Hauptmann Bonina

In Torres Vedras wird dem Reisenden zum ersten Mal der Hausschlüssel ausgehändigt, damit hat er sozusagen die Volljährigkeit als Reisender erreicht. Das Hotel schließt um soundso viel Uhr, und was macht der Reisende dann? Klingeln? In die Hände klatschen, um den Nachtportier zu rufen? Nichts dergleichen. Er zieht lediglich den Schlüssel, den man ihm anvertraut hat, aus der Tasche und geht einfach hinein, als wäre es sein Zuhause. Es gibt keinen Nachtwächter, bei dem er sich für die Störung entschuldigen muss, wenn dieser, aus seinem Schlaf der Gerechten gerissen, taumelnd von hinten kommt. Das Prinzip ist gut, es hat dem Reisenden gefallen.

Am nächsten Morgen muss er sich entscheiden, was er noch besichtigen will, die Wahl fällt auf das Convento da Graça und das städtische Museum. Er wird nicht enttäuscht. Das Kloster hat im Eingangsbereich kuriose Azulejos, die vom Leben des São Gonçalo de Lagos berichten, in seinem Todesjahr 1422 Prior des Klosters. Im Innern befindet sich das Grab desselben São Gonçalo, doch dürfte er kein großer Wundertäter gewesen sein, denn nichts weist auf besondere Verehrung oder Dank hin. Diese Heiligen sind dem Reisenden immer sympathisch – sie haben sich auf Erden bemüht, dabei weiß der Himmel welche Schwächen überwunden, waren aber auch nicht mit besonderen Kräften ausgestattet, von Zeit zu Zeit wirkten sie ihr kleines Wunder, damit ihnen ihr Platz erhalten blieb, und das ist es dann. Im Konklave der Heiligen sitzen sie vermutlich in den hintersten Reihen, stimmen ab, wenn es etwas abzustimmen gibt, und sind es zufrieden.

Rechts und links der Hauptkapelle befinden sich zwei imposante weibliche Heilige in prächtiger Kleidung, stolz wie Äbtissinnen. Zwar stehen sie auf einem Ehrenplatz, doch nicht bei den Altären, worüber sich zu wundem der Reisende sich gestattet. Will ein Gläubiger sich an eine von ihnen wenden, kann er das ganz einfach tun und zu ihr sprechen, als unterhielte er sich mit einer Bekannten, die er zufällig getroffen hat, doch dürfte die Feierlichkeit des Gebets und seine Wirkung sicherlich darunter leiden. Großartig sind die Malereien aus dem 16. Jahrhundert in der einen Kapelle und gleichfalls sehr schön die Azulejos in der Kapelle Senhor dos Passos, die das Leiden Christi darstellen. Und wenn wir schon von Azulejos sprechen, seien auch die im Kreuzgang erwähnt, mit Szenen aus dem Leben des Frei Aleixo de Meneses, der es zwar nicht zum Heiligen gebracht hat, aber die Mönche erbaute, wenn sie im Kreuzgang auf und ab gingen. Am Ausgang grüßt der Reisende drei Frauen, die unter dem Vordach mit Besen und Wischtüchern großes Putzen veranstalten, und sie antworten so höflich, dass er mit dem Gefühl davongeht, er wäre dreimal gesegnet worden.

Das Museu Municipal ist nicht üppig, zeigt aber gern, was es besitzt. Und es besitzt ein paar schöne Tafelbilder aus Werkstätten der Region, vom Reisenden mit Worten gelobt, die bei dem jungen Angestellten, der ihm Auskunft gab, auf offene Ohren treffen. Höchst bemerkenswert ist eine vermutlich spanische Holzskulptur des toten Christus. Dieser nahezu lebensgroße und realistisch, wenn auch nicht dramatisiert dargestellte Christus zählt zu den schönsten Stücken seiner Art, und deren sind nicht viele, denn wenn es ein Gebiet der sakralen Kunst gibt, in dem die Banalität Einzug gehalten hat, dann ist es dieses. Umso höher ist der Christus von Torres Vedras zu bewerten.

