Wo Camilo nicht ist

Dem Reisenden wurde oft gesagt, Guimarães sei die Wiege der Nation. Er hat es in der Schule gelernt und bei diversen Reden gehört, Grund genug also, sich als Erstes in Richtung des heiligen Hügels zu begeben, wo die Burg steht. Früher durfte auf dem Gelände ringsum keine größere Vegetation wachsen, um den Heerscharen bei ihren Ausfällen kein Hindernis zu sein und damit sich die Feinde dort nicht verstecken konnten. Heute befindet sich hier ein Park mit sorgfältig angelegten Alleen und üppigen Hainen, ein schöner Ort für Frischverliebte. Der Reisende, der mit seinem Respekt vor der Geschichte immer etwas übertreibt, sähe den Hügel am liebsten ganz kahl, mit seinen achthundert Jahre alten, lediglich von unverwüstlichen Gräsern bewachsenen Felsen. So, wie es jetzt ist, entgeht einem der ehrwürdige Schatten Afonso Henriques’, man findet den Weg zum Eingang nicht, und wenn man dann vor lauter Ungeduld querfeldein abzukürzen versucht, kann man sich des städtischen Aufpassers gewiss sein, der von irgendwoher brüllt: »Hallo, Sie da, wo wollen Sie denn hin?« Woraufhin unser erster König erwidert: »Zur Burg. Mein Pferd ist die vielen Kurven müde.« Der Gärtner sieht weit und breit kein Pferd, antwortet aber verständnisvoll: »Führen Sie es am Zügel diesen Weg hier entlang, da können Sie sich nicht verlaufen. « Und während Afonso Henriques sich entfernt und sein in Badajoz verletztes Bein hinter sich herzieht, sagt der Gärtner zu seinem Assistenten: »Leute gibt es.«

Während er sich diese und andere Episoden der Geschichte seines Landes ausmalt, betritt der Reisende die Burg. Von außen gesehen erschien sie sehr viel größer. Drinnen wirkt die Anlage sehr klein, ein Eindruck, der durch die dicken Mauern und den groben Bergfried mit Resten der Zitadelle noch verstärkt wird. Ein kleines lusitanisches Haus. Der Reisende sucht nach Spuren von Ergriffenheit in sich und ist enttäuscht, sie nicht so deutlich wie erhofft zu finden. Welches sind inmitten all dieser Steine die bedeutsamsten? Viele wurden vor kaum mehr als vierzig Jahren hierhingesetzt, andere stammen aus der Zeit Dom Fernandos, und von der Erde und dem Holz, mit denen die Gräfin Mumadona diesen Ort ausstattete, ist nichts geblieben bis auf den feuchten Staub vielleicht, der an den Fingern des Reisenden hängen bleibt, wenn er die Hosenbeine ausschüttelt. Der Reisende wünscht sich, der Fluss der Geschichte dränge in seine Brust, und stattdessen ist es nur ein kleines Rinnsal, das immer wieder versiegt und im Sand des Vergessens verschwindet.

So steht er da zwischen den falschen Mauern, seufzt frustriert, senkt niedergeschlagen den Kopf und blickt auf den Boden, und mit einem Mal ist alles klar, so nah lag die Erklärung für alles, und er hat sie nicht gesehen. Er steht mit beiden Füßen auf den großen rohen Steinen, über die Afonso Henriques und seine Gefolgsleute gelaufen sind, wer weiß, vielleicht liegt genau an dieser Stelle jemand begraben, irgendein Martim oder Álvaro, der in der Geschichte keine Erwähnung findet, und jetzt weiß er, dass nicht die Burg die Wiege ist, sondern der Stein, der Boden, der Himmel darüber und dieser böenartige Wind, der Atem aller Worte, die je in dieser Sprache gesprochen wurden, allererster und letzter Seufzer, das Rauschen des tiefen Flusses, der das Volk ist. Der Reisende hat nicht mehr das Bedürfnis, hinauf auf den Rundgang zu steigen oder oben auf den Turm, um noch mehr von der Landschaft zu sehen. Hier auf diesem Stein, den all die Stiefel und nackten Füße unbeschadet ließen, versteht er alles, oder meint es zumindest, und das reicht ihm, jedenfalls für heute.

