»An einem Fluss namens Doiro«
Der Reisende steht am Largo da Sé und sieht sich die Stadt an. Es ist frühmorgens. Von hier aus wollte er entscheiden, wohin er gehen soll. Die Kathedrale ist noch geschlossen, der Bischofspalast scheint unbewohnt. Vom Fluss her kommt eine kalte Brise. Der Reisende bemisst Entfernungen, die zur Verfügung stehende Zeit, beschreibt in Gedanken einen Kreis, dessen Zentrum dieser Platz ist, und denkt sich, damit ist festgelegt, wie viel er von Porto sehen will. Normalerweise legt er sich in dieser Hinsicht keinerlei Beschränkungen auf, und auch diese hier wird er wahrscheinlich bald durchbrechen. Im Grunde akzeptiert er die Prinzipien, nach denen er alles Alte und Pittoreske achtet und das Moderne und Banale missachtet. Auf diese Weise Städte und andere Orte zu bereisen ist eine so konservative Disziplin, wie Museen zu besuchen: erst durch jenen Korridor, einmal durch den Saal, dann vor dieser Vitrine oder jenem Gemälde stehen bleiben, so lange, wie es eventuellen Beobachtern lang und, dem kulturellen Hintergrund des Reisenden entsprechend, beweiskräftig genug erscheinen mag, und dann weiter, Korridor, Saal, Vitrine, Vitrine, Saal, Korridor. In den Vierteln jüngeren Datums lohnt es sich nicht, großartige Fragen zu stellen, und in den sozial schwachen Gebieten ist es weder angenehm noch angebracht, nach Antworten zu suchen. Damit hat der Reisende eine hübsche Rechtfertigung, sich nur für das Schöne und Großartige zu interessieren. So soll es sein, aber unter dem Vorbehalt, nicht zu vergessen, dass auf der Welt auch Hässlichkeit und Elend existieren.
Mit diesen Gedanken im Kopf beschließt er, seinen Rundgang mit den Escadas das Verdades zu beginnen, die hinter dem Bischofspalast in halsbrecherischem Gefälle hinunter zum Fluss führen. Die Stufen sind hoch, man kommt schlecht hinunter und noch schlechter wieder herauf. Welche Motive zu diesem Namen »Treppe der Wahrheiten« geführt haben, ist dem Reisenden nicht bekannt, der er sich doch so sehr für Namen und ihren Ursprung interessiert und sich gerade gestern noch auf dem Weg von Paço de Sousa an den Silben von Dom Troicosendo Galendiz erfreut hat. Hier sind Menschen hinauf- und hinuntergelaufen seit den Zeiten des Grafen Vímara Peres. Der Fluss fließt immer noch in seinem alten Bett, eingeklemmt zwischen den Felsen von Porto auf der einen Seite und denen von Gaia auf der anderen, und der Reisende stellt fest, dass auch diese Stufen zwischen Felsen gezwängt wurden, so wie die Häuser allmählich die Felsen zurückgedrängt beziehungsweise sich zwischen ihnen eingerichtet haben. Neben dem Reisenden rinnt schmutziges Wasser den Berg hinunter, und jetzt, da der Tag beginnt, kommen die Frauen, um ihre Wäsche in den Wassertrögen zu waschen, die vor den Hauseingängen stehen, und die Kinder toben um die Wette. Die Wäschestücke hängen wie Banner von den Häusern, und dem Reisenden kommt es vor, als stiege er die Siegestreppe hinab wie Radamés nach der Schlacht gegen die Äthiopier. Hier unten verläuft die Uferstraße Ribeira. Der Reisende geht unter dem Torbogen der Travessa dos Canastreiros hindurch, der im Sommer wertvollen Schatten spendet, jetzt aber ein eisiger Tunnel ist, und läuft den halben Vormittag durch das Bairro do Barredo, wo er ein für alle