Schließlich macht sich der Reisende, noch immer vom Segen der drei Scheuerfrauen gestärkt, auf den Weg, doch schon bald muss er feststellen, dass der Wirkungsradius des Segens gefährlich klein ist für jemanden, der nicht auf andere Weise geschützt unterwegs ist. Es geschieht, dass der Reisende in Turcifal eine enorm hohe Kirche aufragen sieht, auf einem Platz, zu dem man über steile Treppen gelangt, sofern man gute Beine hat. Das hohe Bauwerk weckt die Neugier des Reisenden, weshalb er sich auf die übliche Schlüsselsuche macht. Eine barmherzige Frau hinter einem Tresen beauftragt einen kleinen Sohn, den Reisenden in eine Straße in der Nachbarschaft zu führen. Der Reisende nutzt die Gelegenheit zu dem Geständnis, dass er kein Talent hat, mit Kindern zu reden. Was er in Turcifal wieder einmal beweist. Da geht dieser kleine Junge, vom Spielen losgerissen, und begleitet einen Fremden, der Reisende könnte sich zumindest mit dem Jungen unterhalten. Tut er aber nicht. Er wirft eine Frage hin, auf die der Junge klugerweise nicht antwortet, und dabei bleibt es dann. Zum Glück liegt das gesuchte Haus nicht weit weg.

Hätte es doch weit weg gelegen, dann wäre der Reisende vielleicht müde geworden und hätte es aufgegeben. »Hier«, sagt der Kleine. Der Reisende klopft einmal, klopft zweimal, und nach dem dritten Klopfen öffnet sich vorsichtig ein Türspalt, und das Gesicht einer strengen alten Frau erscheint: »Was möchten Sie?« Der Reisende sagt seinen üblichen Spruch, von weit her gekommen, auf Besichtigungstour, es wäre ein großes Entgegenkommen usw. Darauf der Türspalt: »Ich habe keine Anweisung. Den Schlüssel gebe ich nicht her. Gehen Sie den Priester fragen.« Was für ein harscher Ton, Herr im Himmel. Der Reisende gibt nicht auf, er fühlt sich im Recht, man hat ihm versichert, der Schlüssel befinde sich hier, doch mitten im Satz wird ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, zum ersten Mal passiert ihm das. Turcifal hat nicht das Recht, dem Reisenden so eine Schmach anzutun. Er geht seine Empörung mit einem Kaffee besänftigen, der ihm zu dieser Morgenstunde nur Sodbrennen verursachen wird, und überlegt lange, ob er zum Pfarrhaus laufen oder Turcifal den Rücken kehren soll. Er sieht sich schon im Geiste am Ortsausgang theatralisch den Staub von den Schuhen klopfen, doch dann denkt er daran, wie freundlich die erste Frau war und wie vernünftig der Junge, also geht er zum Priester. Große Überraschung! Die Alte ist bereits da, heftig gestikulierend und mit vielen Worten erklärt sie ihre Geschichte der Haushälterin des Priesters oder einer Verwandten von ihm, das weiß der Reisende nie, und als er dazukommt, merkt er, dass die alte Frau erschrocken zurückweicht, als wäre er der Leibhaftige. »Was habe ich bloß getan?«, fragt er sich. Nichts hat er getan, und alles klärt sich auf. Diese arme Frau ist, während sie Besuchern die Kirche zeigte, zweimal Attacken von Zeugen Jehovas zum Opfer gefallen (ihre Worte), die weiß der Himmel welche Dreistigkeiten oder Sakrilegien im Sinn hatten. Der eine hat ihr (anscheinend) sogar die Hände um den Hals gelegt, schrecklich. Der Reisende ist für einen Zeugen Jehovas gehalten worden, und er kann von Glück sagen, dass es nicht noch Schlimmeres war. Schließlich gehen sie alle gemeinsam zur Kirche, die, wie sich herausstellt, nicht die Hälfte all dieser Mühen und Aufregungen wert ist. Das Beste an der ganze Sache ist jedoch, dass die gute alte Frau sich als große Europa- Reisende erweist, denn zu Lebzeiten ihres Mannes ist sie mit ihm in fast alle Länder Westeuropas gereist (und das Wort West unterstreicht sie aus irgendeinem Grund mit weit aufgerissenen Augen), vor allem nach Italien. Sie war in Rom, Venedig, Florenz gewesen, der Reisende staunt, in Turcifal eine einfache Frau mit Schulter- und Kopftuch, in einem ärmlichen Haus in einer versteckten Seitenstraße wohnend, und so weit gereist, Gott segne sie. Frieden wurde geschlossen, doch der Reisende ist bis heute davon überzeugt, dass er für die gute Frau aus Turcifal tatsächlich ein Zeuge Jehovas ist, der verdeckt arbeitet.