Der Reisende geht hinaus, verabschiedet sich von Afonso Henriques, der neben der Tür seinem Pferd den Schweiß von der langen Reise abwischt, geht hinunter zur Kirche São Miguel do Castelo, die geschlossen ist, und dann zum übermäßig restaurierten Palast der Herzöge von Bragança. Der Reisende hat den Eindruck, dass man hier der Architektur denselben mittelalterlich angehauchten Stempel aufgedrückt hat, wie es die vielbeschäftigten professionellen Bildhauer zwischen den vierziger und sechziger Jahren getan haben. Es geht hier nicht um den künstlerischen Wert des Palastes und auch nicht um seine ursprünglich gallische Anmutung, sondern um die Tatsache, dass alles wie frisch angemalt aussieht, selbst die unleugbar antiken Dinge wie die Gobelins und Pastrana-Teppiche, der Waffensaal, die Möbel und die Heiligenbilder. Vielleicht trägt der Reisende noch den Stein aus der Burg auf den Schultern und kann deswegen den Palast nicht verstehen. Er verspricht, eines Tages wiederzukommen und das Unrecht, das er im Begriff ist zu begehen, wiedergutzumachen.

Es ist Zeit, die Museen zu besichtigen. Der Reisende beginnt mit dem ältesten, dem von Martins Sarmento, wo Funde der vorrömischen Siedlungen Briteiros und Sabroso zu sehen sind. Stein für Stein könnte er sie endlos betrachten und sich niemals an ihnen sattsehen, trotz seiner begrenzten wissenschaftlichen Kenntnisse. Wunderbar die Statuen der lusitanischen Krieger, der mächtige Koloss von Pedralva, das Granitschwein, ein Verwandter des Schweins von Murça und anderer Schweine aus Trás-os- Montes, und schließlich die Tür des Krematoriums von Briteiros, der zu Recht so genannte Pedra Formosa, der schöne Stein, mit seinem in geometrischen Formen gewundenen Zierrat. Der Rest des Museums, die weniger antiken Ausstellungsstücke, einige von ihnen stammen gerade mal von gestern, ist nicht weiter sehenswert. Der Reisende ist guter Dinge und macht sich auf den Weg zum Museu de Alberto Sampaio.

Der Reisende kann jetzt schon sagen, dass dieses hier eines der schönsten Museen ist, die er je gesehen hat. Andere haben vielleicht größere Sammlungen, besonders berühmte Einzelstücke oder Ornamente von feinerer Herkunft: Das Museu de Alberto Sampaio aber hält ein perfektes Gleichgewicht zwischen seinen Ausstellungsstücken und deren räumlicher und architektonischer Umgebung. Die Zurückgezogenheit und die ungleichmäßige Form des Kreuzganges im Kloster der Nossa Senhora da Oliveira fesseln den Reisenden, am liebsten würde er ewig hier bleiben und sich ausgiebig die Kapitelle und Spitzbögen ansehen, und da es überall sowohl schlichte als auch handwerklich ausgereifte Figuren zu sehen gibt, die alle durchweg wunderschön sind, läuft der Reisende Gefahr, zu erstarren und sich keinen Schritt mehr fortzubewegen. Was ihn rettet, ist die Ankündigung des Fremdenführers, in den anderen Räumen gäbe es weitere Herrlichkeiten zu bestaunen, und tatsächlich, es sind so viele, dass man ein ganzes Buch brauchte, um alle zu beschreiben: der Silberaltar von Dom João I. und das Kettenhemd, das er in Aljubarrota trug, die Santas Mães, die Flucht nach Ägypten aus dem 19. Jahrhundert, die Santa Maria a Formosa von Mestre Pero, die Heilige Jungfrau mit Kind von António Vaz, mit dem aufgeschlagenen Buch, dem Apfel und den beiden Vögeln, das Bild von Frei Carlos, auf dem der heilige Martin, der heilige Sebastian und der heilige Vinzenz zu sehen sind, und tausend andere wunderbare Gemälde, Statuen, Keramiken und Silbergeschirr. Für den Reisenden steht fest, dass das Museu de Alberto Sampaio eine der wertvollsten Sammlungen von Heiligenbildern Portugals sein Eigen nennen darf, nicht aufgrund der Vielzahl, sondern des überaus hohen ästhetischen Niveaus der meisten Exponate, von denen einige wirkliche Meisterwerke sind. Dieses Museum ist jeden Besuch wert, und der Reisende verspricht, immer wiederzukommen, wenn es ihn nach Guimarães verschlägt. Auf die Burg oder den Herzogspalast würde er verzichten, selbst wenn er es versprochen hätte, aber nicht auf das Museum. Der Fremdenführer und der Reisende verabschieden sich, voller Wehmut, denn er war der einzige Besucher. Aber im Sommer werden sicher ein paar mehr kommen.

