Der Geist des José Junior
Die Nacht ist kalt in der Senke, in der Fundão liegt. Aber nicht nur deswegen hat der Reisende schlecht geschlafen. In dieser Gegend, nicht genau hier, aber doch in spürbarer Nähe, treibt der Geist von José Junior sein Unwesen. Er ist übrigens der Einzige, an den der Reisende glaubt. Seinetwegen fährt er nach São Jorge da Beira, das an den schon sehr gebirgigen Ausläufern der Serra da Estrela liegt. José Junior hat er nicht gekannt, er hat sein Gesicht nie gesehen, aber irgendwann, vor vielen Jahren, hat er ein paar Zeilen über ihn geschrieben. Dazu veranlasst hatte ihn eine Zeitungsnotiz, der Bericht einer schmerzlichen, aber hierzulande nicht seltenen Geschichte über einen Mann, der das Opfer einer besonderen Form von Grausamkeit wurde, die sich gegen die Dorftrottel und Betrunkenen richtet, arme Menschen, die sich nicht wehren können.
Zu dieser Zeit arbeitete der Reisende für eine Zeitung, die eben hier in Fundão erscheint, und aus Gründen, die vielleicht eher poetischer als rationaler Natur sind, schrieb er einen Artikel, eine Art Glosse, die dann auch veröffentlicht wurde. Darin zitierte er zunächst einen Vers des brasilianischen Dichters Carlos Drummond de Andrade und machte dann ein paar moralische Bemerkungen über das Schicksal all der vielen Josés dieser Welt, »die mit ihrer Kraft am Ende sind, von der Meute gehetzt, doch nicht die Courage zum letzten, und sei es tödlichen Sprung haben«. Und weiter: »Vor dem Tisch, an dem ich schreibe, steht ein anderer José. Er hat kein Gesicht, es ist nur eine Gestalt, eine Oberfläche, die zittert wie ein permanenter Schmerz. Ich weiß, dass er José Junior heißt, er hat keinen Nachnamen und keinen bekannten Stammbaum, und er wohnt in São Jorge da Beira. Er ist jung, er trinkt, und man behandelt ihn wie einen Idioten. Einige Erwachsene machen sich über ihn lustig, die Kinder rotten sich um ihn zusammen, und vielleicht bewerfen sie ihn von weitem mit Steinen. Und wenn nicht, dann schubsen sie ihn mit jener jähen, Kindern eigenen Grausamkeit, die brutal und feige zugleich ist, und José Junior, der völlig betrunken ist, fällt hin und bricht sich vielleicht das Bein, oder auch nicht, und muss ins Krankenhaus.« Und dann weiter: »Ich schreibe diese Worte aus vielen Kilometern Entfernung, ich weiß nicht, wer José Junior ist, und ich hätte Schwierigkeiten, São Jorge da Beira auf der Karte zu finden. Aber diese Namen bezeichnen nur Einzelfälle eines allgemeinen Phänomens: Verachtung, wenn nicht Hass, gegenüber dem Nächsten, ein überall grassierender Wahnsinn, der sich mit Vorliebe auf schwache Opfer stürzt. Ich schreibe diese Worte an einem späten Nachmittag, der Himmel hat dieselbe Farbe wie am frühen Morgen, ich blicke auf den Tejo, auf dem langsam fahrende Boote Menschen und Nachrichten von einem Ufer zum anderen bringen. All das scheint friedlich und harmonisch wie die beiden Tauben, die gutgläubig auf der Veranda gurren. Ach, dieses kostbare Leben, das uns abhandenkommt, der sanfte Abend, der morgen nicht mehr derselbe sein wird, der nie wieder so sein wird wie jetzt! Währenddessen liegt José Junior im Krankenhaus, oder er ist schon draußen und schleift sein lahmes Bein durch die kalten Straßen von São Jorge da Beira. Dort ist ein Wirtshaus, der feurige, alles auslöschende Wein, das Vergessen am Ende der Flasche und wie ein funkelnder Diamant die Trunkenheit, die den Sieg bedeutet, solange sie andauert. Das Leben beginnt von vorn. Kann es sein, dass das Leben von vorn beginnt? Kann es sein, dass die Menschen José Junior töten werden? Kann das sein?«
