Das Volk der Steine
In seiner Jugend besaß der Reisende eine Begabung, die er später verlor: Er konnte fliegen. Da ihn aber diese Gabe grundlegend vom Rest der Menschheit unterschied, bewahrte er sie sich für die geheimen Stunden des Schlafes auf. Mitten in der Nacht flog er aus dem Fenster hinaus, über die Häuser und Gärten, und da es sich um einen Zauberflug handelte, war es trotz nächtlicher Stunde taghell, womit der einzig mögliche Nachteil dieser Art zu reisen behoben war. All die Jahre musste der Reisende warten, um seine verlorene Begabung wiederzuerlangen, vielleicht für nur eine Nacht, und dann auch nur dank einer späten Wiedergutmachung Endovélicos, der, da es ihm am Tage nicht gelungen war, die Wolken zu vertreiben, dies zur großen Freude des Reisenden im Traum tat. Als er aufwachte, konnte sich der Reisende daran erinnern, über die Serra da Estrela geflogen zu sein, aber da Träume ja bekanntermaßen flüchtig sind, zieht er es vor, nicht darüber zu sprechen, was er gesehen hat, um sich die Schmach zu ersparen, wenn ihm niemand glaubt.
Er öffnet das Fenster, das heißt, er zieht die Gardine zur Seite, wischt das Kondenswasser ab, das sich über Nacht auf der Scheibe angesammelt hat, und blickt hinaus. Die Berge sind noch immer von Wolken bedeckt. Leider kann der Reisende nicht die Probe aufs Exempel machen, ob die Wirklichkeit mit der seiner Träume übereinstimmt. Enttäuscht beschließt er also, heute in nicht ganz so hohen Gefilden unterwegs zu sein, und beginnt mit Covilhã, das auf mittlerer Höhe liegt. Er sieht sich die Igreja de São Francisco an, die einen wunderschönen Portikus, sonst aber nicht viel zu bieten hat, außer vielleicht den zwei Türen mit Spitzbögen und den Grabkapellen aus dem 16. Jahrhundert. Die liegenden Statuen sind in Ordnung, wenn auch ein bisschen nichtssagend, aber das Ganze profitiert vom Halbdunkel, das hier herrscht. Von dort geht der Reisende zur Capela de São Martinho, die er nur von außen betrachten kann. Sie ist frisch renoviert, und die alten Steine unterscheiden sich in ihrer von Sonne und Wind gegerbten Farbe noch zu sehr von den neuen. Die Kapelle ist romanisch und von extremer Schlichtheit, ein Ort für Gläubige ohne große ästhetische Ansprüche. Aber der Gestalter des kleinen Fensters über dem Portal kannte sich mit der Bedeutung von Abständen aus und auch damit, wie man sie nutzt.
Von Covilhã fährt der Reisende nach Capinha. Dafür gibt es keinen besonderen Grund, außer der römischen Straße, einer Nebenstrecke der Straße von Egitânia nach Centum Cellas. Damals hieß Capinha noch Talabra, was eine Nähe zum kastilischen Talaveras vermuten lässt, aber vielleicht entspringt das auch nur der linguistischen Phantasie des Reisenden, der sehr viel weniger gebildet ist, als es manchmal scheinen mag. Capinha ist ein angenehmes Dorf, in dem man schnell findet, was man sucht. Kaum ist der Reisende ausgestiegen und hat den erstbesten Passanten nach der römischen Straße gefragt, begleitet ihn dieser auch schon ein Stück und zeigt ihm, wo es weitergeht, die Straße dort hinauf, über die Felder rüber, und dann sind Sie da. Der Passant war der Pater des Ortes, ein junger, aufgeschlossener Mann, mit dem der Reisende noch lange Gespräche führen sollte, zwar nicht in diesem Fall, aber es nahm zumindest seinen Anfang. Als der Reisende von der römischen Straße zurückkommt, macht er eine weitere Bekanntschaft, ein ehemaliger Taxifahrer aus Lissabon, der ihm die Brunnen von Capinha zeigen will, wahrscheinlich aus dem 18. Jahrhundert. Ein politisch begeisterter Mann, der seine Heimat liebt, sowohl die, in der er lebt, als auch die, in der wir alle leben. Der Reisende ist ein reicher Mann, wo immer er hinkommt, findet er Freunde.
