Um Haaresbreite Lissabon

Der Reisende ist ein Flusshüpfer. Allein die Strecke bis Vilar Formoso führt ihn über einen Nebenfluss des Noemi, dann über den Cabras, den Pínzio, wieder den Cabras (der nach Norden abgedrängt wird, so wie der Mondego nach Süden abgedrängt wurde), den Gaiteiros, den er fast verfehlte, und den Côa, ganz zu schweigen von Tausenden von kleinen Bächen, die je nach Jahreszeit Wasser führen oder trocken sind. Da wir März haben, führen alle Wasser, und an den Ufern wuchert es, heute sind wieder mehr Wolken am Himmel, aber sie schweben weit oben und sind ganz leicht, es steht nichts zu befürchten.

Die erste Station des Tages ist Castelo Mendo. Von weitem gesehen wirkt der Ort wie eine Festung, umgeben von Mauern, am Ortseingang stehen zwei Türme. Von nahem ist er das immer noch, hinzu kommt die völlige Verlassenheit, die Melancholie einer toten Stadt. Stadt, Städtchen, Dorf. Man weiß nicht recht, wie man einen Ort nennen soll, der von allem etwas hat und das auch bewahrt. Der Reisende dreht eine Runde, sieht sich den alten Gerichtshof an, der restauriert wird, weshalb es nur die dicken Säulen des Vordachs zu sehen gibt, geht in die Kirche hinein und wieder heraus, sieht sich den hohen Pranger an, aber diesmal ist niemand da, den er ansprechen könnte. Vor den Türen sitzen ein paar Alte, doch sie sehen so traurig aus, dass es dem Reisenden peinlich wäre. Er geht weiter, sieht sich die verwahrlosten steinernen Wildschweine an, die das Tor in der Mauer bewachen, und macht sich wieder auf den Weg. Castelo Bom, ein Stück weiter, dem er einen Besuch hatte abstatten wollen, bleibt auf der Strecke. Manchmal kann einem die eigene Klarheit zusetzen: sich selbst von außen zu betrachten und sich zu fragen, was mache ich hier, ich reise durch die Weltgeschichte, und für diese Menschen ist das Leben so schwer.

Zwischen Vilar Formoso und Almeida gibt es nichts zu sehen. Flaches Land, das den sicherlich falschen Eindruck erweckt, es wäre unbewohnt, da unmöglich so weite Landstriche unbewirtschaftet sein können. Aber dieser Teil der Beira scheint völlig ausgestorben, vielleicht weil die Gegend immer wieder überfallen wurde.

Almeida ist eine Festung. Aus der Luft ließe sich die polygonale Form der Festungsanlagen, der Schnitt der Basteien und die Anordnung der Gräben besser erkennen. Trotzdem erhält der Reisende einen guten Eindruck von der Anlage, indem er an der Festungsmauer entlangwandert und ihre Höhe mit dem Auge abschätzt. Diese Bauten stammen aus einer anderen Zeit, in der auch die Kriege anders waren. Man kämpfte dicht am Boden, durch die Luft kamen nur Bomben, die nicht stark genug waren, die Torbögen zu durchbrechen, kurzum, ein Ameisenkrieg. Heute ist Almeida eine historische Reliquie wie eine Hellebarde oder eine Arkebuse. Und der zivile Teil des Städtchens unterstreicht durch seine Stille und Zurückgezogenheit nur noch die überall spürbare Entfremdung.

Der Reisende fährt weiter nach Vermiosa, er will zur Grenze und sehen, wie es dort aussieht. Die Felder sind groß, mit ihrem Grün und Humus farbiger, man sieht sie über weite Strecken. Vermiosa zeigt sich nicht von seiner besten Seite: Die Straßen sind dreckig, es sind kaum Menschen unterwegs, man hat den Eindruck, hinter diesen Türen und Fenstern lebt niemand. Was Vermiosa rettet, ist der betörende Duft einer Mimose, der Atem der Natur. Der Reisende geht hinauf zur Kirche, kein Erwachsener, kein Kind ist da, um Neuigkeiten aus der Welt zu erfahren oder ihr vielleicht etwas mitzuteilen. Allein sieht er sich im Innern des Bauwerks um, auf Bögen errichtet, die aussehen wie die riesigen Rippen eines Wales, dann geht er in die Sakristei, deren ansehnliche Deckenmalereien sich durch ihre achteckige Form auszeichnen.