Mal lernt, was eine feuchte, klebrige Straße, der Geruch von Müll und dunkle Hauseingänge sind. Er wagt es nicht, jemanden anzusprechen. Über der Schulter hängt die Kamera, die er nicht ein einziges Mal benutzt. Im Rücken spürt er die Blicke derer, die ihn vorbeigehen sehen, oder vielleicht bildet er es sich auch nur ein, und es ist jemand in ihm selbst, der ihn neugierig anschaut. Als die Straßen ein bisschen breiter werden, schaut der Reisende hinauf zu den oberen Stockwerken. Er ist jetzt nicht mehr Radamés, sondern ein Gelehrter, der sich Gedanken über die Größe der Fenster macht, die in dieser Stadt dicht an dicht liegen und die gesamte Fassade der Häuser bedecken. Weiter oben in der Rua Escura, die ganz im Gegensatz zur Bedeutung ihres Namens viel heller wird, als sie in eine Treppe zum Platz vor der Kathedrale übergeht, gibt es einen Wochenmarkt. Gut, dass Früchte und Gemüse es bis hierher geschafft haben, und in diesem Falle auch gut, dass Plastikfabrikanten eine Vorliebe für lebendige Farben haben. Die Rua Escura ist ein Stück Regenbogen, aus allen Fenstern hängt Wäsche zum Trocknen.
Der Reisende hat sich vorgenommen, nicht von Kirche zu Kirche zu pilgern, als hinge sein Seelenheil davon ab. Er will zur Igreja de São Francisco, obwohl er sich regelmäßig u252 über die barocken Schnitzereien beschwert, aber diese Kirche verfolgt ihn, seit er in Portugal ist. In São Francisco ist alles über und über in Gold gearbeitet. Der Reisende ist keine Autorität auf diesem Gebiet, aber er hat einen Blick für diese herrliche Pracht, in der nicht ein Quadratzentimeter nackter Stein mehr zu sehen ist, er ist berauscht von diesem wundervollen Schauspiel, dies ist wohl das beste vergoldete Schnitzwerk im ganzen Land. Er kann sich nicht erinnern, ob jemand anders das schon einmal gesagt hat: Wenn man hier eintritt, gibt es nur eins, man muss sich dem voll und ganz hingeben. Aber der Reisende würde doch gern eines Tages erfahren, was für Mauern sich hinter diesem Prunk verstecken, welch wohlverdienter Stein zu ewiger Blindheit verdammt wurde.
Er dreht seine Runde, stört sich erst am veristischen Sadismus des Altars der heiligen Märtyrer von Marokko und erfreut sich dann an den genealogischen Verzweigungen des Baumes Jesse, einer gekünstelten, theatralischen Skulptur, die an einen Opernchor erinnert. Einer von Christi Vorfahren, eine kleine Palastfigur aus dem 17. Jahrhundert, trug tatsächlich geschlitzte kurze Hosen. Der Reisende, der den schlafenden Patriarchen Jesse betrachtet, sieht natürlich etwas Phallisches in diesem Stamm, der ihm aus dem Körper wächst und schließlich zu Jesus Christus wird, der immerhin ohne den Makel der Fleischlichkeit geboren wurde. Der Reisende steht mitten in der Kirche und hat das Gefühl, unter allem Gold der Welt begraben zu sein. Er braucht frische Luft, und die Frau mit dem Schlüssel zeigt angesichts dieses Anfalls von akuter Klaustrophobie Verständnis und öffnet die Tür. Während der Reisende geht, rollt ein weiterer Kopf der Märtyrer von Marokko. Gleich um die Ecke hinter ein paar Eisengittern befindet sich die Börse. Der Reisende meditiert ein bisschen über die Probleme dieser Welt, deren es so viele gibt, dass es nicht einmal möglich war, die armen Enthaupteten in barer Münze freizukaufen.