Der Reisende fährt über den Meimoa und weiter nach Penamacor durch scheinbar unbewohntes Land, mit weitem Horizont, wellenförmigen Hügeln und spärlicher Vegetation. Eine melancholische Landschaft, oder vielleicht einfach indifferent, weder wilde Natur, die sich dem Menschen widersetzt, noch wohlwollende, die sich ihm längst ergeben hat. In Penamacor speist der Reisende bei Discomusik in rustikalem Ambiente. Weder die Musik noch das Rustikale passt zu den Gästen, aber niemand stört sich daran. Der dumpfe Beat der Discomusik scheint die Ohren der Familie aus Benquerença, die dort zu Mittag isst, nicht zu beleidigen (die beiden älteren Frauen haben verblüffend schöne Gesichter), und der Reisende ist inzwischen Lokale gewohnt, in denen noch lautere Musik gehört wird. Das Essen selbst ist weder gut noch schlecht.
Nie zuvor kam ihm das Manuelinische so schier dekorativ vor wie in der Igreja da Misericórdia in Penamacor. Die praktisch nicht vorhandene Tiefe des Portikus wie auch die Verlängerung der äußeren Säulen, die erst eine Archivolte und über ihrem logischen Abschluss dann eine kuppelartige, orientalisch anmutende Form bilden, verstärken diesen Eindruck noch. Allerdings ist die Harmonie der verschiedenen Elemente im Portal unleugbar: Die Einfassung, das verflochtene Stabwerk und die Rosetten zeugen durchaus von einer gewissen Originalität. Die weiter oben liegende Burg hält sich ein bisschen versteckt, und der Reisende gibt sich auch keine große Mühe, zumal ein Hund von der Größe eines Löwen ihn mit ohrenbetäubendem Bellen im Visier hatte, ihn, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Er sieht sich das Rathaus an, begibt sich dann aber lieber in den unteren Teil des Dorfes. Dort erfreut er sich an den Arabesken der Säulen im Schiff der Pfarrkirche und fährt weiter.
Jetzt geht es nach Monsanto. Die Landschaft ändert sich erst hinter Aranhas und Salvador, wo sich die Berge von Penha Garcia und nach Südosten hin in derselben Linie wie die von Monfortinho erheben. Der Reisende biegt Richtung Süden ab, er hat sein Ziel, und niemand wird ihn davon abbringen. Es gibt Orte, durch die man kommt, und andere, zu denen man fährt. Monsanto gehört zu Letzteren. Als nationaler Mythos, das unschuldige Modell eines von der Idylle eines paternalistischen und konservativen Ruralismus vergifteten Portugals (der Reisende hasst Adjektive, aber manchmal lassen sie sich nicht vermeiden), ist Monsanto einerseits weniger, andererseits mehr, als er erwartet hatte. Er hatte mit Schieferdächern gerechnet, stattdessen sind überall die praktischeren Tonziegel zu sehen. Die krummen, dunklen und in dieser feuchten Zeit glitschigen Gassen, die er sich vorgestellt hatte, sind, wenn sie krumm sind, auf jeden Fall nicht dunkel, und wenn sie dann doch dunkel sind, geben sie sich einen pittoresken Anstrich. Hier ist der Tourismus eingezogen und hat gesagt: »Benimm dich jetzt.« Monsanto hat getan, was möglich war. Verglichen mit vielen Dörfern in Trás-os-Montes oder dem oberen Teil der Beira wirkt Monsanto wie geleckt, womit natürlich nur wiedergegeben ist, was das Auge sieht. Der Reisende sagte es bereits und wiederholt es an dieser Stelle: Reisen sollte bedeuten, länger an einem Ort zu bleiben. In Coimbra wollte er in die Häuser der Menschen gehen und sagen: »Lasst uns nicht von der Universität sprechen.« Hier würde er sagen: »Lasst uns nicht von Monsanto sprechen.«
Diesmal hat er wenig Interesse an Kirchen. Sollte eine an seinem Weg stehen, wird er nicht nein sagen, aber er wird keinen Umweg machen, um irgendwelche Figuren, Archivolten, Schiffe oder Kapitelle aufzuzählen. Er ist auf der Suche nach Steinen, aber anderen, solchen, die von keinem Meißel bearbeitet wurden, und wenn doch, ihre Rohheit nicht verloren haben. Er wird nicht lange genug in Monsanto bleiben, um zu erfahren, wie viel vom Stein in diesen Menschen steckt, aber er hofft herauszufinden, was von den Menschen auf den Stein übergegangen ist. Ersteres hieße, hierzubleiben, Letzteres, zu gehen.