Aus mangelnder Orientierung fährt er nicht gleich nach Escarigo, was am nächsten gelegen hätte. Stattdessen macht er überflüssigerweise einen großen Bogen über Almofala, wo es nicht viel zu sehen gibt, abgesehen von dem Kreuz kurz vor dem Ort an einem Weg, den früher die Pilger nach Santiago de Compostela nahmen. Dieses Kreuz setzt sich aus mehreren kleineren Kreuzen übereinander zusammen und ist mit einer Kammmuschel, auch Pilgermuschel genannt, und verschiedenen liturgischen Motiven versehen. Außerdem stehen dort, etwas weiter abgelegen, auf einem Hügel, wo der Reisende dann doch nicht mehr hingehen will, die Überreste einer romanischen Kirche, die später umgebaut und von Mönchen bewohnt wurde. Das, wie gesagt, bevor man nach Almofala kommt, kurz vor der Brücke, die über den Fluss Aguiar führt. Später ärgert sich der Reisende darüber, nicht doch den Umweg genommen zu haben. Er, der sonst immer die Hand auf den Stein legen muss, um zu wissen, wie der Stein ist. Augen sehen viel, aber eben nicht alles.

Als er nach Escarigo kommt, muss er um einiges kämpfen. Natürlich nicht, was die Einfahrt in die Stadt betrifft. Barrikaden gibt es jedenfalls keine, und wenn, dann hätten sie auf der anderen, der spanischen Seite stehen müssen. Auch will niemand einen Geleitbrief sehen. Man merkt jedoch, dass man sich auf internationalem Boden befindet. Drei Spanier aus La Bouza sprechen mit Portugiesen in einer Sprache, die weder ihre noch unsere ist, sondern ein Grenzdialekt, der dem Reisenden vorkommt, als wollte man Fremde damit verspotten. Auch gibt es keinen Streit, als er die feierliche, wenn auch nicht gefeierte Frage stellt: »Können Sie mir sagen, wie ich zur Kirche komme?« Manchmal muss man nicht fragen, man sieht sofort den Glockenturm, den Giebel, die Spitze, also alles, was die anderen Gebäude überragt. In Escarigo, wo es Höhen und Tiefen gibt, sollte man sich erkundigen, wenn man keine Zeit verlieren will.