Von dort aus geht es weiter Richtung Hauptstraßen, durch schiefe Gassen und über verschlungene Stiegen. Porto ist, um seinen Namen einmal wirklich zu würdigen, zuallererst dieser weite, zum Fluss hin offene Schoß, den man aber nur vom Fluss aus sieht, es sei denn, der Reisende lehnt sich durch die von Mauern eingeschlossenen schmalen Öffnungen ins Freie und gibt sich dem Eindruck hin, Porto bestehe nur noch aus der Ribeira. Der Hang ist ganz und gar mit Häusern bedeckt, die wiederum den Verlauf der Straßen bestimmen, und da der gesamte Boden Granit auf Granit ist, meint der Reisende über Gebirgspfade zu laufen. Aber der Fluss reicht bis hier oben. Die Bevölkerung lebt nicht vom Fischfang, von der Dom-Luis-Brücke bis zur Brücke von Arrábida wird kein einziges Netz ausgeworfen, die Tradition ist jedoch so stark, dass der Reisende in einer vorbeigehenden Frau noch die Fischer als Vorfahren erkennt, und wenn es keine Fischer waren, dann Kalfaterer, Bootsbauer, Segelflicker, Seiler oder, wie weiter oben der Name der Straße besagt, Korbflechter. Die Berufe ändern sich, so wie sich die Zeiten ändern, es genügt das geringste Anzeichen für einen neuen Handelszweig, und schon ist es vorbei mit der Poesie eines Handwerks, der Reisende hat die ausgestorbenen Berufe gerade an den Fingern einer Hand abgezählt. Hier gibt es einen Orthopäden, wie man an der opulenten Frau erkennt, die draußen auf ein Eisenschild gemalt ist, so unschuldig in ihrer Nacktheit, wie es nur unsere Mutter Eva war, bevor sie es mit Senkungen innerer Organe oder Brüchen zu tun bekam.
Der Reisende sieht sich gern in solchen Geschäften um, die häufig so tief in den Raum führen, dass der Kunde, bevor er den Verkaufstresen erreicht, einige Zeit hat, sich zu überlegen, was er denn nun eigentlich kaufen will. Dahinter lassen sich kleine Gärten mit Obstbäumen erahnen, zum Beispiel Mispeln, die hier magnórios heißen. Nicht zu vergessen die Farben, in denen die Häuser gestrichen sind, diese roten oder gelben Ockertöne, das tiefe Kastanienbraun. Porto beweist Stil und Geschick in seiner Farbenwahl, es herrscht ein Einvernehmen zwischen dem Granit und den Erdfarben, die es zulässt, mit Ausnahme des Blau, wenn es sich mit dem Weiß auf den Azulejos vereinigt.
Der Reisende geht in die Kirche des Mosteiro de São Bento da Vitória, dreht seine Runde und geht wieder hinaus. Dieser kalte benediktinische Stil passt nicht zur Stadt. Hier braucht es barocken Granit, wenn man unter Barock Üppigkeit versteht, einen Stein, der so stark bearbeitet ist, dass er eine neue Form von Natürlichkeit annimmt. In Erinnerung behält der Reisende die drei Tonfiguren an der Vorderseite und die Atlasfiguren, die auf ihrem Rücken die Orgel tragen. Den Rest wird er wohl vergessen, und das tut ihm nicht im Geringsten leid.
Das Bergauf und Bergab nimmt kein Ende. Er kommt zum Largo de São João Novo, wo einer der ersten Paläste steht, den Nasoni in der Stadt erbaut hat. Hier befindet sich das Völkerkunde- Museum, das er in seiner Unersättlichkeit besucht, gegen die er weder etwas tun kann noch will. Ein sehr gut ausgestattetes und gut eingerichtetes Museum. Im Erdgeschoss gibt es einen rekonstruierten Weinkeller, dem einzig der Geruch des Mostes fehlt. Im oberen Stockwerk befindet sich neben den Keramiken, den Äxten aus Stein und Bronze, den Gemälden, den volkstümlichen Heiligenbildern, den Zinnfiguren und den Münzen (der Reisende ist sich bewusst, dass er die Epochen und Erzeugnisse völlig hemmungslos durcheinanderwürfelt) die wunderbare Rekonstruktion einer bäuerlichen Küche, der man sich eine gute Stunde lang widmen könnte. Außerdem gibt es im Museum zu sehen: Spielzeug, eine riesige Karnevalsfigur und ein paar Marionetten, von so großartiger Ausdruckskraft, dass der Reisende sie jederzeit gegen die Venus von Milo eingetauscht hätte. Wenn er jetzt ein wenig mehr Zeit hätte, würde er sich noch die Museen für Archäologie und Frühgeschichte ansehen. Ein andermal.