Der Weg führt nach oben. Zwischen dem letzten Haus und der Burgmauer liegt ein fast unberührtes Felsenreich, übereinandergetürmte barrocos, riesige Zwischenräume, in die ganze Häuser passen, vier gewaltige Felsen, einer davon fast komplett unter der Erde, als Grundstein, zwei an den Seiten, enorm hoch, und obendrauf eine fast perfekte Kugel, die die anderen kaum berührt, wie ein Satellit, der vom Himmel gefallen ist. Der Reisende glaubte, alle Formen von Steinen gesehen zu haben. Aber wer nie in Monsanto gewesen ist, sollte so etwas nicht behaupten.
Es ist seltsam. Es gibt keine Häuser hier, und doch könnte er schwören, Zeichen von Leben gehört zu haben, ein Seufzen und Atmen. Wäre es nachts, hätte er einen ziemlichen Schrecken bekommen, aber das Tageslicht ist ein guter Berater, es weckt eigentlich nicht vorhandene Courage. Dieses sind keine menschlichen Geräusche. Hinter den Felsen stehen Schweineställe aus Stein, selbst die Schweine haben hier ihre Burgen, die leider nicht uneinnehmbar sind, denn wenn ihre Stunde geschlagen hat, hilft ihnen kein Graben und keine Zugbrücke.
Aber stabil sind sie, diese Ställe. Wann sie gebaut wurden, weiß der Himmel, die mit Stützen versehene Einfriedung, der kreisförmige Unterstand, mit Erde bedeckt, auf der Gras wächst, alles so angelegt wie die Festungen der Menschen; bei ihrem Anblick denkt der Reisende, würde man sie einmal ordentlich putzen und frisches Stroh hineinlegen, dann wäre jeder dieser Ställe ein Palast, verglichen mit Tausenden von Baracken, die am Rande der großen Städte stehen. Und auch in Monsanto wird es eine Zeit gegeben haben, in der die Menschen nicht mehr Komfort gehabt haben als die Schweine.