Die Kirche ist zu. Kein Grund zur Panik, das ist nicht das erste Mal. Er klopft an eine Tür, nennt den Grund für sein Kommen, man verweist ihn an ein anderes Haus. Dort reagiert keine Menschenseele. Der Reisende geht zurück zum ersten. Da ist niemand mehr, vielleicht hat er ja nur geträumt. Während er nicht recht weiß, was tun, erscheint das von der Vorsehung gesandte unschuldige Kind, das die Wahrheit nicht verbergen kann. Der Reisende stellt seine Frage und bekommt endlich die Antwort, das heißt nicht gleich, aber dann. Wem das zu kompliziert ist, der höre sich bitte folgenden Dialog an: »Entschuldigung, den Schlüssel zur Kirche, bekomme ich den hier?« »Ja, aber der ist jetzt gerade nicht da«, sagt die Frau, die an die Tür gekommen ist. Der Reisende macht ein Gesicht, als wäre eine Katastrophe ausgebrochen, und bohrt weiter nach: »Wenn nicht hier, wo denn dann? Ich komme von weit her, ich habe so viel von der Kirche von Escarigo gehört, und jetzt soll ich wieder abreisen, ohne sie besichtigt zu haben?« Da sagt die Frau: »Kann ja sein, aber der Schlüssel ist nicht da. Es gibt noch einen, in dem Haus dahinten.« Gehorsam blickt der Reisende in die angezeigte Richtung und sieht in etwa zweihundert Meter Entfernung ein hohes, zweistöckiges Haus. Um dorthin zu gelangen, muss man eine Straße hinuntergehen und eine andere wieder hinauf, aber das soll den Reisenden nicht abschrecken. Und er ist schon auf halbem Wege, als er hinter sich jemanden rufen hört. Es ist die Frau von eben: »Hallo, Sie, kommen Sie her.« Er läuft den ganzen Weg wieder hoch, denkt, er bekommt weitere Informationen, aber stattdessen hält die Frau den Schlüssel in der Hand und kommt ihm entgegen, um ihm die Kirche zu zeigen. Manchmal muss man die Welt nehmen, wie sie ist. Diese Frau hat vom ersten Moment an gewusst, dass sie den Schlüssel hat, leugnet es trotzdem und schickt ihn zweihundert Meter weiter, wo vielleicht ein anderer gewesen wäre, aber auch nur vielleicht, um ihn dann zurückzurufen, als wäre nichts gewesen und als wäre er überhaupt eben erst angekommen: »Haben Sie den Schlüssel für die Kirche?« »Ja, habe ich.« Soll ein Mann diese Frau verstehen.

Sie haben Frieden geschlossen, ohne einander den Grund für ihren Krieg genannt zu haben, und sind jetzt beste Freunde. Der barocke Altaraufsatz in der Kirche ist einer der schönsten, die der Reisende je gesehen hat. Wäre all das im ewig gleichen, vulgären und banalen vergoldeten Stil, verdiente es nicht mehr als einen Blick, für den Laien jedenfalls. Aber die Farbigkeit der Schnitzereien mit ihren Rot-, Blau- und Goldtönen, mit Spuren von Grün und Rosa, ist so harmonisch, dass man sie stundenlang betrachten könnte. Vier Pelikane stützen den Thron, und auf der Tür des Tabernakels ist ein triumphierender Jesus inmitten von Engeln und Voluten abgebildet. Und die knienden, Kerzen tragenden Engel an den Seiten des Altars, mit großen Blumen und Palmwedeln bekleidet, sind bewundernswerte Beispiele volkstümlicher Kunst. Eine der Abbildungen auf dem Retabel zeigt einen fabelhaften heiligen Georg, der ohne Schwert oder Lanze einen schlangenköpfigen Drachen bezwungen hat. Die geschnitzten Säulen eines Seitenaltars, an denen die Farbe fast komplett abgesprungen ist, gehen in zwei wunderschöne Engelsköpfe in Hochrelief über. Auch sehr interessant ist die Decke des Hauptschiffs, aber besonders angetan haben es dem Reisenden die beiden Tafelbilder, die ein weiteres Retabel schmücken und eine Mariä Verkündigung und einen Besuch der Jungfrau bei der heiligen Anna zeigen; die Zeichnungen sind so rein, die Komposition so gelungen, wenn auch naiv, dass er froh ist, die lange Reise auf sich genommen und um diesen Schlüssel gekämpft zu haben, aber lassen wir das, jetzt befindet er sich in angeregtem Gespräch vor einem verstümmelten heiligen Sebastian in der Sakristei, vielleicht dem ersten, von dem der Reisende wirklich ergriffen ist.