So endete der Artikel, aber das Leben begann nicht von vorn. José Junior starb im Krankenhaus. Jetzt hat der Reisende das Gefühl, von einem Geist gerufen zu werden. Er will nach São Jorge da Beira fahren, er hat es schon auf der Karte lokalisiert, er hat nicht vor, irgendjemanden anzuklagen, und wüsste auch gar nicht, wen. Er will nur ein Mal durch die Straßen gehen, in denen sich diese Geschichte zugetragen hat, und ein Mal selbst, nur ein paar Sekunden lang, José Junior sein. Er weiß, dass das die Beschönigung des Leidens eines anderen ist, aber sein Anliegen ist aufrichtig, und mehr kann man nicht verlangen,
Bis dahin ist es ein langer Weg. Jeder Ort hat seinen Platz, und für jeden Ort wird seine Zeit kommen. Sehen wir uns zunächst Fundão an, wo wir jetzt sind, oder besser, sehen wir uns an, was uns unsere Zeit erlaubt, zum Beispiel den Hauptaltar in der Pfarrkirche, das vergoldete Schnitzwerk, vor allem die Deckengemälde, die eher von volkstümlicher Machart sind, jedenfalls keine hohe Kunst. Der Reisende findet, dass es höchste Zeit ist, sich mit dieser Art von Malerei zu beschäftigen und in ihnen Anzeichen von Originalität und Kühnheit zu suchen, was sich bei einigen von ihnen sicher lohnt. Neben die großen Maler, ob als solche ausgewiesen oder nicht, sollten diese unbekannten Künstler gestellt werden, die nicht immer Epigonen oder gehorsame Kopisten gewesen sein müssen. Portugal ist voll von nicht ganz so bedeutender Malerei, der man mehr Beachtung schenken sollte: ein bescheidener Vorschlag des Reisenden. Sehenswert sind außerdem das Kreuz der Capela de Nossa Senhora da Luz, das man das Kruzifix der zwei Leiden nennen könnte: Auf der einen Seite sieht man den gekreuzigten Jesus, auf der anderen seine Mutter.
Jetzt geht es weiter nach Paul, dann weiter nach Ourondo, von wo aus er in Richtung Gebirge fährt. Paul hat an Kunst die Deckenmalerei in der Pfarrkirche zu bieten. Ein konventionell geratenes Trompe-l’oeil, den Ansprüchen dieses Genres entsprechend, aber so etwas hier zu finden, mitten in der Beira, ist so ungewöhnlich wie das surrealistische Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch. Diese Art von architektonischen Tricks mag man in Palästen benutzen, aber nicht in einer bescheidenen Kirche wie dieser, durch die gerade eine Religionslehrerin eine Horde Kinder führt, von einer Station des Kreuzweges zur nächsten, wo sie jeweils das entsprechende Gebet aufsagen. Das Eintreten des Reisenden, sein vorsichtiges Spähen, stört den Anschauungsunterricht: Die Schar richtet neugierige Blicke auf den Eindringling und gibt verspätete und unaufmerksame Antworten auf die gestellten Fragen. Bevor die Katastrophe überhandnimmt, zieht sich der Reisende zurück.
