Vor den Toren von Lissabon

Wegen einiger Worte, die er im Palast von Sintra gehört hat, denkt der Reisende über den König nach, der dort neun Jahre lang gefangen gehalten wurde, Afonso getauft und der sechste seines Namens. Die einfachen Leute aus dem Volk nehmen sich immer sehr zu Herzen, wenn ihre Könige und Prinzen böse Schicksalsschläge erleiden, und die Vorstellung, dass ein legitimer König zwischen vier Wänden eingesperrt ist, immer auf und ab läuft, bis das Mosaik auf dem Fußboden abgenutzt ist, hätte fast nachträglich fraglos unangebrachte Empörung ausgelöst. Dieser Afonso VI. war nicht nur ziemlich schwachsinnig, er litt auch noch an anderen Defiziten und besaß nicht einmal das Minimum an Manneskraft, das man von Königen erwartet, damit sie die Erbfolge sichern. Nun gut, das sind Geschichten von Familien mit krankem Blut, die auch durch Wiederholung nicht besser werden. Die Dynastie Aviz erlosch mit einem degenerierten Dom Sebastião und einem altersschwachen Kardinal-Regenten, und das Haus Bragança hatte nach dem Tod des brillanten Dom Teodósio keinen besseren auf den Thron zu setzen als einen halb gelähmten Geistesschwachen, der sich Dirnen hielt. Der Reisende hätte gern Mitleid mit dem Mann empfunden, doch hält ihn davon der Gedanke an den grausamen Machtkampf im Palast ab, an dem sich alle beteiligten, König, Königin, Infant, italienischer und französischer Günstling sowie Minister, während im Land das einfache Volk geboren wurde, arbeitete, starb und die Zeche zahlte. Es hat Gefangene gegeben, denkt der Reisende, die mehr Achtung verdienten. Man sollte nicht alle über einen Kamm scheren.

In Cascais geht der Reisende ins Museum Castro Guimarães, um sich Lissabon anzusehen. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist aber die reine Wahrheit. Hier befindet sich die Crónica de Dom Afonso Henriques von Duarte Galvão, auf deren Frontispiz eine minuziös gemalte Illumination die Hauptstadt des Reiches innerhalb ihrer Mauern im 16. Jahrhundert zeigt. Schiffe aller Art und Größe – naus, Karavellen, Kähne – segeln kreuz und quer über den Fluss, ohne jedoch zu kollidieren. Der Illuminator kannte sich mit Winden nicht sehr gut aus oder aber so gut, dass er sie nach Belieben dirigieren konnte. Im Museum gibt es noch mehr zu sehen, doch den Reisenden interessiert in erster Linie das Bild einer verschwundenen, in der Zeit versunkenen, von Erdbeben dem Boden gleichgemachten Stadt, die sich, indem sie wächst, selbst verschlingt.

Dieser Küstenstreifen ist vor allem bei Touristen beliebt. Der Reisende ist kein Tourist, sondern ein Reisender. Das ist ein großer Unterschied. Reisen heißt entdecken, alles andere ist nur Vorfinden. Deshalb versteht sich, dass er ohne längeren Aufenthalt an diesen hübschen Stränden vorbeifährt, und falls er sich entschließt, bei Estoril kurz in die sanften Wellen zu tauchen, wird er sich darüber nicht auslassen. Der Reisende liebt zwar Parks und Grünanlagen, doch der blumengeschmückte Hang, der sich vom Kasino zum Strand hinunter erstreckt, ist nicht zum Promenieren gedacht, er wirkt eher wie ein Palastteppich, um den Besucher ehrfürchtig einen Bogen machen. Und in den stillen Straßen, die sich an den steilen Hängen ineinanderflechten, finden sich nur Mauern und verschlossene Pforten, Zäune und Buchsbaumhecken. Dies hier ist nicht Lamego, hier wird kein angetrunkener Mann auftauchen, dem Reisenden ein Zimmer zum Übernachten anbieten und über die höhere Bestimmung der Menschheit philosophieren. Dem Reisenden fällt ein, dass in der Nähe Überreste von Knochen und Schädeln gefunden wurden, die über Jahrtausende verborgen waren, dazu Steinbeile, Meißel und Dechsel sowie andere kleine Arbeits- oder Kultgeräte; dann blickt er auf die luxuriösen Hotels, die abweisende Grünanlage, die Passanten und Spaziergänger und kommt endgültig zu dem Schluss, dass die Welt kompliziert ist. Nach einer so originellen Schlussfolgerung muss erwähnt werden, dass der Reisende sich einen Sprung ins Meer versagt und das auch getan hätte, wenn er im Kasino die Bank gesprengt hätte.