Der Reisende geht durchs Dorf und trifft ein Mädchen, dem er einen guten Tag wünscht. Sie grüßt zurück, wie auch eine alte Frau, die bei ihr ist, und schon entspinnt sich zwischen ihnen ein Gespräch über verborgene Schätze. Die alte Frau sagt, dass früher, als man noch Kriege mit den Spaniern führte, die wohlhabenderen Leute von Escarigo ihr Geld in Höhlen irgendwo in den Felsen versteckten und Zeichen dorthin setzten, zum Beispiel malten sie eine Katze auf den Stein. »Aber wenn die Spanier lange hier waren, dann war alles zugewachsen, und wenn die Leute dann ihr Geld suchten, konnten sie die Katze nicht mehr finden. Hier liegen überall Schätze.« Das Mädchen lächelt zweifelnd, sie gehört ja auch zu einer anderen Generation. Aber die Alte redet weiter: »Heute ist das ein kleiner Ort. Aber wissen Sie, Escarigo war mal eine richtige Stadt, die Hauptstadt von diesen ganzen Dörfern hier.« Da mischt sich das Mädchen ein. Sie lächelt noch immer, jetzt aber anders, als koste sie bereits die Wirkung aus, die ihre Worte machen sollen: »Man sagt sogar, Escarigo wäre um Haaresbreite Lissabon geworden.« Der Reisende lächelt und verabschiedet sich, während er über die Bedeutung eines Haares nachdenkt, wie wenig es wiegt, und nur deswegen ist Escarigo Escarigo.

Er fährt noch einmal durch Almofala, sieht ein Mahnmal, das an den Tod eines Grenzbeamten erinnert, bestimmt hatte er etwas mit Schmugglern zu tun, die gibt es in dieser Gegend zuhauf. Es ist nicht mehr weit bis Figueira de Castelo Rodrigo, aber zuerst muss der Reisende zum Convento de Nossa Senhora de Aguiar bzw. zur Kirche, denn die ist alles, was davon noch übrig ist. Sie ist wie alle stark restaurierten Gebäude ziemlich ausdruckslos, was in diesem Falle noch durch die völlige Kahlheit im Innern verstärkt wird. Die gotische Einfachheit gibt nicht viel her, aber in der Sakristei steht eine sehenswerte Nossa Senhora de Aguiar aus Marmor, die noch Spuren von goldener, blauer und roter Farbe erkennen lässt. Die Jungfrau trägt eine Krone und hält in der linken Hand ein zerbrochenes Rad, das der Fremdenführer, in seinen Erklärungen nicht sehr firm, Maschinengewehr nennt, eine Waffe, mit der die Senhora de Aguiar angeblich dabei geholfen habe, die Spanier zu vertreiben, in einer Schlacht, die gewiss nicht die von Aljubarrota gewesen sein kann. Es ist im Übrigen schwer zu glauben, dass eine Dame, deren Gesicht und Gesten so sanft sind, in der Lage ist, tödliche Salven gegen Menschen abzufeuern, deren Ergebenheit gegenüber der Jungfrau Maria niemals hinter der der Portugiesen zurückstand.

In Figueira de Castelo Rodrigo isst der Reisende zu Mittag. Dann besichtigt er die Pfarrkirche, die einen Besuch wert ist wegen der musizierenden Engel auf dem Hauptaltar und vor allem wegen des Bogens, der den Chor stützt, der sich aus s-förmigen Steinen zusammensetzt und als einzigartig im ganzen Land gilt. Es ist tatsächlich das Ei des Kolumbus: Jedes einzelne Element ist so in das nächste eingefügt, dass nur die Schwerkraft den Bogen zusammenhält. Sicherlich liegt dieses Prinzip auch ähnlichen Konstruktionen mit keilförmigen Elementen zugrunde, aber dieser Bogen macht einen sehr viel stabileren Eindruck. Merkwürdig, dass diese Technik nicht weiter verbreitet ist.

