Es war einmal ein Sklave
Bei der Einrichtung des Museums von Óbidos haben Kenner Hand angelegt. Es kann nicht einfach gewesen sein, ein Haus zu gestalten, das sich über mehrere Stockwerke mit jeweils relativ geringer Fläche in die Höhe erstreckt. Da das Museum klein ist, hätte die Versuchung bestanden, es mit Exponaten zu überladen. Das ist zum Glück nicht geschehen. Oder aber es gab nicht so viele. Die ausgestellten Gegenstände haben genügend Freiraum um sich herum, sodass das Auge nicht von benachbarten Exponaten abgelenkt wird. Der Besucher kann sich in Ruhe der Betrachtung hingeben, und wenn er das Glück hat, während seines Aufenthalts der einzige Besucher zu sein – so wie der Reisende –, dann wird er beim Verlassen des Museums tiefe Zufriedenheit empfinden, was man nicht alle Tage erlebt.
Gleich am Eingang befindet sich ein großartiger Johannes der Täufer aus dem 15. Jahrhundert mit wallendem Haar und langem blonden Bart. Der Reisende kann nicht erkennen, welches die ursprünglichen Farben waren, gut möglich, dass das erwähnte Blond letztlich nur eine Grundierung war. Dieser Johannes erweckt den Eindruck, ein schon betagter Mann zu sein, was im Widerspruch zur biblischen Geschichte steht, nach der er noch jünger als Christus war. Außerdem, falls es dem Reisenden gestattet ist, sich in die Windungen der Seele eines anderen Menschen zu begeben, hätte dieser ehrwürdige Greis niemals die gefährliche Leidenschaft in der Tänzerin Salome wecken können, die sie veranlasste, ihre sieben Schleier zu lüften und, nachdem Herodes inzestuösen Gelüsten erlegen war, von ihm den Kopf dessen zu fordern, der sie abgewiesen hatte. Hier hat Johannes den Kopf noch auf den Schultern. Mit ihrem sanften Ausdruck zählt diese harmonisch konzipierte Figur zu den schönsten Darstellungen des Johannes, die der Reisende kennt.
Von den Gemälden im Museum sei das Triptychon des heiligen Blasius erwähnt, insbesondere der rechte Flügel, der den Heiligen mit Gloriole zeigt. Der Engel, der sich aus den Wolken herabbeugt und dem Märtyrer den Weg zum Himmel weist, ist eine höchst fleischliche, aus anderen Gefilden, jenen der italienischen Renaissance, stammende Gestalt. Gleichfalls wunderschön ist die Gruppe der vier Bilder vom Martyrium des heiligen Vinzenz. Und dann ist da noch das Ensemble der schönsten Stücke aus der Kirche Misericórdia, eine Pietà mit einem Christus, der aussieht, als hätte er im Tod wieder die Größe des Jesuskindes angenommen, um sich in den Schoß der Mutter schmiegen zu können, ein Engel mit einem Hostienteller in der Hand, eine Heimsuchung als Hochrelief. In einer unteren Etage sieht der Reisende – zum ersten Mal, soweit er sich erinnern kann – ein Gemälde des heiligen Sebastian nach der Abnahme vom Marterpfahl. Damen in höfischer Kleidung ziehen die Pfeile aus seinem Leib. Es mutet wie eine aristokratische Vergnügung an, und der Heilige scheint eher zu schlafen, als im Sterben zu liegen.
Alle diese Werke, gefertigt mit Pinsel oder Meißel, sagen direkt, was sie sind. Das trifft nicht auf den Brunnen einer Krippe zu, kleiner als eine Handfläche, an den Seiten so etwas wie riesige Ohren und darüber ein Fisch mit pfeilförmigem Schwanz. Dieses ist eindeutig ein Teufelswerk, denkt der Reisende, der immer dem Satan zuschreibt, was er nicht versteht. Der Künstler hat keinerlei Erklärung hinterlassen, vielleicht hatte er einen Hang zum Geheimnisvollen, oder seine Zeitgenossen wussten alle, dass Brunnen Ohren haben, so wie wir es heute von den Wänden sagen. Und dass in einem Brunnen, der Ohren hat, ein Fisch mit pfeilförmigem Schwanz schwimmt, das leuchtet ein. Doch der Reisende sagt all das, um seine Unwissenheit zu kaschieren.
