer Bekleidung, der rechte Arm des Jesuskindes ist viel zu kurz, sein Kopf sitzt scheinbar nicht an der richtigen Stelle, doch der ungemein intensive Ausdruck in beider Blick macht die Schwäche des Werkes wett, das im Übrigen auch wegen der Farbe und anderer Aspekte sehr interessant ist. Vermutlich ist das Gemälde nicht sehr wertvoll, doch dem Reisenden hat es gefallen, vielleicht weil es ihm in seiner figürlichen Einfalt rätselhaft schien oder weil seine scheinbare Schlichtheit Fragen aufwirft. Es gibt weit mehr »Gesichter mit drei Nasen«, als man meint.
Der Reisende fährt nach Dois Portos, kann dort aber nicht landen. Die Kirche oben auf dem Hügel ist geschlossen, und nur der Priester hätte die Herausgabe des Schlüssels genehmigen können. Der Reisende verhandelt lange an der Tür des Pfarrhauses, doch es muss wohl einer jener Tage sein, an denen er wie ein Straßenräuber aussieht, denn was er auch an Interesse und Dringlichkeit anführt, auf alles entgegnet die Haushälterin (falls es eine ist, wenn nicht eher eine Verwandte) mit höflicher, aber entschiedener Ablehnung, hinter der sich deutlich die Angst zu verbergen sucht, der Reisende sei tatsächlich der Langfinger, für den sie ihn offensichtlich hält. Der Reisende bedauert, dass er die maurische Decke und den heiligen Petrus aus dem 16. Jahrhundert nicht sehen kann. Wenn sich der Zustand des Kranken, zu dem der Priester angeblich gegangen ist, dank des geistigen Beistands gebessert hat, dann sei die Enttäuschung vergeben. Wenn aber der Kirchenschlüssel die Tür zum Tod nicht verschlossen hat, dann waren alle Verlierer: der Priester, weil er sich vergeblich auf den Weg gemacht, der Kranke, der sein Leben verloren hat, und der Reisende, dem der Kunstgenuss versagt geblieben ist.
Bis Torres Vedras kreuzt die Straße immer wieder den Rio Sizandro und die Eisenbahnlinie, mal als Brücke, mal als Bahnüberführung. Die Landschaft ist unverändert schön und sanft. Torres Vedras liegt am Rand der großen geologischen Verwerfungen dieses Teils der Estremadura. Nach Westen und Nordwesten hin fällt das Gelände ganz allmählich zur Küste hin ab, doch nach Osten und Nordosten erheben sich die Berge, die stufenweise bis zur Serra de Montejunto hinaufführen.
In Torres Vedras sieht sich der Reisende als Erstes den Brunnen Fonte dos Canos an. Er liegt direkt auf dem Weg, ihn zu übergehen wäre unangebracht gewesen. Die Konstrukteure im 14. Jahrhundert müssen große Hochachtung vor dem Wasser gehabt haben, dass sie ihm auf diese Weise huldigten, mit gut geschnittenen, schön geformten Spitzbögen, Kapitellen, die mehr als bloße Strukturelemente sind, und phantasievollen Speiern. Aber an diesem Tag läuft kein Wasser, vielleicht ist der Zulauf versiegt, oder man hat, nachdem er ins städtische Netz eingespeist wurde, nicht daran gedacht, ihn wieder dem uralten Austritt zuzuführen. Der Reisende bedauert das: Ein Brunnen, der nicht fließt, ist trister als eine Ruine.
Ein Stück weiter kommt die Kirche São Pedro, wieder ein Portal mit manuelinischen und Renaissance-Elementen. Eine sehr schöne Steinmetzarbeit, doch São Quintino bleibt verdientermaßen, oder weil der Reisende sie zuerst gesehen hat, lebhafter in Erinnerung. Im Innern gibt es viel zu bewundern: die Ausschmückung der Bögen in dem am weitesten vom Eingang entfernten Feld, die grünweißen Azulejos, andere jüngeren Datums, im Stil Teppich und Diamantspitzen, der Sarkophag aus dem 16. Jahrhundert, dessen Korpus ein manuelinisches Tempelchen umgibt, die blauweißen Azulejo-Paneele in der Kapelle der Senhora da Boa Hora, Schutzpatronin der Gebärenden.
Da der Nachmittag zur Neige geht, möchte der Reisende noch einen letzten Blick auf die Landschaft werfen, durch die er gekommen ist. Er begibt sich zur Burg hinauf, schaut bewundernd, so weit das Auge reicht, und da dort die Kirche Santa Maria do Castelo steht, wäre es ein Fehler, die Gelegenheit nicht zu nutzen. Spuren des ursprünglichen romanischen Bauwerks, vermutlich aus dem 12. Jahrhundert, sind noch zu sehen, und das Innere lohnt einen Besuch. Von unten her, in der schon eintretenden Dämmerung, versucht der Reisende, die Wiederauferstehung im Chor, ein offenbar interessantes Gemälde, näher zu betrachten. In der Kirche hoch oben über dem Städtchen, von der Stadtmauer umschlossen, herrscht Stille, nicht eine Fliege summt, selbst Vögel sind nicht zu hören. Der Reisende bemerkt eine Seitentür, drückt sie auf und tritt in einen kleinen Nebenraum, darin kein einziges Möbelstück oder sonstige Einrichtungsgegenstände. Er geht drei Schritte, sieht sich dabei um und bekommt einen furchtbaren Schreck: Er meint, ein riesiges Gesicht gesehen zu haben, das ihn durch den Spalt einer Tür zu einem anderen Raum beobachtet. Bevor er gefragt wird, gibt er zu: Er hat Angst gehabt. Aber schließlich ist der Reisende ein Mann – wenn schon niemand da ist, der seinen Mut bewundern könnte, muss er ihn sich selbst beweisen.
Also geht er zu der mysteriösen Tür und stößt sie mit einem Ruck auf. Auf dem Ziegelfußboden kniet ein enorm großer Josef aus Pappmaché, die Kleidung zerlumpt, Haar, Bart, Schnurrbart und Augenbrauen weiß und damit ein eigentlich zu alter Mann, doch der Teint sehr jugendlich. Eine Krippenfigur, keine Frage. Der Reisende tritt die zwei Stufen hinunter, da sind die anderen Figuren, ein athletisches Jesuskind in der Krippe, und die Jungfrau Maria modischer, als man sie sich gemeinhin vorstellt, brünett, langes Haar, blauer Lidschatten, Wimpern mit Tusche verlängert, die Augenbrauen gestrichelt, volle, gutgeschnittene Lippen. Das Mädchen, das für diese Maria Modell gestanden hat, wäre beleidigt, wenn sie wüsste, dass sie den Reisenden durch den Türspalt erschreckt hat. Tatsächlich aber war nicht sie es; Josef hatte durch die Tür geschaut. Doch der Reisende fragt sich heute noch, was um Himmels willen er empfunden hätte, wenn er mit einem kurzen Blick diese Schönheit gesehen und sie für leibhaftig gehalten hätte. Bestimmt hätte er in Gedanken gesündigt. Besser, er denkt nicht weiter darüber nach.