Irgendein böser Blick macht es ihm wirklich schwer. Anders lässt sich nicht erklären, dass der Reisende, fasziniert vom eigenartigen Namen der Kirche São Pedro da Cadeira, um sie herumgeht und feststellen muss, dass in der Capela de Cátela Handwerker renovieren und die Kirche selbst fest verschlossen ist. Keine Hoffnung, Erstere besichtigen zu können, tiefe Enttäuschung bei der Zweiten, denn laut bedauernder Auskunft arbeitet der Küster in seinem Garten, und ihn zu holen würde bedeuten, die Arbeit zu unterbrechen. Ganz abgesehen von dem Schaden. Der Reisende ist ein verständnisvoller Mensch, bedankt sich für die Mühe und geht seines Weges. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass Varatojo nah genug bei Torres Vedras liegt, um vom Wirkungsradius des Segens der menschlicheren Frauen erfasst zu werden.

So ist es. Nachdem er Ponte do Rol passiert hat, zeichnet sich in der Ferne der mächtige Bau des Convento de Santo António ab, auf den ersten Blick nicht sonderlich vielversprechend, bloß eine Fassade mit ganz gewöhnlichen Fenstern. Der Reisende fürchtet schon das Schlimmste, dann denkt er daran, dass der Teufel nicht hinter jeder Tür lauern kann, ab und zu möchte selbst er mal an die frische Luft, schließlich hat er auch seine schwachen Momente. Kurzum, in Varatojo läuft alles bestens.

Da der Reisende aus dieser Richtung und nicht von Torres Vedras her kommt, betritt er das Kloster von der Rückseite, und das ist auch besser so. Er betrachtet die hohe Fassade, macht sich auf die Suche nach der Tür und findet sie, eine kleine niedrige Tür, die zu einem dunklen Gang führt, der sich seinerseits zu einem hellen Innenhof öffnet. Vollkommene Stille. Der Reisende zögert, gehe ich hinein oder nicht, da erscheint ein kräftiger Mann im Rollkragenpullover. Der Reisende erwartet, dass er ihn anspricht, aber nein, der Mann erwidert lediglich den Gruß, woraufhin also der Reisende erklärt: »Ich würde mich gern umsehen …« Der Mann antwortet nur: »Ja, sicher«, dann geht er weiter, steigt in ein Auto und fährt davon. Der Reisende fragt sich: »Wer mag das sein?« Ein Priester offenbar nicht, so, wie er gekleidet war, aber der Reisende ist seit Ferreirim auf der Hut, man wird ihn nicht noch einmal bei einem Fauxpas ertappen. Wieder ist alles still. Ermutigt von der Erlaubnis, geht der Reisende entschlossen hinein und erblickt als Erstes eine kleine Treppe, die zu einem knarrenden Holzkorridor mit niedrigen Türen führt, durch die selbst der kleinste Erwachsene nur gebückt eintreten könnte. Es sind die Zellen der Mönche. Der Reisende fühlt sich an Assisi erinnert (nicht nur die alte Frau aus Turcifal hat Italien bereist) – beides sind Franziskanerklöster, es ist also nicht sehr verwunderlich, dass sie einander ähneln.