Wir alle machen Fehler. Nachdem er das Museum verlassen hat, geht der Reisende durch die alten Straßen, sieht sich das alte Rathaus an sowie das Salado-Denkmal, und als er die Praça do Toural erreicht hat, versündigt er sich unfreiwillig gegen die Schönheit. Dort steht eine Kirche, deren Namen der Reisende am liebsten aus der Erinnerung löschen würde, denn sie ist ein Angriff auf den allgemeinen guten Geschmack und den Respekt, den jede Religion verdient: eine frömmlerische Atmosphäre par excellence. Der Reisende war gut gelaunt hineingegangen und kommt voller Ekel heraus. Im Museum hat er die Santas Mães gesehen und die rosengekrönte Jungfrau, die ebenfalls dort steht – weder die eine noch die anderen verdienten solch eine Beleidigung und Enttäuschung. Er hat noch längst nicht alles von Guimarães gesehen, aber der Reisende zieht es vor, weiterzufahren.

Am nächsten Morgen regnet es. So ist das Wetter, gerade noch scheint die Sonne, und einen Augenblick später gießt es in Strömen. Mit einigen Unterbrechungen regnet es bis Santo Tirso, aber als der Reisende nach Antas kommt, das ganz in der Nähe von Vila Nova de Famalicão liegt, klart es schließlich auf. Die ganze Gegend sieht aus wie ein einziger Vorort; übersät mit Häusern, hier ist der Fokus einer industriellen Ausbreitung zu spüren, die von Porto ausgeht. Die Pfarrkirche von Antas, romanisch, aus dem 14. Jahrhundert, taucht daher etwas unvermutet auf, sie scheint nicht recht in diese Gegend zu passen, deren ländlicher Charakter im Begriff ist, sich aufzulösen, weniger jedenfalls als noch das abwegigste Phantasieprodukt eines »Hauses/maison mit fenêtres/Fenstern« ehemaliger Gastarbeiter. Seit er Trás-os-Montes verlassen hat, ist der Reisende bemüht, den über die Landschaft verteilten Scheußlichkeiten aus dem Weg zu gehen, den vier- oder achtfarbigen Giebeln, den Badezimmerkacheln auf Hauswänden, den schweizerischen Dächern und französischen Mansarden, den in Kreuzform am Straßenrand errichteten Loire-Burgen, den unvorstellbaren Zementmengen, dem Furunkel, dem Papageienkäfig, dem gewaltigen kulturellen Verbrechen, das hier begangen und zugelassen wird. Aber jetzt, die karge, reine Schönheit der Kirche von Antas vor den schmerzerfüllten Augen und gleichzeitig diese Ansammlung kretinhafter Architektur, jetzt kann der Reisende nicht weiter so tun, als sähe er nichts, er kann nicht weiter nur von Wohlgefallen und Lobreden sprechen, sondern muss seinen Protest gegen die für den allgemeinen Verfall Verantwortlichen zum Ausdruck bringen.