In Ourondo wäre er lange geblieben, würden die Geschichten von damals heute noch ihre Bestätigung finden, nämlich dass man das Gold eimerweise auflesen konnte, daher auch der Name. Nicht dass er von Reichtum träumte, aber da er noch nie auch nur ein Körnchen Gold gefunden hat, weder in einer Mine noch unter freiem Himmel, könnte man hier einmal überprüfen, mit welcher Eleganz er als Goldschürfer die Hügel durchkämmen und die Bäche ausloten würde. Der Reisende sollte sich lieber konzentrieren: Der Weg geht plötzlich bergauf, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, vorbei an steilen, felsigen Abgründen. Über den weiten Pinienwäldern ist der Himmel weiß, Wolken, wohin das Auge blickt. Kein Regen. Tief unten verläuft ein Flüsschen namens Porsim. Wenn jedes Ding sein Gegenstück hätte, dann müsste es auch einen Fluss namens Pornão geben. Porja, Pornein. Der Karte nach ist das nicht der Fall. Der Reisende muss gerade eingehender an José Junior denken, als plötzlich, oberhalb der natürlichen Höhen, zwei Berge vor ihm auftauchen, der eine grau, der andere dunkelgelb, ohne einen Grashalm oder die Spur eines Zweiges, nicht einmal eine jener Felsspitzen, die immer wieder über die Straße ragen. Das sind die Auswürfe der Minen von Panasqueira, getrennt nach Zusammensetzung und Farbe, zwei gigantische Massen, die sich über die Landschaft ergießen und sie im gleichen Maße von außen auffressen, wie das Erdreich von innen ausgehöhlt wird. Wenn man nicht darauf vorbereitet ist und plötzlich die beiden Berge aus dem Nichts auftauchen, bekommt man einen regelrechten Schock, vor allem weil aus der Ferne keinerlei Zusammenhang mit der Arbeit zu erkennen ist. Erst weiter hinten, in der Nähe des Ortes, sieht man die Eingänge im Berg. Davor läuft ein weißlicher, fast flüssiger Schlamm den Hang hinunter. Der Reisende geht nicht in die Mine hinein, aber er behält das Bild einer feuchten, klebrigen Hölle im Kopf, in der die Verdammten bis zu den Knien versinken. Natürlich entspricht das nicht der Realität, aber sehr viel besser ist es bestimmt nicht.
Nach São Jorge da Beira sind es drei Kilometer. Die Straße macht eine Kurve, dann noch eine, wo die ersten Häuser beginnen, und dann ist man plötzlich schon mitten im Dorf, das an einen Hang gebaut ist, als hätte man noch viel höher hinausgewollt, aber nach dem ersten Ansturm keine Kraft mehr gehabt. Hier lebte José Junior. Es ist ein ruhiger Ort, so fernab von der Welt, dass die Straße, die es immerhin bis hierher geschafft hat, nirgendwo anders mehr hinführt. Für den Reisenden ist es unvorstellbar, dass auf diesem Kopfsteinpflaster, unter diesen Giebeln, über die Schieferstufen torkelnd, ein Mann, hoffnungslos betrunken oder betrunken vor Hoffnungslosigkeit, was zwei verschiedene Dinge sind, mit Worten und Schlägen angegriffen wurde, ohne dass irgendjemand gekommen wäre, um den Schwachen vor den Starken zu bewahren, den Verfolgten vor seinen Verfolgern. Oder vielleicht ist ja jemand gekommen, aber das allein reichte nicht. Denn wenn man die Hand, die man eben noch gereicht hat, wieder wegzieht, dann macht man es nur noch schlimmer. Bestimmt gab es Leute, die José Junior gute Ratschläge gaben und ihn vor seinen Peinigern warnten. Und bestimmt gab es Leute, die ihm Wein ausgaben, um sich dann auf seine Kosten zu amüsieren. In einer Gegend wie dieser, in der es an allem fehlt, wäre es doch dumm, sich ein kostenloses Vergnügen entgehen zu lassen. Das willkürliche Vergessen kann da eine große Hilfe sein: Drei Menschen fragt der Reisende, ob sie José Junior gekannt haben, und keiner kann sich an ihn erinnern. Aber darüber muss man sich nicht wundern. Wenn wir mit Gewissensbissen nicht leben können, dann vergessen wir sie. Und genau deswegen schlägt der Reisende vor, in einer dieser wunderhübschen Straßen oder auch gern in einer dunklen Gasse ein Schild anzubringen mit einem halben Dutzend Wörtern, nichts Weltbewegendes, zum Beispiel: Rua José Junior, Sohn dieser Stadt. Und für den Fall, dass einmal ein Reisender vorbeikommt, würde der Gemeinderat jemanden damit beauftragen, ihm zu erklären, wer José Junior war und warum sein Name da steht.