Dann, über weitere Treppen und Straßen, Belomonte und Taipas, landet der Reisende bei den Mártires da Pátria. Dort setzt er sich einen Augenblick hin und ruht sich aus, und als er neue Kräfte gesammelt hat, geht er in die Igreja dos Carmelitas und in die Igreja do Carmo. So dicht, wie die beiden nebeneinanderstehen, nimmt er an, dass es Rivalität und Wetteifer zwischen ihnen geben muss. Von außen betrachtet gewinnt do Carmo. Das untere Geschoss ist nicht weiter von Interesse, aber die beiden anderen Stockwerke besitzen eine harmonische Schönheit, die besonders in den Statuen der vier Evangelisten ganz oben zum Ausdruck kommt. Ohne sie verlöre die Fassade der Kirche do Carmo einen großen Teil ihrer Faszination.
Was den Innenraum der Kirchen betrifft, möge jeder sein eigenes Urteil fällen, der Reisende entscheidet sich für die Carmelitas. Eine Kirche, die für den Glauben tut, was sie kann, während die Carmo ganz offensichtlich zu viel dafür tut. Vielleicht hat all das aber auch mehr mit der augenblicklichen Laune des Reisenden zu tun als mit einer objektiven Sicht der Dinge. Insgesamt war der Besuch in der Igreja do Carmo an diesem Wintertag allerdings ein unvergessliches Erlebnis. Gleich links, tief hinten in einer Kapelle, steht der Senhor do Bom Sucesso unter einer Apotheose von Lichtern, Dutzende von Kerzen, starke Scheinwerfer, unzählige Bilder von Wohltätigkeitsempfängern, alle Formen von Altarkerzen, Köpfe, Hände, Füße, ein einziges gewaltiges Feuer aus weißem, glühendem Licht. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man fällt vor Ehrfurcht auf die Knie, oder man geht woandershin. Der Reisende spürt, dass das hier nicht sein Fall ist, und geht. Auf den Kirchenbänken sitzen sehr, sehr alte Menschen und husten abwechselnd verzweifelt, das feuchte Wetter ist der ideale Nährboden für Katarrhe und Erkältungen, und im Chor kniet auf einer Stufe der Pater und hält den Kopf in dramatischer Haltung gegen eine Ecke des Altars gestützt. So etwas hat der Reisende noch nicht gesehen, Kirchen hat er wahrhaft genug besichtigt, und immer mit dem gebührenden Respekt.
Es ist Mittagszeit, aber der Appetit ist ihm plötzlich vergangen. Der Reisende stochert in einem Stück Stockfisch herum, schlürft einen jungen Rotwein, der zu herb ist, und läuft nach dem Essen die Rua da Cedofeita hinunter bis zur gleichnamigen Kirche. Er geht eigentlich nur aus Pflichtgefühl dorthin. Hier handelt es sich um Ersatzromanik, womit der Reisende sagen will, dass die Restaurationsarbeiten sehr gut gelungen sind. Wie die Kirche von innen aussieht, kann er nicht sagen, da ein hilfsbereiter Nachbar so freundlich war, ihn darüber zu informieren, dass sie nur sonnabends für Hochzeiten geöffnet und an allen anderen Tagen geschlossen ist. Also geht er, aus einem plötzlichen Bedürfnis nach Stille und Schutz, weiter zum Museu Soares dos Reis. Er entflieht der Welt, um sie in ihren besonderen Formen wiederzufinden: der Kunst, der Harmonie und Proportion, des von Generation zu Generation weitergegebenen Erbes.