Der Reisende hat gesagt, er sei nicht auf der Suche nach Kirchen, doch hier stolpert er direkt in eine hinein. Sie besteht aus kaum mehr als vier Wänden, die sowohl von außen als auch von innen nackt sind, und sie hat kein Dach. Es ist die Capela de São Miguel. Sie steht in einer Senke, versteckt zwischen Felsblöcken, von der gleichen Farbe wie die Kapelle. Der Reisende zögert: Soll er zuerst nach rechts zur Burg gehen oder nach links zur Ruine? Er entscheidet sich für die Ruine und läuft einen steinigen Weg hinunter. Der Portikus ist niedrig und bar jeder Verzierung, und das Kapellenfundament liegt tiefer als die Türschwelle. Man geht hinein wie in eine Gruft, und dieses Gefühl muss noch quälender gewesen sein, als die Kapelle ein Dach hatte und das einzige Licht von den Altarkerzen und durch das schmale Fenster an der Stirnseite kam. Drinnen wächst Unkraut über den Boden und die wenigen Überreste skulptierten Steins. Der Reisende hat bereits einige Ruinen gesehen, aber diese hier, die zweifellos eine ist, wehrt sich dagegen, als solche bezeichnet zu werden. Man könnte sagen, die Kapelle von São Miguel hat alles, was sie braucht. Man hat sie als ein Haus Gottes errichtet, und das war sie auch, solange man sie als solches behandelte, aber ihr wahres Schicksal ist dieses, vier Wände, errichtet für Regen und Sonne, für Moos und Flechten, Einsamkeit und Stille. An der Nordseite befinden sich zwei leere Nischen und auf dem Boden Sarkophage ohne Abdeckung, in denen das Wasser steht. Richtung Osten liegt der Berghang und, so weit das Auge reicht, das Tal des Rio Pônsul und die Berge von Monfortinho. Der Reisende ist glücklich. Noch nie im Leben hatte er es weniger eilig. Er setzt sich auf den Rand eines Sarkophags und streicht mit der Hand über das Wasser, das kalt und frisch ist, und für einen Moment glaubt er, alle Geheimnisse der Welt verstehen zu können. Eine Illusion, die ihn hin und wieder überkommt, das darf man ihm nicht übelnehmen.
Jetzt geht er zur Burg. Das Tor befindet sich in einer Ecke, zwischen riesigen Mauern mit Schießscharten, durch die man die gesamte Landschaft überblicken kann. Darüber weitere Mauern, die Felsen, die den bergeigenen Panzer bilden, die unzerstörbaren Schultern dieser Festung, an die der Mensch nur noch ein paar Mauerwände anbauen musste.
Was er drinnen sieht, ist erstaunlich. Der alte Vergleich mit den Zyklopen, die die riesigen Felsbrocken zum Spaß aufeinandertürmten oder um damit das Schiff des Odysseus zu versenken, ergibt hier keinen Sinn. Schiffe gibt es hier nicht, und worin irgendein Spaß liegen könnte, ist auch nicht zu erkennen, also wüsste er nicht, was er vergleichen soll, er kann höchstens den Grad seiner eigenen, geradezu unerträglichen Bewegtheit messen angesichts dieser Burg, in der die Felsen wie Knochen aus dem Boden wachsen, große Totenköpfe, knorrige Glieder.
Er geht zum höchsten Punkt der Mauern und spürt erst jetzt den scharfen Wind, der von weitem kommt, ein kalter Nordwind, vielleicht ist er es, der ihm die Tränen in die Augen treibt.
Was für Menschen haben in dieser Burg gelebt? Was für Männer und Frauen haben das Gewicht dieser Mauern ertragen, was für Worte wurden von einem Turm zum anderen gerufen, was wurde auf diesen Stufen geflüstert oder über der Öffnung des Brunnens? Gualdim Pais hat hier gehaust, mit Eisenschuhen und dem Stolz eines Meisters des Templerordens. Demütige Menschen hielten mit ihren Armen und blutender Brust die Stellung. Der Reisende sucht nach Gründen und stößt auf Fragen: Warum das alles? Wofür? Nur damit ich, ein Reisender, heute hier sein kann? Haben die Dinge so wenig Sinn? Oder ist das der einzige Sinn, den die Dinge haben können?
Er geht aus der Burg hinaus und den Abhang hinunter ins Dorf. Vor den Türen sitzen alte Männer und Frauen, so wie es in Portugal üblich ist. Sie sind Teil dieses Sinns. Ein Mann kommt dazu, ein Stein, ein Mann, ein Stein, ein Mann, wenn man nur die Zeit hätte, all das zusammenzunehmen und zu erzählen, zu hören und weiterzuerzählen, nachdem man erst die gemeinsame Sprache gelernt hat, das wesentliche Ich, das wesentliche Du, unter Tonnen von Geschichte und Kultur, sodass, wie die Knochen in der Burg, der ganze Körper Portugals zum Vorschein käme. Ach, der Reisende träumt und träumt, aber es sind nur Träume, und sie sind schnell vergessen, jetzt, da er die Ebene erreicht und Monsanto, die Einsamkeit, der Wind und die Stille hinter ihm zurückbleiben.