Den Geist hat der Reisende nicht gesehen. In São Jorge da Beira geht alles seinen gewohnten Gang, umgeben von Pinienhainen und Schluchten, unter einem weißen Himmel, der keinen Anfang und kein Ende hat. Vielleicht schneit es morgen hier oder weiter oben im Gebirge, wohin der Reisende nicht fährt. Auch José Junior wird sich nie weit von hier entfernt haben. Vielleicht hat er den Geist deswegen nicht gesehen. Jetzt, wo er ein Geist ist, nutzt er die Gelegenheit. Außerdem ist bewiesen, dass Geister nicht trinken. Und wenn es sie gibt, dann lachen sie ganz bestimmt über uns.
Der Reisende fährt denselben Weg zurück, den er gekommen ist. Er isst in Fundão zu Mittag, sieht sich den Brunnen Chafariz das Oito Bicas an und fährt weiter in das nahegelegene Donas. Alles, was es hier zu sehen gibt, liegt dicht beieinander, was den Besuch vereinfacht. In der Pfarrkirche sind Frauen damit beschäftigt, den Boden zu wischen, und nicht besonders erfreut über den Eindringling. Sie blicken ihn misstrauisch an wie einen Aufpasser, der ihre Arbeitszeiten überwacht. Der Reisende weiß, dass diese Arbeit unbezahlt ist und zum Ruhme der Kirche und zum Erlangen des Seelenheiles verrichtet wird. Da es hier nicht viel zu sehen gibt, geht er weiter in die Capela do Pancas, die hübsch in manuelinischem Stil verziert ist. Ebenfalls manuelinisch und höchst elegant ist die Casa do Paço. Sie gehörte der Familie des Kardinals Jorge da Costa, des berühmten Alpedrinha, der mehr als hundert Jahre alt wurde und in Rom in einem wundervollen Grabmal bestattet ist. Der Kardinal war sehr ehrgeizig. Er liebte das Geld, den Luxus und die Macht. Und besaß alle drei. Er war Prälat in Évora, Erzbischof von Lissabon und Kardinal de nomine, und als er 1479 nach Rom ging, von wo er nie zurückkehrte und wo er 1508 starb, erhielt er die Titel Bischof von Albanense, Bischof von Tusculum, Bischof von Porto und von Santa Rufina. Außerdem war er Erzbischof von Braga, ohne Rom dafür verlassen zu haben. Der Reisende fragt sich, wie es möglich ist, dass der Baum des Evangeliums solche Früchte trägt, und tröstet sich mit dem Gedanken, dass es weder Alpedrinha noch seine stolzen Verwandten waren, die in Donas die wunderschöne Casa do Paço errichteten. Der Reisende hat den Verdacht, dass die Frauen, die in der Kirche den Boden wischen, von den Maurern abstammen, die diese Wände gebaut und das Mauerwerk der Fenster und Türen geformt haben. Irgendjemand muss es ihnen sagen.