Bevor er Óbidos verlässt, geht der Reisende noch in die Kirche Misericórdia, die über dem Portal eine opulente Fayence-Jungfrau und im Innern schöne Azulejos besitzt. Dann spaziert er um die Burg herum, betrachtet die Landschaft und entscheidet sich schließlich für die Seite, die sich weit und flach nach Norden bis zu der kleinen Anhöhe vor dem Horizont dehnt. Solche Betrachtungen haben den Vorteil, dass man einen Ort zwischen anderen situieren kann. Für den Reisenden ist Óbidos nicht nur eine Stadt mit Menschen, zu vielen Blumen in den Straßen und schönen Gemälden und Skulpturen. Es ist auch ein Teil der Landschaft, eine Erhebung, eine Falte aus Erde und Stein. Man könnte meinen, damit reduzierte sich die Dimension dessen, was die Menschen geschaffen haben. Doch so denkt der Reisende nicht.
Orte mit dem Namen Carvalhal gibt es viele in Portugal. Manche gepflegt, manche mittelgroß, manche rund, manche im Singular, andere im Plural, aber sie alle erinnern daran, dass es Zeiten gab, da wuchsen in Portugal Eichen zuhauf, diese wunderbaren Bäume, von denen keiner die Früchte wollte, aber alle das Holz. Um nützlich zu sein, musste die Eiche sterben. So viele wurden getötet, dass sie fast ausstarben. Mancherorts ist nur noch der Name übrig, und wie wir wissen, stirbt der Name zuletzt.
Dieses Carvalhal hat man früher, um es von den anderen zu unterscheiden, Carvalhal de Óbidos genannt. Hier gibt es einen Turm, den Turm der Lafetás, denn so wurde eine Familie genannt, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Cremona nach Portugal gekommen war und den Turm sowie andere Besitztümer ihr Eigen nannte. Dass diese Familie nach Portugal kam, soll nicht heißen, dass alle Lafetás kamen. Sie waren im 15. und 16. Jahrhundert steinreiche Bankiers, ein mächtiges Handelshaus, das seinen Geschäften in Portugal, Spanien, Frankreich, England und Flandern nachging. Die Affaitati, die Königen Geld liehen und mit Zucker und Pfeffer handelten, tauchen in dieser Geschichte auf, um daran zu erinnern, dass auch die Entdeckungen anderer Länder ein Riesengeschäft waren, vor allem aber wegen eines Sklaven, den sie in Carvalhal besaßen. In dem hiesigen Turm wurde vor langer Zeit ein Halsband gefunden, darin eingraviert die Worte: »Dieser Neger gehört Agostinho de Lafetá aus Carvalhal de Óbidos.« Der Reisende weiß nichts weiter über diesen Sklaven, dem man das Halsband vermutlich erst nach seinem Tod abgenommen hat. Dann lag es wohl irgendwo herum, vielleicht haben die Kinder von Agostinho de Lafetá und seiner Frau Dona Maria de Távora damit gespielt, und unter Umständen hat man nach seinem Vorbild jene Hundehalsbänder angefertigt, wie sie noch heute benutzt werden: »Ich heiße Pilot. Wer mich findet, benachrichtige bitte meinen Besitzer.« Dann folgt eine Anschrift und eine Telefonnummer. Trotzdem gibt es einen Fortschritt. Auf dem Halsband des Sklaven von Agostinho de Lafetá stand nicht einmal ein Name. Wie man weiß, hatten Sklaven keinen Namen. Wenn sie starben, hinterließen sie folglich nichts. Nur ihr Halsband, das dann für den nächsten Sklaven benutzt werden konnte. Wie viele Sklaven, fragt sich der Reisende fasziniert, mögen dieses Halsband getragen haben, immer dasselbe, solange es Sklavenhälse gab, um die es passte? Der Reisende erhält die Information, dass sich das Halsband in Lissabon befindet, im Museum für Archäologie und Völkerkunde. Er nimmt sich mit der dem Fall angemessenen Feierlichkeit selbst das Versprechen ab, dass ihn, wenn er nach Lissabon kommt, sein erster Gang dorthin führen wird. Eine so große, so reiche, so berühmte Stadt, in der alle einheimischen und auswärtigen Lafetás ihre diversen Geschäfte machten, kann man auf vielerlei Art angehen. Der Reisende wird mit einem Sklavenhalsband beginnen.