Hinter dem Innenhof, den der Reisende zuerst gesehen hat, liegt der Kreuzgang. Er ist von der Art, wie der Reisende sie mag: schlicht, klein, verschwiegen. Da es Frühling ist, fehlt es nicht an Blumen und Bienen. Um eine Säule windet sich ein dicker Stamm, und der Reisende staunt darüber, dass der Busch mit seiner Kraft die stützende Säule nicht beiseitegedrückt und den Bogen zum Einstürzen gebracht hat. Als er den Blick nach oben richtet und nach eventuellen Schäden sucht, entdeckt er, dass die Decke mit einem sich ständig wiederholenden Motiv bemalt ist: einem Schöpfrad, dem Wappenemblem von Dom Afonso V. Merkwürdig, dass die Aristokratie im Mittelalter als persönliche Insignien solche mechanischen Gegenstände wählte, Geräte, die vom Gesinde und also von Nichtadligen benutzt wurden, wie dieses Schöpfrad, die Kräne des Conde de Ourém, das Krabbenfangnetz von Dona Leonor, und wer weiß, was der Reisende noch entdecken wird. Es wäre interessant, die Gründe für diese Entscheidungen zu erforschen, welche moralischen oder geistigen, also ideologischen Bezüge dahinterstehen.

Hier gibt es ein manuelinisches Portal. An einem anderen Ort würde der Reisende es eingehender betrachten, doch nicht hier im Kloster von Varatojo. In diesem Augenblick geht auf der anderen Seite des Kreuzgangs lautlos wie ein Schatten ein Mönch vorbei. Er hat nicht herübergeschaut, kein Wort gesagt, ist nur vorbeigeeilt, wer weiß, welche Pflicht ihn ruft. Hinterher kommen dem Reisenden Zweifel, ob er ihn tatsächlich gesehen hat. Das heißt, er bezweifelt es nicht wirklich, nur hat er nicht sehen können, aus welcher Tür der Mönch herausgekommen und in welche er hineingegangen ist, und das bereitet ihm kurz darauf Probleme, als er nach dem Zugang zur Kirche sucht.

Doch nun geht es um den Kapitelsaal, der an den Kreuzgang anschließt. Die Proportionen von Länge, Breite und Höhe sind perfekt, die Azulejos an den Wänden aus dem 18. Jahrhundert herausragend. Oberhalb der Wandverkleidung hängen Porträts von Mönchen, der Reisende geht von einem zum anderen, schenkt den Bildern aber keine große Aufmerksamkeit, weil sie im Allgemeinen nicht sehr gut sind, doch dann bleibt er wie angewurzelt stehen und kann sich vor Glück kaum fassen. Vor ihm hängt, wunderbar gemalt, ein Porträt von Frei António das Chagas, einem Mann, der im weltlichen Leben António da Fonseca Soares hieß, Hauptmann im Regiment von Setúbal war, mit noch nicht einmal zwanzig Jahren einen Mann umgebracht hatte, dann in Brasilien ein wildes, ganz der Liebeskunst gewidmetes Leben führte und schließlich, als ihm das Verbrechen seiner Jugend vergeben war, nach weiteren und nicht wenigen Abenteuern und einigen Rückfällen in weltliche Versuchungen als Novize in den Franziskanerorden eintrat. Kurzum, ein sinnlicher, fleischlicher Mann, der seine militärische Begeisterung für Scharmützel und Guerillataktik in die Religion mit einbrachte, als großer Prediger seine Zuhörerschaft aufrüttelte und gelegentlich von der Kanzel aus das Kruzifix in die Menge schleuderte, als letztes, schlagendes Argument, das die schreiend und jammernd auf dem Fußboden der Kirche liegenden Gläubigen endgültig überzeugte. Er wurde Hauptmann Bonina genannt, und da er beim Predigen keinen anderen Feind aus Fleisch und Blut in Reichweite hatte, ohrfeigte er sich selbst so oft und so kräftig, dass ein geistlicher Vorgesetzter ihm nahelegte, sich in der Selbstzüchtigung zu mäßigen.