Von Donas nach Alcaide ist es ein Katzensprung, man ist schnell dort. Die wunderschöne Landschaft lässt die Strecke noch kürzer erscheinen, trotz der Unebenheiten im Gelände, darunter zwei Bahnübergänge und eine Brücke. Die Kirche São Pedro ist geschlossen, aber der Küster, ein alter, äußerst höflicher Mann, kommt und öffnet ihm auf formvollendete Art die Tür, man möchte meinen, der Reisende beliebt zu scherzen, aber nein, das ist sein voller Ernst, wer will, soll nach Alcaide kommen und sich ansehen, wie dieser Mann eine Tür öffnet. Dieser scheinbar simple Akt macht aus ihm eine Respektsperson. Die Kirche ist groß, und die acht Granitpfeiler lassen sie ein bisschen streng, wenn auch nicht ausdruckslos erscheinen. Der romanische Bogen der Hauptkapelle ist prächtig, seit dem 17. Jahrhundert war er überbaut und ist erst kürzlich wieder freigelegt worden. Aus derselben Epoche muss eine Darstellung der heiligen Anna stammen, in deren Schoß die Jungfrau Maria als kleines Mädchen sitzt und im Lesen unterrichtet wird. Die Arbeit besitzt keinen besonderen künstlerischen Wert und würde auch keine weitere Erwähnung finden, wäre da nicht der Umstand, dass die gesamte Komposition der zentralen Figur den Reisenden an die profane Figur von Julias Amme aus Shakespeares Drama erinnert. Es gibt so viele Ammen Julias, wie es Schauspielerinnen gibt, die sie gespielt haben, dünne und dicke, große und kleine, blonde und dunkelhaarige: Für den Reisenden ist die Amme, die Julia Capulet auf dem Arm trug und dann in all die Geschichten verwickelt wurde, eine rundliche Figur, sehr mütterlich und einfach, der das Mädchen die Haube zerdrückt, während diese ihr das Buch der Zukunft zeigt und natürlich erschrickt über das, was sie sieht. Wenn der Reisende geht, muss die heilige Anna Julia Capulet irgendeine nette Geschichte erzählen: Es war einmal …
Auf dieser Seite der Cova da Beira liegt die Serra da Gardunha. Der Reisende muss sie umfahren, immer bergauf, und plötzlich taucht vor ihm wieder die Wolke aus der Serra da Estrela auf, die anscheinend hierherverlegt wurde, und es wird noch schlimmer, es ist nicht nur die Wolke, sondern auch der Nebel und der Regen, wie kommt so ein Wetter zustande, wo es doch unten nur ein bisschen bewölkt war. Hier herrschen scheinbar sehr ortsgebundene Witterungsverhältnisse, und wie zum Beweis verzieht sich noch vor Alpedrinha der Nebel, die Wolken brechen auf, und es hört auf zu regnen.
Alpedrinha ist der Geburtsort des Kardinals. Hier hängt sein Wappen über der Tür der Capela do Leão, auch Santa Catarina genannt. Der Reisende hätte früher kommen sollen. Obwohl noch entfernt, nimmt das Unwetter über den Bergen doch einen Großteil des Tageslichts. Es ist natürlich nicht so, dass man nichts sehen könnte, aber er hat noch ein gutes Stück Weges vor sich, und deswegen, und auch weil Alpedrinha wie ausgestorben ist, läuft der Reisende nur ein wenig durch die Straßen, um die besondere Faszination eines Niedergangs zu verspüren, der sich weigert, sich anderen Lebensweisen anzupassen. Das ist nur ein subjektiver Eindruck, vielleicht vermittelt durch menschenleere Straßen, verschlossene Türen und Fenster, zugezogene Vorhänge. Vor der Pfarrkirche stehen immerhin Mädchen mit Schulbüchern, wahrscheinlich ist der Unterricht gerade zu Ende, und sie treffen sich dort; die Art, wie sie den Reisenden ansehen, neugierig und leicht spöttisch, hinterlässt in ihm ein seltsames Gefühl.