Wo ist São Miguel de Seide? Ein paar großzügige Schilder weisen in die Richtung, aber dann, einige Straßen weiter, kommt der Name kaum noch vor, die Pfeile verschwinden einfach, und es geschieht etwas Unvorstellbares: Der Reisende fährt an dem Haus von Camilo Castelo Branco vorbei, ohne es zu sehen. Drei Kilometer weiter, an einer rätselhaften Kreuzung, fragt er einen Mann nach dem Weg, der vielleicht aus Gründen der Nächstenliebe dort steht, nämlich um verirrten Reisenden weiterzuhelfen, und der antwortet: »Da müssen Sie ein Stück zurückfahren. Bis zu dem Platz, wo die Kirche und der Friedhof sind.« Verschämt kehrt der Reisende um und landet schließlich bei dem Haus. Es ist Mittagszeit, der Aufseher macht Pause, und der Reisende muss warten. Während er wartet, läuft er ein wenig umher und wirft einen Blick durch das Tor, hier hat Camilo Castelo Branco gelebt, und hier ist er gestorben. Der Reisende weiß, dass das richtige Haus 1915 abgebrannt ist, dass dieses hier so wenig original ist wie die Zinnen der Burg von Guimarães, aber er hofft, dass es drinnen etwas gibt, das ihn genauso berührt wie der ursprüngliche Boden, den die Mauern umgeben. Der Reisende ist ein Mann, der sich gern an die Hoffnung klammert.

Da kommt der Aufseher. »Guten Tag«, sagt der eine. »Guten Tag«, der andere. »Ich würde gern das Haus besichtigen.« »Aber gern.« Das Tor geht auf, und der Reisende tritt ein. Hier ist Camilo gewesen. Die Bäume waren andere, die Pflanzen auch und wahrscheinlich auch die Pflastersteine. Da ist die Akazie von Jorge neben der Treppe, und die ist echt. Der Reisende geht hinauf, der Aufseher erzählt Dinge, die ihm bereits bekannt sind, und jetzt kommen sie in den ersten Stock. Der Reisende merkt, dass er keine Wunder zu erwarten hat. Die Atmosphäre ist ohne jeden Glanz, die Möbel und anderen Dinge, so echt sie auch sein mögen, tragen die Spuren anderer Orte, an denen sie aufbewahrt wurden, und fühlen sich jetzt fremd hier, sie erkennen diese Wände nicht wieder und die sie auch nicht. Als das Haus abbrannte, waren hier nur ein Bild von Camilo und das Sofa, auf dem er starb. Beide wurden gerettet. So kann also der Reisende das Sofa betrachten und auf ihm Camilo Castelo Branco sitzen sehen. Und sicher ist, dass das Inventar, die Gegenstände, die Autogramme, die Bilder an der Wand, all das, entweder tatsächlich oder zumindest vermutlich Camilo gehört haben. Woher also die bittere Melancholie, die den Reisenden überkommt? Ist es das bedrückende Ambiente, der unsichtbare Muff, der alles zu überdecken scheint? Ist es das tragische Leben, das in diesen Räumen gelebt wurde? Die Verzweiflung einer gescheiterten Existenz, wenn auch mit einem ruhmreichen Werk gesegnet. Was auch immer. In diesem Bett schlief Camilo, hier hat er geschrieben. Aber wo ist Camilo? Die Höhle von Teixeira de Pascoaes in São João de Gatão ist dagegen fast erschreckend, so etwas hätte auch Camilo verdient. São Miguel de Seide ist eine bürgerliche Wohnung aus dem 19. Jahrhundert in der Rua de Santa Catarina in Porto oder in der Rua dos Fanqueiros in Lissabon. Seide ist viel eher das Haus von Ana Plácido als das von Camilo. Seide bewegt nicht, es macht traurig. Vielleicht meint der Reisende deswegen, es sei Zeit, ans Meer zu fahren.

Die Portugiesische Reise
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0004_split_002.html
part0004_split_003.html
part0004_split_004.html
part0004_split_005.html
part0004_split_006.html
part0004_split_007.html
part0004_split_008.html
part0004_split_009.html
part0004_split_010.html
part0004_split_011.html
part0004_split_012.html
part0004_split_013.html
part0004_split_014.html
part0004_split_015.html
part0004_split_016.html
part0004_split_017.html
part0004_split_018.html
part0005_split_000.html
part0005_split_001.html
part0005_split_002.html
part0005_split_003.html
part0005_split_004.html
part0005_split_005.html
part0005_split_006.html
part0005_split_007.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0006_split_003.html
part0006_split_004.html
part0006_split_005.html
part0006_split_006.html
part0006_split_007.html
part0006_split_008.html
part0006_split_009.html
part0006_split_010.html
part0006_split_011.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0008_split_003.html
part0008_split_004.html
part0008_split_005.html
part0008_split_006.html
part0008_split_007.html
part0008_split_008.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html