Castelo Rodrigo liegt ganz in der Nähe auf einer Anhöhe, aber der Reisende fährt erst einmal nach Escalhão, das an der Straße nach Barca de Alva liegt. Er erwartet ein verlorenes Dörfchen und kommt in ein recht ordentliches Städtchen mit breiten Straßen und hohen Bäumen auf dem Marktplatz. Der Schlüssel zur Pfarrkirche befindet sich beim Prior und wird ihm anstandslos ausgehändigt: kein Vergleich zu den in Escarigo erforderlichen Herkules-Taten. In die Sakristei, wo an der Decke schöne Freskenmalereien zu sehen sein sollen, erhält der Reisende keinen Einlass, aber er hat genug Zeit, sich die Kirche gründlich anzusehen, ein weiträumig geschnittenes Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert, das diverse kostbare Kunstwerke beherbergt. Zum Beispiel eine Gruppe barocker Skulpturen, in der Engelsköpfe ein Piedestal für die Jungfrau Maria und die heilige Anna bilden, die wie in ein Gespräch vertiefte Nachbarinnen dargestellt sind, jede auf ihrem Bänkchen, in dekorative Gewänder gekleidet. Und dann Petrus, dessen betrübtes Gesicht zeigt, wie viel Kummer seine Seele bedrückt, und zu seinen Füßen der Hahn, der kräht wie ein Weltmeister, ein Naturalismus, angesichts dessen sich ein Lächeln kaum verkneifen lässt. Aber das wirklich Großartige in der Kirche von Escalhão sind die beiden flämischen oder zumindest flämisch anmutenden Flachreliefe in tiefen Farbtönen, die den Aufstieg zum Kalvarienberg (auf einer zweiten Ebene wird Jesus ausgepeitscht) und die Grablegung Jesu darstellen. Besonders an Letzterem sind die Falten des Leichentuches bemerkenswert und bei beiden die Komposition der Figuren und der heitere, konzentrierte Gesichtsausdruck. Drei Medaillons an der Seite des Grabes zeigen Gesichter, die beiden äußeren sind bärtig, das in der Mitte stellt eine Frau oder ein Kind dar. Und da der Reisende Rätseln zugetan ist, auch wenn er sie nicht lösen kann, fragt er sich, warum dieses Gesicht halb unter dem Laken versteckt ist, mit dem Jesus ins Grab gelassen wird. Wäre der Körper schon unten, wüssten wir, wie das Gesicht aussieht. Aber dafür sind wir zu früh gekommen.

Der Reisende fährt den Weg zurück und dann nach Castelo Rodrigo. Als er den Berg hinaufkommt, sieht er, fast zum Greifen nah, die Serra da Marofa und die wilde Landschaft drum herum. Castelo Rodrigo erinnert mit seinen zylindrischen Türmen von weitem an die spanische Stadt Ávila, und der Reisende, dem überall, wo für Tourismus in Spanien geworben wird, Fotos und Plakate von Ávila begegnen, wundert sich, dass die hiesige Bürokratie es versäumt, die Mauern dieser Stadt ähnlich bekannt zu machen. Und was noch schlimmer ist, als er in den Ort kommt und durch die melancholischen Straßen läuft: Viele Häuser sind verrottet und verlassen. Das Schicksal der Bergstädte scheint es zu sein, dass sie mit der Zeit an Attraktivität verlieren und die jungen Leute hinunter ins Tal ziehen, wo das Leben leichter ist und man eher Arbeit bekommt, aber dass man einfach so zusieht, wie sie sterben, statt ihnen neue Impulse und Energie zu geben, das ist unbegreiflich. Eines Tages wird das Leben wieder mehr Gleichgewicht haben, doch dann wird es zu spät sein, um alles zu retten, was in der Zwischenzeit verlorengegangen ist.

Zu dieser Tageszeit, an diesem Tag im März, ist Castelo Rodrigo wie ausgestorben. Der Reisende hat kaum mehr als ein halbes Dutzend Menschen gesehen, alle im höheren Alter, Frauen, die vor der Tür Näharbeiten machen, und Männer, die einfach nur vor sich hin starren, als hätten sie gerade entdeckt, dass sie verloren sind. Der eine, der sich des Reisenden annimmt, zieht unter Schmerzen sein Bein nach und sagt immer wieder etwas, das der Reisende nicht versteht. Diese Arbeit ist die einzige, die er noch verrichten kann, und das mehr schlecht als recht. Der Reisende ist auf Reisen, nicht auf der Suche nach düsteren Gedanken, aber sie kommen von allein, sie schweben über Castelo Rodrigo, Trostlosigkeit, unendliche Traurigkeit.