Weiter oben befindet sich der Brunnen Chafariz de Dom João V. Der Reisende will wenigstens ein Mal den Springbrunnenkönig ansehen, falls der Ausdruck keine Majestätsbeleidigung ist, und als er vor ihm steht, muss er zugeben, dass es sich um ein wirklich imposantes Bauwerk handelt, unglaublich, dass ein einfacher Wasserstrahl so herausgeputzt wird. Nicht jedes Wasser hat dieses Glück. Dieses hier kommt von weit oben aus dem Gebirge, läuft kaskadenartig zwischen Wald und Felsen herab, und wo es früher in den Alpreade floss, setzten ihm die königlichen Architekten ein Ensemble aus Bassins, Rohren und Stufen vor, in dem weniger das kostbare Nass eine Rolle spielt als die kaiserliche Krone, die über allem prangt. Der Reisende blickt von oben auf das Ganze und lächelt über die Respektlosigkeit einiger Jungen, die über die Steine springen, während eine Frau ruft: »Passt auf.« Aber alles hat seine Zeit. Eben lächelte der Reisende noch, und jetzt ist er schon ungeduldig, weil ihn in diesem verschlafenen Städtchen nach Stille verlangt, die sich nicht einstellen will, weil ein paar Jungen spielen und die Mutter nach ihnen ruft, aber nur in der Vollkommenheit erschließt sich der Ort wirklich. Das Spiel nimmt kein Ende, die Mutter ruft immer wieder, der Reisende muss schließlich weichen und wirft einen Blick auf die Ruinen des Palastes, die geflammten Steinornamente und Urnen am Eingang, die Fenster, die entweder mit Brettern vernagelt oder zum cremefarbenen Himmel hin geöffnet sind. Er geht hinunter zur Straße und sieht sich noch einmal um. Ein merkwürdiger Ort ist das. Die Straße führt mitten hindurch und teilt ihn in zwei Hälften, aber es ist, als würde man zwischen zwei Mauern fahren, die die Sicht verstellen. Es gibt genügend Dörfer, die sich verbergen, aber Alpedrinha ist ein wirkliches Geheimnis.
Vom Himmel fällt feuchte Asche. Die ganze Landschaft ist geheimnisvoll geworden. Es scheint, als würde es plötzlich ganz schnell Abend werden, aber nein, das Tageslicht ist noch da, es schwebt in der Luft, als hätte derjenige, der darüber wacht, eine Pause eingelegt, um dem Reisenden genügend Zeit zu lassen, nach Castelo Novo zu kommen. Für diesen Gefallen wird ihm der Reisende bis an sein Lebensende dankbar sein. Zu dieser Stunde liegt die Landschaft in einem Licht, das sie unvergleichlich erscheinen lässt. Die Straße, nun nicht mehr die, die nach Castelo Branco führt, macht eine große Kurve und verläuft dann durch die gesamte Ebene des Alpreade, was noch nicht viel aussagt, zum Beispiel über den Nebel, der über den Feldern schwebt, die Bäume, im Hintergrund die Serra da Gardunha und vor allem das undefinierbare Licht, das fast nur aus seinem eigenen Vorbeiziehen besteht; der Reisende weiß nicht, wie er es beschreiben soll. Es gelingt ihm einfach nicht.
Castelo Novo ist für den Reisenden eine der bewegendsten Erinnerungen. Vielleicht wird er eines Tages wiederkommen, vielleicht auch nicht, vielleicht wird er es sogar vermeiden, denn manche Erfahrungen lassen sich nicht wiederholen. Wie Alpedrinha wurde auch Castelo Novo an den Hang eines Berges gebaut. Auf direktem Wege würde man von dort zum höchsten Punkt des Gardunha-Gebirges gelangen. Der Reisende will nicht wieder von der Tageszeit, dem Licht und der Atmosphäre sprechen. Er bittet nur darum, das alles nicht zu vergessen, während er die steilen Wege hinauffährt, vorbei an einfachen Bauernhäusern und anderen, die wiederum Paläste sind, so wie dieses hier aus dem 17. Jahrhundert, mit seinem Vorplatz, der Veranda, dem niedrigen Toreingang, ein harmonischeres Bauwerk ist kaum denkbar. Es bleiben das Licht und die Zeit, die stehengeblieben zu sein scheinen, als der Reisende nach Castelo Novo kommt.
Das hier ist das Rathaus, ein romanisches Gebäude aus der Zeit Dom Dinis’. Der Reisende will gerade gegen den Brunnen wettern, den man Dom João V. zu Ehren dort aufgestellt hat, aber dann ändert er seine Meinung, als er feststellt, wie das Barocke in das Romanische integriert wurde oder sich ihm unterworfen hat, das Romanische war ja schließlich auch zuerst da. Zusammen mit dem manuelinischen Pranger haben wir drei Epochen versammelt: das 13., das 16. und das 18. Jahrhundert. Diese Männer wussten, wie man mit Stein arbeitet und wie man mit dem Raum umgeht, egal auf welche Distanz: Wäre das nicht der Fall, dann stünden wir hier vor großen, unversöhnlichen architektonischen Konflikten.