Wenn die Landschaft schön ist, ist man geneigt, langsamer zu fahren. Diese hier, flach, wie sie ist, würde nicht einmal den reinsten Stadtmenschen dazu bringen, anzuhalten. Trotzdem fährt der Reisende, der kein reiner Stadtmensch ist, als zöge er einen der großen Steine aus Monsanto hinter sich her oder als hielte ihn die Erinnerung an dort oben fest. Mit viel Mühe durchquert er Medelim, die Menschen kommen auf ihn zu und fragen, welche Last er da trage, das alles spielt sich nur in seinem Kopf ab, aber es könnte auch wahr sein, denn immerhin ist er auch geflogen, im Traum.
Das hier war einmal Egitânia, heute heißt es Idanha-a-Velha. Egitânia ist wohl die westgotische, also spätere Form des lateinischen Igaeditania, was für den Reisenden keine große Rolle spielt, es erinnert ihn lediglich daran, dass die Vergangenheit dieser Orte sehr weit zurückreicht. Dieses Dorf ist so alt, dass es unterwegs verlorenging und sich vielleicht bedauerlicherweise heute immer noch nach der Sonnenuhr richtet, die ihm im Jahre 16 v. Chr. von Q. Jálio Augurino überreicht wurde, über den weiter nichts bekannt ist. Die Straßen von Idanha-a-Velha sind breit, aber so nackt und öde, dass der Reisende meint, auf dem Mond zu sein. Er sucht die urchristliche Basilika oder westgotische Kathedrale, wie sie auch heißen mag, und findet eine Ruine hinter Maschendraht. Das ist sie.
Er schaut nach einer Lücke und findet sie ein Stück weiter, dort, wo der Zaun auf eine Mauer trifft, die den verlassenen Ort von dieser Seite einfasst. Es sind Zeichen von Ausgrabungen zu sehen, das Fundament liegt bloß, aber alles ist von Unkraut überwuchert, und die Basilika selbst, die natürlich geschlossen ist, steht in einem Dickicht, umgeben von Steinen, von denen einige nichts zu bedeuten haben, andere hingegen vielleicht sehr viel. Durch die Fensteröffnungen versucht er hineinzusehen und kann eine halbe Säule ausmachen, sonst nichts. Ein bisschen wenig für jemanden, der von weit her gekommen ist. Aber draußen stehen, etwas tiefer gelegen und ein Stück weiter links vom Eingang, unter einem einfachen Holzverschlag, der weder Tür noch Schloss hat, die Taufbecken.
Wer ist für dieses Elend verantwortlich? Die Feuchtigkeit und das glitschige Moos zerfressen das mürbe Holz der Becken, ein großes, wahrscheinlich für Erwachsene, und zwei ganz kleine für die Kinder, mit Ausgüssen, die aussehen wie kleine Stühlchen. Der Reisende fühlt sich zerknittert wie eine alte Zeitung, mit der man die Schuhspitze ausgefüllt hat. Der Vergleich ist sicher heikel, aber als heikel könnte man auch den Geisteszustand des Reisenden bezeichnen angesichts dieses Verbrechens, dieser infamen Nachlässigkeit: Er empfindet Zorn, Trauer, Schande, er kann nicht glauben, was seine Augen da sehen. In diesem Schuppen, in dem man nicht einmal Werkzeug oder Zementsäcke aufbewahren würde, steht, unter den eben aufgeführten deprimierenden Bedingungen, eine vierzehn oder fünfzehn Jahrhunderte alte Kostbarkeit. So kümmert sich Portugal um sein kulturelles Erbe. Beinahe verletzt sich der Reisende noch an der Öffnung des Drahtzauns. Das römische Tor, das zum Ufer des Rio Pônsul zeigt, ist so gut restauriert, die Steine so solide zusammengesetzt, dass sich der Reisende fragt, wie es zu solch einer Diskrepanz kommen kann.