Der Saal mit der religiösen Kunst im Museu Soares dos Reis ist nicht besonders reichhaltig ausgestattet, aber er bringt den Reisenden auf den Gedanken, ob es vielleicht fortgeschrittene Studien über die Vorstellungswelt volkstümlicher Heiligenbilder gibt. Vielleicht stieße man dabei auf Spuren besonderer Originalität, die der allgemein verkümmerten portugiesischen Bildhauerei neues Leben einhauchen könnten, ohne dass sie in mittelalterlichen oder barocken Historizismus verfiele. Genau diesen Eindruck hat der Reisende, und, der große Bildhauer, der Soares dos Reis war, möge es ihm verzeihen, er überkommt ihn auch jetzt angesichts des Desterrado, dieser hellenistischen Marmorfigur, die zweifelsohne sehr schön ist, aber nicht zu vergleichen mit der expressiven Kraft der Steine aus Ança, zu denen es den Reisenden immer wieder hinzieht. Mit Gemälden ist das Museum reich bestückt: Als das vielleicht wichtigste Werk hier würde der Reisende die Virgem do Leite von Frei Carlos bezeichnen. Aber einen besonderen Platz in seinem Herzen nehmen die Bilder von Henrique Pousão und Marques de Oliveira ein, ohne mit dieser Neigung die ausgezeichneten Werke von Dórdio Gomes, Eduardo Viana und Resende herabsetzen zu wollen. Die Keramikensammlung verdient eine sehr gute Benotung, aber der Reisende erinnert sich noch allzu gut an Viana do Castelo, und deswegen will er hier weder Vergleiche anstellen, noch dem hier Gesehenen Vorrang einräumen. Er beugt sich über die Emailstücke aus Limoges und erkennt sofort, dass es sich dabei um Arbeiten von höchster Qualität handelt, aber mehr auch nicht. Email ist nichts, was den Reisenden umwerfen könnte.
Jetzt macht er sich auf den Weg zur Kathedrale. Unterwegs hält er bei São Pedro dos Clérigos, sieht sich die Kirche von außen an, denkt, wie viel Porto und der Norden doch Nicolò Nasoni verdanken, und findet es ziemlich kleinlich, eine Straße nach ihm zu benennen, die kaum, dass sie anfängt, auch schon wieder endet. Der Reisende weiß, dass Würdigungen dieser Art meist in keinem Verhältnis zum eigentlichen Verdienst stehen, aber Porto ständen sicherlich andere Mittel zu Gesicht, den kapitalen Einfluss hervorzuheben, den der italienische Architekt auf das Erscheinungsbild der Stadt hatte. Es ist nur gerecht, dass Fernão de Magalhães seine Avenida hat. Wer einmal um die Welt gesegelt ist, hat nichts anderes verdient. Aber Nicolò Nasoni entwarf auf dem Papier nicht weniger abenteuerliche Reisen: das Gesicht, in dem eine Stadt sich selbst erkennt.
Wie sah wohl die Kathedrale von Porto in ihrer Anfangszeit aus? Wie eine Burg, geprägt durch Robustheit und militärischen Stolz. Davon künden die riesigen Türme, die bis an die oberen Bereiche der Fensterrosette reichen. Heute haben sich die Augen schon so an diesen Bau gewöhnt, dass das Exzentrische des Rokoko- Portals und die Unvereinbarkeit der Kuppeln und Baluster der Türme gar nicht mehr auffallen. Trotzdem ist es die Galerie von Nasoni, die sich am besten in das Ganze fügt. Dieser Italiener, ausgebildet von Meistern, die eine andere Sprache sprachen und lehrten, kam hierher, hörte, was für eine Sprache hier im Norden Portugals gesprochen wurde, und übertrug sie auf den Stein. Man verzeihe dem Reisenden, dass er darauf beharrt, aber das nicht zu verstehen ist ein schweres Vergehen und Zeichen von wenig Einfühlungsvermögen.