Das alles ist sehr barock, im Gegensatz zum erklärten Geschmack des Reisenden, doch dieser Frei António das Chagas, der 1631 in Vidigueira geboren wurde und 1682 in Varatojo starb, war ein Mann durch und durch und deshalb maßlos, ein Schriftsteller im Stil von Gôngora, ein Sohn seiner Zeit, lyrisch und obszön, einer, der nichts ohne Leidenschaft tun konnte. Gegen Ende seines Lebens litt er an Schwindelanfällen und stets triefender Nase, und über diesen ständig fließenden Schleim, von dem er gewählt als Stillizidium sprach, sagte er ungerührt: »Das Stillizidium ist eine Erinnerung daran, dass Euer Gnaden hinnehmen muss, was von Gott kommt, ob gut oder schlecht. Das Stillizidium fällt vom Kopf auf die Brust, und dies bedeutet, dass das, was von Gott kommt, unser Kopf ist, das müssen Euer Gnaden in Ihr Herz einschließen, denn dort gehört es hin.« Mit einem Mann, der so argumentiert, wagt niemand zu diskutieren. Selbst wenn das Porträt schlecht wäre, hätte der Reisende es genauso fasziniert betrachtet. Doch ist das Gemälde, wie schon gesagt, ausgezeichnet, eines Museums und darin des wichtigsten Platzes würdig. Der Reisende freut sich, dass er nach Varatojo gekommen ist. In einer dieser Zellen starb Hauptmann Bonina, das Mönchlein, wie er seinerzeit genannt wurde. Als der Tod nahte, frühmorgens am 20. Oktober, bat er seinen Gefährten, der ihm Beistand leistete, das Fenster zu öffnen, damit er den Himmel sehen könne. Er sah weder die Landschaft noch die Sonne, die über seinen Abenteuern geschienen hatte. Nur die tiefe, endgültige Nacht, in die er eintreten sollte.

Der Reisende verlässt den Kapitelsaal ziemlich aufgewühlt. Aufgewühlt und glücklich. Es gibt nichts Wichtigeres als das Leben eines Mannes. Und dieser, der Wege gegangen ist, die der Reisende nicht einschlägt und sicherlich nie einschlagen wird, ist am Ende an denselben Kreuzweg gelangt, vor dem eines Tages auch der Reisende stehen wird, so fest davon überzeugt, gut gelebt zu haben, wie dieser es gern von sich selbst sagen können würde. Wege gibt es genug, und nicht alle führen zum selben Rom.

Jetzt sucht der Reisende den Weg in die Kirche. Alle Türen, an die er gerät, öffnet er, und nachdem er Fallriegel angehoben und gesenkt, den Kopf unter Türrahmen eingezogen hat, auf von der anderen Seite verriegelte Türen gestoßen ist, nachdem er die Tür zuvor entriegelt hat, steht er endlich in der Kirche. Niemand hat ihn gesehen, niemand ist gekommen und hat gefragt, was er hier tue, er ist ein freier Reisender. Dabei gibt es Grund genug, hier aufzupassen, sowohl im Kirchenschiff als auch in den Kapellen: Marmor-Intarsien, barock geschnitzte, mit Engeln und Vögeln verzierte Altarbilder, erbauliche Gemälde, schöne Azulejos. In einen hohen Rahmen gezwängt, denn an dieser Stelle war kein Platz mehr für Azulejos, ein Bild von einem Pilger, der mit dem Rücken zum Betrachter davongeht, während ein schlanker Baum ihn sozusagen verlängert und gleichzeitig die leere Fläche ausfüllt. Von tausend Bildern hat sich dieses dem Reisenden am lebhaftesten eingeprägt. Erkläre das, wer will.

Es wird Zeit zu gehen. Der Reisende verlässt die Kirche, durchquert den Kreuzgang, wirft noch einmal einen Blick auf den Hauptmann Bonina (»Im Wagnis sterben oder den Sieg erringen «, lautete sein Motto), und während er den Hügel hinuntergeht, denkt er, falls er jemals Mönch werden wollte, würde er in Varatojo anklopfen.

Weiter unten liegt Lissabon, sagt man, wenn man sich nördlich davon befindet, doch bevor der Reisende dorthin fährt, will er Orte besuchen, die nicht übergangen werden dürfen. Leider werden nicht alle Mühen gebührend belohnt, wie sich in Merceana und Aldeia Galega zeigt, wo der Reisende die Kirchen nur von außen sehen kann (in Aldeia Galega ein wunderbares manuelinisches Portal), ebenso in Meca, dort kann er nur die künstlerisch unbedeutende Kanzel betrachten, von der herab das Vieh gesegnet wird.