Vor ihm liegt nun also Lissabon. Doch ehe er sich in das Abenteuer begibt, das ihm tief innerlich etwas Bange macht, fährt der Reisende in den am Mündungsufer des Tejo liegenden Ort Carcavelos, um sich dort anzusehen, was nur sehr wenige kennen von der Million Menschen, die in Lissabon leben, von den Tausenden, die zum Baden an den Strand kommen, und das ist, um es zum Schluss zu bringen, die Pfarrkirche. Von außen gäbe niemand etwas auf sie – vier Wände, eine Tür, obendrauf ein Kreuz. Ein Jansenist würde sagen, mehr braucht man auch nicht, um Gott zu verehren. Zum Glück war der Erbauer dieser Kirche anderer Ansicht. In ihrem Innern befindet sich eine der herrlichsten polychromen Azulejo-Dekorationen, die dem privilegierten Reisenden je vor Augen gekommen sind. Mit Ausnahme der Kuppel über dem Transept sind sämtliche Wände, Bögen und Fensternischen mit diesem unvergleichlichen, heute so unglücklich verwendeten Material verkleidet. Da der Reisende in der Nähe wohnt, nimmt er sich vor, hierher zurückzukommen, und zwar noch viele Male. Ein größeres Kompliment kann es nicht geben.

Vermutlich wäre es unangebracht, nicht nach Queluz zu fahren. Also fährt er und überwindet seine Antipathie gegen zwei Monarchen, die dort gelebt haben: Dom João VI., der, wenn er von sich selbst sprach, sagte: »Seine Majestät hat Bauchschmerzen« oder »Seine Majestät möchte Schweinsohren essen«, und Dona Carlota Joaquina, eine Frau mit schlechtem Benehmen, Intrigantin und obendrein noch hässlich wie die Nacht. Die Unterhaltungen zwischen diesen beiden müssen ziemlich amüsant gewesen sein und geradezu komisch, wenn sie sich auf die Pfade des Gefühls begaben. Doch der Reisende ist, was Privatleben betrifft, sehr diskret, und er ist nicht auf Reisen, um sich hinterher wie ein ordinäres Klatschmaul aufzuführen – lassen wir also die Königin mit ihren Lakaien-Liebhabern und den König mit seinen Verdauungsproblemen und sehen uns an, was dieser Palast zu bieten hat. Von außen wirkt er wie eine Kaserne oder wie ein großes rosa Bonbon, wenn der Betrachter in dem nach Neptun benannten Garten steht. Im Innern befindet sich die übliche Reihe von offiziellen Räumen und Privatgemächern: das Musikzimmer, der Thronsaal, der Teesalon, das Boudoir der Königin, die Kapelle, das Schlafzimmer von dem und von der, das königliche Bett, der Dom-José-Stuhl, die venezianischen Kronleuchter, das Holz aus Brasilien, der Marmor aus Italien. Wirkliche, seriöse Kunst ist praktisch nicht vorhanden; dekorative, oberflächliche Kunst, die nur das Auge ablenkt und das Hirn nicht beschäftigt, solche Kunst findet sich hier überall. Und der Reisende lässt sich von der Litanei des Fremdenführers einlullen, der der braven Herde der heutigen Besucher den Weg durch den Palast und zu ein paar Kenntnissen bahnt, schlafwandlerisch trottet er mit, während er den alten Groll wieder hochkommen fühlt, bis er plötzlich wie aus dem Schlaf gerissen wird.

Er befindet sich im Saal Don Quichotte, in dem Dom Pedro IV. zur Welt gekommen und gestorben sein soll. Nicht dieser Anfang und dieses Ende gehen dem Reisenden nahe – es fehlte gerade noch, über so gewöhnliche Dinge Tränen zu vergießen. Was ihn tatsächlich erregt, ist die Ungehörigkeit, Szenen aus dem Leben des armen Ritters von La Mancha, des eifrigen Hüters von Ehre und Gerechtigkeit, des von Leidenschaft Besessenen und Erfinders von Riesen in diesen Palast von Queluz zu malen, der das Rokoko auf portugiesische Art und den Neoklassizismus auf französische Art interpretiert und mehr danebengegriffen als getroffen hat. Manchmal wird großer Missbrauch getrieben. Der glücklose Don Quichotte, der aus Bedürfnis und Überzeugung wenig aß und übermäßig viele Entbehrungen litt, wurde zwangsweise an den Hof einer Königin gebracht, die von Anstand nichts hielt, und eines Königs, der Fasan und Schweinshaxe nicht widerstehen konnte. Falls es stimmt, dass Dom Pedro hier geboren wurde, und falls er, abgesehen von familiären und dynastischen Interessen, die es zu wahren galt, wirklich freiheitsliebend war, dann hat Don Quichotte de la Mancha getan, was er konnte, um sich für die Beleidigung zu rächen, dass man ihn auf diese Wände hier gemalt hat. Grün und blau geschlagen, den Körper auf den malträtierten Armen halb aufrichtend, mit nahezu trübem Blick von der Ohnmacht, aus der er erwacht ist oder in die er fallen wird, hört er den ersten Schrei des Kindes und sagt zu ihm in Cervantes’ schöner Sprache, was der Reisende hier übersetzt: »Hör zu, Kleiner, wenn ich schon hier sein muss, sieh zu, dass du mir keine Schande machst.« Und wenn es zutrifft, dass Dom Pedro zum Sterben hierherkam, wird derselbe Don Quichotte, nun auf seinem Pferd sitzend, als wollte auch er sich aufmachen, den Arm zum Abschiedsgruß gehoben und im allerletzten Augenblick zu ihm gesagt haben: »In Ordnung, du hast es ganz gut gemacht.« Tröstlichere Worte könnte man, aus einem solchen Mund und an einen einfachen König gerichtet, nicht erwarten.

Die Portugiesische Reise
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