Um die Kirche Sacramento besichtigen zu können, muss er all seine Überredungskünste aufbieten. Die Frau mit dem Schlüssel begegnet ihm zunächst mit Misstrauen, obwohl sie, wie sie sagt, zugeben muss, dass der Reisende sympathisch aussieht, und nachdem sie sich schließlich hat überreden lassen, nimmt sie eine Begleiterin mit. Dem Reisenden wird erklärt, es habe zwei Diebstahlsversuche gegeben, und in der Nähe, in A dos Ruivos, seien alle oder fast alle Bilder gestohlen worden. Solche Klagen hat der Reisende im ganzen Land zu hören bekommen und so häufig, dass man den Eindruck hat, in den letzten Jahren sei mehr gestohlen worden als während der französischen Invasionen. Die Bilder in der Sakristei, aufgestellt auf dem, was vom Renaissance- Altaraufsatz übrig ist, sind interessant, vor allem das Abendmahl, auf dem die Tafel der Länge nach dargestellt ist, sowie die theatralische Wiederauferstehung. Von dort fährt der Reisende zur Kapelle Nossa Senhora do Socorro außerhalb des Ortes. Daneben steht ein Haus, doch dort ist nur ein Hund anwesend, ein wunderbares Tier, das, ganz gegen Hundegewohnheiten, den Reisenden freundlich begrüßt. Anscheinend langweilte er sich allein, denn er freut sich so sehr, dass man meinen könnte, er habe gedacht, der Besuch gälte ihm. Der Reisende ruft, und schließlich erscheint hinten vom Grundstück eine Frau. Nach der Begrüßung und den nötigen Erklärungen sagt der Reisende: »Ihr Hund passt aber gar nicht auf. Er hat mich begrüßt, als wäre ich ein alter Bekannter.« Worauf die Frau antwortet: »Was soll er denn machen, der Arme, er ist doch noch so jung.« Der Reisende überlegt und findet, das sei ein gutes Argument. Und der Hund auch, denn er hört gar nicht mehr auf zu wedeln.
Die Kapelle hat sehr schöne Kassetten mit dekorativen Motiven und sehenswerte Azulejo-Paneele mit Szenen aus dem Leben der Jungfrau Maria. Unten an einer der Umrandungen neben der Hauptkapelle findet sich die Inschrift, dass die Azulejos dort 1733 angebracht wurden, als ein gewisser António Gambino Richter im Ort war. Wohlgemerkt: Der Künstler hat sein Werk nicht signiert, aber der Richter, der es bezahlt hat, mit dem Geld der Gemeindemitglieder, versteht sich, konnte sich in seiner Eitelkeit nicht bremsen und ließ seinen Namen in Schönschrift für die Nachwelt anbringen. Fortan dürfte António Gambino, ganz verzückt beim Anblick seines eigenen Namens, den Gottesdiensten wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Na gut, weit Schlimmeres hat Herostratos getan, als er, um seinem Namen Unsterblichkeit zu sichern, im Artemistempel von Ephesus Feuer legte.
Der Reisende stellt fest, dass er heute einen starken Hang zur Geschichte hat. Er hat von italienischen Kaufleuten und portugiesischen Entdeckern gesprochen, von französischen Invasoren und griechischen Brandstiftern, von Juden, die Enthauptungen befahlen, und Sklaven, die um den Hals das Zeichen einer anderen Enthauptung trugen, und das alles mit der Leichtigkeit dessen, der das Terrain, auf dem er sich bewegt, nicht weiter vertiefen muss. Also begibt er sich nun auf die Straße, die alle benutzen, um von Bombarral nach Lourinhã zu gelangen, wo es das berühmte Bild des heiligen Johannes auf Patmos zu sehen gibt. Dieser heilige Johannes, überflüssig zu sagen, ist der Evangelist, und er befindet sich auf der Insel Patmos, um die Apokalypse zu schreiben. Wer das Bild gemalt hat, ist nicht bekannt. Man nennt ihn den Meister von Lourinhã, denn irgendeinen Namen musste er haben, damit das Einordnungsbedürfnis der Betrachter befriedigt werden konnte. Das Bild ist wunderbar, mit seinem Hintergrund aus Häusern und Mauern, Straßen, in denen Menschen ihrem jeweiligen Tun nachgehen, als läge vor ihnen ein ewig währendes Leben, so wie es heute ist, wenn es besser schon nicht werden kann, während der Heilige über das Ende der Zeit schreibt. Der Reisende ist davon überzeugt, dass der Meister von Lourinhã niemals die Apokalypse gelesen hat, sonst hätte er nicht diese ruhige Stimmung gemalt, den so friedlichen breiten Fluss, die Barken und Galeonen, die windstillen Bäume. Um einen heiligen Johannes beim Verfassen der Apokalypse zu malen, bedurfte es eines Bosch, und selbst dieser ist auf seinem Bild, das in Berlin-Dahlem hängt, nicht so weit gegangen, wie das Thema es erforderte.