Das Innere der Kirche überrascht durch die Größe der Pilaster und den Schwung der spitz zulaufenden Gewölbe. Ein Gegenstück dazu bildet der glücklicherweise restaurierte Kreuzgang von 1385, der klein und von einer tadellosen Geometrie ist, was die neuen Steine im Bogengang unterstreichen. Auf dem Kreuz in der Mitte ist der Kopf Christi verstümmelt. Das Gesicht ist ganz verschwunden, und auf der glatten Oberfläche versuchen jetzt Flechten, neue Züge zu zeichnen. Neben dem Kreuzgang liegt ein ehemaliger Friedhof. Hier wurden Juden begraben, gleich neben der christlichen Kirche, das verwirrt den Reisenden, und er beschließt, Licht in diese überraschende Nachbarschaft zu bringen.
Als der Reisende die Kathedrale verlässt, erblickt er die Dächer des Viertels Barredo. Er geht den Platz hinunter und versucht, die Straßenzüge zwischen den kaum erkennbaren Fassaden zu erahnen, und als er zurückkehrt, sieht er einen eigentümlichen Brunnen an der Mauer unterhalb des Platzes. Obenauf steht ein Pelikan, der aussieht, als wollte er sich das eigene Fleisch aus der Brust picken. Vom oberen Becken muss das Wasser aus vier Fratzen geflossen sein, die kaum aus dem Stein hervortreten. Das Becken wird von zwei Kinderfiguren gestützt, nur mit halbem Rumpf, die aus einer Art Blumenkrone herauskommen. Der Reisende ist sich dessen nicht sicher, er sagt lediglich, was er sieht oder zu sehen meint, aber unbestreitbar ist der bedrohliche Ausdruck der Frauenfiguren, ebenfalls nur mit halbem Rumpf, die auf Säulen stehen und jeweils eine Urne halten. Das Ganze ist eine Ruine. Als der Reisende Leute in der Nachbarschaft befragt, bekommt er zu hören, dieses sei der Brunnen des Vogels oder Vögelchens, er weiß es nicht mehr so genau. Was ihm niemand erklären kann, ist der Grund für den zornigen Blick, mit dem die beiden Frauen einander mustern, und auch nicht, was sich in den beiden Urnen befindet oder wozu das Wasser diente, das früher hier floss. In der Brust des Pelikans ist eine Öffnung, aus der das Wasser sprudelte. Die drei Kinder des Pelikans, die weiter unten angedeutet sind, leiden an ewigem Durst. So wie jetzt der ganze Brunnen, schmutzig, beschädigt und verwahrlost. Wenn der Reisende eines Tages wieder nach Porto kommen sollte und den Brunnen nicht mehr vorfindet, so würde ihn das sehr bekümmern. Er würde es als ein Verbrechen bezeichnen, das am helllichten Tage begangen und weder von der Kathedrale darüber noch von den Leuten aus dem Barredo darunter verhindert wurde.
Als der Reisende am nächsten Tag aufbrechen will, nachdem er die wunderbare Kirche Santa Clara besucht hat, ein wahrhaftes Juwel, mit einem Portal, das Züge der Renaissance trägt, den barocken Schnitzereien, die den Reisenden erneut mit dieser Epoche versöhnen, und dem geschützten alten Hof, zu dem das ehemalige Tor des Klosters führt – als also der Reisende aufbrechen will, geht er noch einmal zum Pelikanbrunnen, betrachtet die zornigen Frauen, die, im Stein gefangen, einander trotzen, und weiß, dass hier ein Geheimnis schlummert, das ihm niemand erklären wird, und das ist auch der Eindruck, den er von Porto behalten wird, ein tiefes Geheimnis aus dunklen Straßen und erdfarbenen Häusern, faszinierend wie die Lichter, die am Abend an den Hängen angehen, dieser Stadt am Fluss namens Doiro.