In Aldeia Gavinha gibt es Angenehmes und Schönes. Als der Reisende in einem Haus nach dem Schlüssel zur Kirche fragt (über die verschiedenen Arten, nach einem Kirchenschlüssel zu fragen, könnte er eine Abhandlung schreiben), gibt es Aufregung in der Familie, alle wollen gerade das Haus verlassen, doch einer der Männer bietet seine Hilfe an, geht nicht nur mit ihm dorthin, wo der Schlüssel ist, sondern begleitet ihn auch in die Kirche und erläutert ihm die Gemälde und den Bau als Ganzes, und unterdessen erscheinen zwei der Frauen, die auch weggehen wollten, keineswegs ungeduldig, Gott segne sie, sie wollen nur den Fremden sehen und behilflich sein, wo nötig. Die Feststellung, dass die Kirche Nossa Senhora da Madalena sehenswert ist, wäre untertrieben. Die Azulejos, blau und gelb, zählen zu den schönsten, die es gibt, und die ganz damit ausgekleidete Taufkapelle ist so schön, dass der Reisende sich am liebsten noch einmal taufen lassen möchte. Ungewöhnlich ist die Figur der Schutzpatronin, nun im Innern der Kirche, nachdem sie Jahre in einer Nische an der Fassade verbracht hat, denn sie senkt den Blick, hat die Augen geschlossen, falls sich das Auge des Reisenden nicht getäuscht hat. Entweder ist sie so dargestellt, damit sie die Betenden besser erkennen kann, oder sie weigert sich, die Außenwelt zu sehen, was sehr schade wäre, denn da gibt es viele schöne Dinge, wie Frei António das Chagas ihr erzählen könnte.

Hier ist Palmira Bastos geboren, sozusagen die letzte Schauspielerin des 19. Jahrhunderts. Da ist der nach ihr benannte Platz, dort ihr Geburtshaus. Der Reisende, der, wie man gesehen hat, reich an Ideen ist, fragt, warum man aus dem verfallenen Haus kein Theatermuseum gemacht hat, mit allen Erinnerungen an Palmira, Porträts, persönlichen Habseligkeiten, Bühnenkostümen, Plakaten, kurzum, was so üblich ist. Wie erwartet, erhält der Reisende keine Antwort. Hätte man ihm eine gegeben, hätte er keinen Anlass gehabt, die Frage hier noch einmal zu stellen. Hier steht sie also.

Von der Landschaft hat er noch nicht gesprochen, doch mit minimalen Unterschieden ist es die gleiche, die ihn seit Arruda dos Vinhos und Torres Vedras entzückt hat. Erwähnt werden sollte, dass der Reisende einen Abstecher gemacht hat, der ihn in die Nähe des Meeres führte, und nun fast zum Ausgangspunkt zurückgekehrt ist. Espiçandeira liegt am rechten Ufer des Alenquer und ist ein ruhiger, etwas selbstvergessener Ort mit seinem dreieckigen Platz und den niedrigen Häusern. Die Kirche, dem heiligen Sebastian geweiht, schützt, wie auch den kleinen Garten, ein Gitterzaun. Der Straße zugewandt erinnert eine wunderschöne, etwas bedrohliche Tür mit Renaissance-Motiven die Passanten daran, dass das Leben ein Übergang ist und sonst nichts. Dem stimmt der Reisende zu, findet aber, dass die Botschaft der Tür dem widerspricht, was das Kircheninnere über die Gewissheit der Unsterblichkeit sagt.

São Sebastião in Espiçandeira ist dem Reisenden, abgesehen von den Azulejos (die ganze Region ist daran ausgesprochen reich), wegen einer Reihe unterschiedlicher Figuren auf dem Schubladenschrank in der Sakristei in Erinnerung, vor allem aber wegen des imposanten Sarkophags eines Ritters aus dem 17. Jahrhundert, darauf liegend eine grobgemeißelte Skulptur von ihm mit Schwert und Rüstung. Wegen der groben Steinmetzarbeit, und nur deshalb, erinnert sie den Reisenden an Dom Pedro de Barcelos, der in São João de Tarouca liegt. Auf diese Weise kommen so weit entfernte Orte durch den, der sie besucht, einander näher: Das ist die beste Nachbarschaft.