Ebenfalls exzellent, wenn auch nicht so bekannt, ist Johannes der Täufer, der im selben Raum, der Sala do Despacho da Misericórdia, neben anderen Gemälden gezeigt wird. Darunter entdeckt der Reisende ein Bild von der Jungfrau Maria aus dem 16. Jahrhundert, umrandet von liturgischen Symbolen, die ohne Rücksicht auf Zusammenhänge angeordnet sind, vermutlich nur zu rein didaktischem Zweck: Bei der Betrachtung des Bildes kann jeder Gläubige die Attribute der Maria erkennen und sich über die visuelle Darstellung einen Ausdruck einprägen, der so leicht ungehörig verballhornt werden kann wie in dem Roman A Morgadinha von Júlio Dinis, wo die Tanten von Henrique de Souselas turris eburnis zu turris e burris machen.
Der Reisende muss seine Neigung zum Abschweifen zügeln. Zum Glück zieht der feierliche runde Konferenztisch mit vier gleichen, im Bogen angeordneten Stühlen und einem separaten, dem des Vorsitzenden, seine Aufmerksamkeit auf sich. Es sind hervorragend gearbeitete Möbel. Die Tischplatte dreht sich auf ihrer Achse, der Reisende versteht nicht, warum, und denkt, das sei eine Macke, wie sie nach vielen Jahren entstehen. Worauf ihm freundlich erklärt wird, das sei keine Macke, sondern die Machart: Die Platte drehte sich, damit alle, die am Tisch saßen, im Protokollbuch unterschreiben konnten, ohne sich erheben zu müssen. Der Urahn des Fließbandes befindet sich also hier, in der Misericórdia von Lourinhã.
Wieder fährt der Reisende ans Meer, an den Strand Santa Rita, wo hoch über der Felsenküste ein grässliches Hotel aufragt. Wäre hier das Kap der Stürme, dann hätte Vasco da Gama sich vor diesem Beton-Adamastor so sehr gefürchtet, dass er es nicht zu umsegeln vermocht hätte. Und es ist ein Jammer bei dieser schönen Landschaft von Vimeiro bis hierher, die Straße folgt dem Flusslauf des Alcabrichel und spielt mit ihm zwischen Baumgruppen Versteck. Der Reisende bestellt in einem trübsinnigen Lokal ein Erfrischungsgetränk – es ist lauwarm. Das Meer indes entgeht solcher Beschimpfung, das Wasser ist bestimmt kalt, hätte der Reisende es nicht so eilig, würde er es vielleicht wagen, sich die Füße benetzen zu lassen.
Auf der Weiterfahrt nach Süden macht sich der Reisende Sorgen. Das Bild des Hotels lässt ihn nicht los. Die Felsklippe sieht fraglos stark aus, doch wird sie das auf Dauer aushalten? Die Frage hat nichts mit dem Gewicht des Gebäudes zu tun, sondern damit, dass jeder ehrwürdige Felsen das Recht hat, physisch und moralisch unerträgliche Belastungen von seinen geschundenen Schultern abzuwerfen. Dann denkt der Reisende daran, wohin er gerade unterwegs ist, und seufzt vor Erleichterung, allerdings auch resigniert. Auf halber Strecke liegt noch Ericeira, wo er sich mit Freuden die bemalte Kassettendecke der Pfarrkirche ansehen wird, doch gleich da vorn, so riesig, dass man es aus dieser Entfernung sieht und fast die Öffnungen in der Fassade zählen kann, steht das Kloster von Mafra. Der Reisende kann nicht ausweichen. Er fährt wie hypnotisiert, kann nicht mehr denken. Und als er endlich aussteigt und sieht, welche Entfernung er noch bis zum Vestibül der Kirche, der Freitreppe, dem Vorplatz zurücklegen muss, wird er fast ohnmächtig. Dann aber denkt er an Fernão Mendes Pinto, der so ferne Länder bereist hat, so manches Mal zu Fuß und auf miserablen Wegen, und mit diesem guten Vorbild im Kopf hängt er sich den Rucksack um und macht sich heroisch auf.