Der Reisende fragt eine alte Frau, die vor ihrer Haustür steht, wo die Weinpresse ist. Die Frau ist schwerhörig, aber sie versteht, wenn man laut spricht und sie dabei direkt ansieht. Als sie die Frage verstanden hat, lächelt sie, und der Reisende erschrickt, weil ihre Zähne falsch sind und das Lächeln trotzdem so echt und fröhlich ist, dass er sie am liebsten umarmen und bitten möchte, noch einmal zu lächeln. Sie beschreibt ihm den Weg, aber er muss sie falsch verstanden haben, denn er verläuft sich. Er fragt ein paar Jungen, sie wissen es nicht, so ist das bei der jungen Generation, sie beschäftigen sich mit anderen Dingen. Ein Stück weiter fragt er wieder, und man antwortet ihm: »Gehen Sie die Straße da runter, da ist ein Platz, an der Ecke ist ein Laden, dort können Sie fragen.« Der Reisende geht die Straße hinunter, kommt auf den Platz, geht zu dem Laden, sagt dem Verkäufer guten Tag und stellt seine Frage. Der Verkäufer ist ein kleiner Mann, mit kaum mehr Haaren als der Reisende, aber älter. Er kommt hinter seinem Tresen hervor, hilfsbereit, die Güte selbst, und beide gehen hinaus auf den Platz, reden über Castelo Novo, dem Mann steigen die Tränen in die Augen, als er von seiner Heimat spricht, und dann gehen sie eine Straße hinauf, und da ist gleich die Weinpresse, ein Wort hätte genügt, er hätte gar nicht aus dem Laden gehen müssen, aber so ist das hier, und so ist dieser Mann. Oben angekommen, sehen sie sich den nicht besonders tiefen Trog an, eine muschelförmige Vertiefung im nackten Fels, und der Mann erklärt ihm: »Früher hat man hier die Trauben gekeltert, hier ist ein Loch, das führt zu dem Becken da unten.« Der Reisende stellt sich die Männer aus dem Ort vor, wie sie barfuß, die Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt, in den Trauben stehen und mit den Frauen scherzen, die vorbeilaufen, mit der heiteren Unbekümmertheit, die der Wein bewirkt, auch wenn es nur Most ist. Wenn es in diesem Land noch so eine Kelter geben sollte, dann hat der Reisende noch nicht von ihr gehört, will es aber gern glauben: Der Tag ist fern, an dem wir alles kennen, was wir haben.
Inzwischen hat sich der Reisende vorgestellt und sein Begleiter ebenfalls: José Pereira Duarte. Er hat helle Augen, ist ein feinsinniger Mensch, der liest. Er ist kleiner als der Reisende und sieht ihn an wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hat, und es tue ihm furchtbar leid, dass seine Frau krank im Bett liege: »Sonst würde ich Sie gern für ein Stündchen zu mir nach Hause einladen.« Auch der Reisende wäre gern in Castelo Novo geblieben, aber es geht nicht. Gemeinsam steigen sie die Stufen hinunter, verabschieden sich auf dem Platz mit einer herzlichen Umarmung, die so echt ist wie das Lächeln der Alten, die vor ihrer Schwelle steht, als hätte sie auf ihn gewartet, um sich von ihm zu verabschieden. Das muss wieder ein Traum sein, so viel Güte kann es nicht geben: Wer es nicht glaubt, sollte nach Castelo Novo fahren.
Nebel, grau auf grün, endlich klart es etwas auf. Als der Reisende die Straße nach Castelo Branco erreicht, wird es Abend. Jetzt braucht er kein Licht mehr.