Das hier ist die Igreja do Reclamador, was, anders als man meinen könnte, kein Name eines protestierenden Heiligen ist. Reclamador ist lediglich eine verballhornte Form von Rocamadour, einem französischen Pilgerort, in dessen Abtei oder deren Ruinen sich die Reliquien des heiligen Amadour befinden sollen und wo es auch eine Kirche gibt, in der angeblich das berühmte Durandal, das Schwert des Roland, Paladin und Großvasall Frankreichs, aufbewahrt wird. Das sind alte Geschichten. Der Grundstein der Igreja do Reclamador wurde zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert gelegt, und wenn aus dieser Zeit auch nicht mehr viel übrig ist, so blieb ihr doch die romanische Atmosphäre, die hier sehr lebendig ist, vielleicht mehr noch als in Belmonte. Diese niedrige Kirche, gedrungen wie eine Gruft und genauso mysteriös, hält allem stand, was später hinzugefügt wurde und sie entstellt hat. Und wäre sie auch bar jeder Verzierung und gäbe es nur den heiligen Sebastian aus Kalkstein und den naiven, volkstümlichen Santo Iago aus Holz, die Fahrt nach Castelo Rodrigo würde sich immer noch lohnen. Es ist, als läge ein Fluch über der Stadt. Dort ist das Wappenschild mit den umgedrehten Elementen des königlichen Wappens, zur Strafe, heißt es, weil die Bevölkerung Partei für Dona Beatriz de Castela gegen Dom João I. ergriffen hatte. Und nicht einmal die Tatsache, dass die Nachkommen als Zeichen ihres Patriotismus im Jahr 1640 den Palast von Cristovão de Moura in Brand setzten, konnte den früheren Fehler wiedergutmachen: Das Wappen war umgedreht und sollte es auch bleiben. Castelo Rodrigo muss selbst sein Wappen umdrehen und ums Überleben kämpfen: Das ist der Ratschlag des Reisenden, mehr kann er nicht tun.

Als er aus Marialva kam, war ihm dasselbe passiert. Große Eindrücke veranlassen die Menschen, einen Blick in ihr Inneres zu werfen, und so hat er kein Auge für die Landschaft und was es sonst noch zu sehen gäbe. In Vilar Turpim sieht er sich die gotische Kirche und die Grabkapelle von Dom António de Aguilar an. Was einfacher gewesen wäre, wenn davor nicht die riesige Statue eines Senhor dos Passos gestanden und ihn zu akrobatischen Höchstleistungen gezwungen hätte, um überhaupt einen Blick darauf werfen zu können. Die Bruderschaft hätte auch einen anderen, weniger ungünstigen und dennoch ehrenhaften Platz finden können. Wichtig ist nicht der Dom António darinnen, sondern eine würdevolle Umgebung.

Die Portugiesische Reise
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0004_split_002.html
part0004_split_003.html
part0004_split_004.html
part0004_split_005.html
part0004_split_006.html
part0004_split_007.html
part0004_split_008.html
part0004_split_009.html
part0004_split_010.html
part0004_split_011.html
part0004_split_012.html
part0004_split_013.html
part0004_split_014.html
part0004_split_015.html
part0004_split_016.html
part0004_split_017.html
part0004_split_018.html
part0005_split_000.html
part0005_split_001.html
part0005_split_002.html
part0005_split_003.html
part0005_split_004.html
part0005_split_005.html
part0005_split_006.html
part0005_split_007.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0006_split_003.html
part0006_split_004.html
part0006_split_005.html
part0006_split_006.html
part0006_split_007.html
part0006_split_008.html
part0006_split_009.html
part0006_split_010.html
part0006_split_011.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0008_split_003.html
part0008_split_004.html
part0008_split_005.html
part0008_split_006.html
part0008_split_007.html
part0008_split_008.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html