Das Kloster von Mafra ist groß. Groß ist das Kloster von Mafra. Das Große an Mafra ist das Kloster. Drei Möglichkeiten, es zu sagen, vielleicht gibt es noch ein paar mehr, und alle lassen sich auf die einfache Aussage reduzieren: Das Kloster von Mafra ist groß. Man könnte meinen, der Reisende mache sich einen Jux, dabei weiß er nur nicht, wie er diese über 200 Meter breite Fassade, die Gesamtfläche von 40 000 Quadratmetern, die 4500 Türen und Fenster, die 880 Räume, die 62 Meter hohen Türme, die Erkertürme und die Kuppel der Basilika erfassen soll. Der Reisende sucht ungeduldig nach einem Fremdenführer und klammert sich an ihn wie ein Schiffbrüchiger kurz vorm Ertrinken. Diese Führer sind das vermutlich längst gewohnt. Sie sind geduldig, erheben nicht die Stimme, führen die Besucher sehr behutsam herum, denn sie wissen, welchen schweren Traumata diese sich hier aussetzen. Sie mindern die Zahl der Räume, Türen und Fenster, überlassen ganze Flügel der Stille, und an Informationen geben sie nur, was offensichtlich ist und weder das Gehirn überfordert noch die Sensibilität abstumpfen lässt. Der Reisende sieht den Vorraum der Kirche mit den aus Italien stammenden Statuen – es mögen Meisterwerke sein, wer ist der Reisende, das in Frage zu stellen, doch sie lassen ihn vollkommen kalt. Und die Kirche, ein riesiger Raum, aber falsch proportioniert, kann ihn auch nicht für sich erwärmen.
Auf der bisherigen Reise hat es an Heiligen nicht gemangelt, doch insgesamt waren es vielleicht nicht so viele, wie es hier gibt. In Dorfkirchen und anderen, größeren, wird ein halbes Dutzend Heilige verehrt, und etliche davon hat der Reisende gefeiert und gepriesen, manchmal sogar die ihnen nachgesagten Wunder geglaubt. Vor allem hat er gesehen, dass sie mit Liebe geschaffen wurden. Der Reisende hat sich so manches Mal von wenig kunstvoll gearbeiteten Bildnissen anrühren lassen, viele künstlerisch vollendete Werke haben ihn so tief beeindruckt, dass ihm Schauer über den Rücken liefen, doch dieser heilige Bartholomäus aus Stein, der seine abgezogene Haut zeigt, wirkt auf ihn undefinierbar abstoßend. Die Religion, für die die Heiligen in der Kirche von Mafra stehen, ist eine Religion von Frömmlern, nicht von Gläubigen.
Die Worte des Führers summen wie Wespen. Er weiß aus Erfahrung, wie er die Besucher einlullen, sie betäuben kann. Der Reisende in seiner Verwirrung ist ihm dankbar. Inzwischen haben sie die Kirche verlassen, steigen endlose Treppen hinauf, der Reisende erinnert sich vage (wie hält der Führer das aus?), das Schlafzimmer der Königin Dona Maria I. in kostbarem Empire gesehen zu haben, den Jagdtrophäensalon, den Audienzsalon, die Krankenstation der Mönche, die Küche, diesen Salon, jenen Salon, Salon, Salon. Und hier ist die Bibliothek: 83 Meter lang, Bücher, die man vom Eingang her kaum erkennen kann und erst recht nicht anfassen, um zu sehen, welche Geschichten sie erzählen, der Führer gibt nach kurzer Zeit das Zeichen zum Weitergehen. Noch einmal zeigt er die Kirche, dieses Mal von einem hohen Fenster aus, und der Reisende weicht nur deshalb nicht zurück, weil er ihn nicht enttäuschen möchte. Der Führer sieht blass aus, und da begreift der Reisende, dass dieser Mann aus dem gleichen Lehm ist wie alle Sterblichen, Höhenangst hat, unter Schlafstörungen leidet und Magenbeschwerden hat. Man ist nicht ungestraft Führer im Kloster von Mafra.
Der Reisende ist hinausgegangen. Der Himmel strahlt blau, Gott sei es gedankt, die Sonne scheint, und es geht sogar ein sanft streichelndes Lüftchen. Nach und nach kehrt der Reisende ins Leben zurück. Und um sich endgültig zu erholen und nicht über Mafra zu verzweifeln, geht er die Kirche Santo André besichtigen, das älteste Opfer des Klosters. Es ist ein großer Bau vom Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts von klarer Schönheit, die romanischen und gotischen Elemente verbinden sich zu einem harmonischen Ganzen, das die Seele besänftigt. Die Schönheit ist also doch nicht tot.