Alenquer erreicht man, ohne es zu merken. Nach einer letzten Kurve befindet man sich im Ort, ganz anders, als wenn man über die Schnellstraße von Norden her kommt, von der aus man das Städtchen hoch droben gleich einer Weihnachtskrippe aufgebaut sieht. Hoch liegt es wirklich, wie der Reisende am eigenen Leib erfährt, als er zum Convento de São Francisco hinaufsteigt. Kein Mensch würde vermuten, dass dieses hier das erste – genauer gesagt, im Jahre 1222 – in Portugal gegründete Franziskanerkloster ist. Aus dieser Zeit stammt die gotische Tür, von späteren Umbauten der Kreuzgang aus dem 16. Jahrhundert und das manuelinische Portal des Kapitelsaals. Der Rest datiert aus der Zeit nach dem Erdbeben 1755, bei dem praktisch alles zerstört wurde.

Bei der Besichtigung wird der Reisende von einer ständig lächelnden, doch ziemlich zerstreuten Nonne begleitet, die zwar immer die richtigen Antworten gibt, dabei aber mit den Gedanken woanders zu sein scheint. Jedenfalls macht sie den Reisenden auf eine Sonnenuhr aufmerksam, die der Überlieferung nach dem Kloster von dem Schriftsteller und Chronisten Damião de Góis geschenkt wurde. Der Reisende hatte zwar im Kopf, dass Damião de Góis in Alenquer geboren und gestorben ist, doch seinen Namen von den unschuldigen Lippen dieser Nonne ausgesprochen zu hören, die, wie es ihr aufgetragen, immer noch lächelt, damit das Trinkgeld beim Abschied stimmt, verwirrt ihn ernsthaft, so als erzählte man ihm von einem Verwandten oder jemandem, mit dem er engen Umgang gehabt hat. Der Reisende geht auf Drängen der Nonne in die obere Etage des Kreuzgangs, weil sie ihm die Kapelle von Dona Sancha zeigen will, der Gründerin des Klosters, doch findet er sie nicht sonderlich interessant. Zwei Männer aus dem Altersheim sind da und warten auf den Tod, einer sitzt auf einer Bank und blickt zum Altar, der andere draußen, an der frischeren Luft, und lauscht vielleicht dem Gesang der Vögel. Nebenan ist der Friedhof. »Da liegt die Gute«, sagt die Nonne. Der Reisende nickt betroffen und denkt: »Ja, Damião de Góis.« Was Unsinn ist, denn Damião de Góis befindet sich nicht hier.

Ob er sich noch in der Kirche São Pedro, hundert Meter weiter unten, befindet, kann der Reisende nicht beschwören, Gebeinen widerfährt viel Unbill. Zumindest scheint sicher, dass der verstümmelte steinerne Kopf an der Wand über der Grabplatte mit lateinischer Inschrift, die Damião de Góis selbst verfasst hat, sein Konterfei ist. An der unteren Gesichtshälfte fehlt ein Teil, doch sieht man, dass er seinerzeit ein rüstiger Alter war, eindeutig ein Mann der Renaissance, wie seine Kopfbedeckung, die Haartracht und sein herausfordernder Blick bezeugen. Alenquer hat Damião de Góis zur Welt kommen und sterben sehen. Die einen sagen, er sei nach einem Sturz gestorben. Andere, das Gesinde habe ihn aus Habgier oder auf Befehl okkulter Mächte umgebracht. Genau wird man es nie erfahren. Zu ihm hinaufblickend, grüßt der Reisende Damião de Góis, den Freigeist und Märtyrer der Inquisition. Und ohne recht zu verstehen, was zwei so verschiedene Männer verbinden könnte, denkt er bei sich, dass auch Damião de Góis jene Worte des Frei António das Chagas geschrieben haben könnte: »Im Wagnis sterben oder den Sieg erringen«. Kurzum: Sieg oder Tod. Ein Schrei, der von weit her kommt und noch immer nicht verstummt ist.

Die Portugiesische Reise
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