Der Reisende sieht nach dem Stand der Sonne und stellt fest, dass es Zeit ist zu gehen. Er fährt hinunter nach Alcafozes, dann Richtung Westen, nach Idanha-a-Nova, ebenfalls ein sehr alter Ort, obwohl der Name das Gegenteil andeuten will. Mit der Schwester verglichen ist er jedoch ein Kind: Gegründet hat ihn Gualdim Pais im Jahre 1187, als Dom Sancho I. König war. Von der einstigen Burg sind nur Ruinen übrig, aber die will der Reisende nicht sehen. Das fehlte gerade noch, nach Monsanto. In Erinnerung geblieben sind ihm die über einer Schlucht errichteten Häuser am Ortseingang und der Palast des Marquis von Graciosa, der sehr hübsch ist, aber auch nicht viel mehr. Der Reisende will gerade weiterfahren, als ihm plötzlich eine Mauer ins Auge springt und ihn zum Halten zwingt. Sie ist ein niedriges Mäuerchen und teilt uns auf zwei Arten mit, was sie ist, einmal mit einem Herzen, darin ein Pfeil, und dann, ein paar Meter weiter, noch deutlicher: »Mauer der Verliebten«. Die Verliebten von Idanha-a-Nova haben es gut. Wenn sie weder ein noch aus wissen, müssen sie nur zu dieser Mauer gehen: Solange auf den Pfaden der Liebe die Treffpunkte ausgeschildert sind, werden sich immer zwei verwandte Seelen finden.
Da es auf dem Weg liegt, fährt der Reisende nach Proença-a-Velha, wovon er sich allerdings nicht viel erhofft. Er unterhält sich mit ein paar Frauen, die im Schutze einer Mauer auf kleinen, niedrigen Stühlen sitzen und stricken, und geht dann weiter. Der Kirchhof von Proença-a-Velha ist so groß, dass man dort Tanzveranstaltungen abhalten könnte, falls es hier erlaubt sein sollte, das Sakrale mit dem Profanen zu vermischen. Der Reisende hat nicht danach gefragt. Er beschließt, das schöne Licht des späten Nachmittags zu nutzen und einen Blick auf das Tal des Rio Torto zu werfen, den man von hier aus nicht sieht, aber erahnen kann, wenn man weiß, dass er dort liegt. Danach lehnt er lange an einer Mauer, die viel eher den Namen der vorigen verdient hätte, denn von der anderen Seite strömt der betörendste Blütenduft herüber, der je einem Reisenden in die Nase gedrungen ist. Verglichen damit ist die Akazie von Vermiosa ein ordinäres Riechfläschchen.
Bis Fundão hält er nicht mehr an. Der Tag geht dem Ende entgegen. Ab Vale de Prazeres kann man die Cova da Beira sehen. Eine sehr fruchtbare Gegend, die zu dieser Stunde wunderschön ist. Über ihr liegt ein leichter Nebelschleier, der die Sicht nicht behindert, nur alles etwas verschwimmen lässt, ein unbestimmter Dunst, der vom Himmel herabsinkt oder vom Boden aufsteigt. Zu beiden Seiten, gleich den Ebenen eines Bildes, wechseln sich Baumreihen mit bewirtschafteten Feldern ab. Eine Landschaft wie auf einem alten Gemälde, wer weiß, vielleicht hat sich hier Vasco Fernandes inspirieren lassen, von den Farben, dem Nebel und der weiblichen Sanftheit, die den Reisenden dazu verführt, sich zu strecken und wohlzufühlen und nicht mehr an Monsanto zu denken.