Sie war überrascht, wie wenig sie mitnehmen musste. Essen würde sie unterwegs finden, ein wenig Kleidung zum wechseln reichte (sie wollte allerdings nicht noch einmal so ungepflegt werden), dazu die Mappe mit den fertigen Bildern und Zeichenkram, der von allem am schwersten war und am meisten Platz wegnahm. Aber sie wollte nicht ohne ausreichend viel Papier und Stifte aufbrechen, obwohl sich Papier mit Sicherheit auch irgendwo finden ließe – in den Bürogebäuden im Innenhafen zum Beispiel war sie noch gar nicht gewesen. Aber eins nach dem anderen.
Sie hatte sich vor allem vorgenommen, endlich ein wenig weiterzuwandern als zuvor; die erste große Wanderschaft. So fand sie bestimmt neue Motive. Sie hatte zu lang an einem Fleck verweilt, das war auch nichts anderes als eine Form von Stagnation. Sowieso hatte sie immer den angeblich so idyllischen Duisburger Süden sehen wollen, aber nie Zeit oder Lust gehabt, dorthin zu fahren. Wozu auch, es hatte ja immer Dringenderes gegeben – vor dem Ende.
Aber jetzt? Es gab doch nur noch sie. Und diesen Mann, der auf sie geschossen hatte. Sie fragte sich, ob da noch mehr Menschen waren. Sie musste an die Blicke denken, die ihr in der U-Bahn zugeworfen worden waren; an den panischen Ausdruck im Gesicht des schießenden Mannes und aus irgendeinem Grund auch an ihre ehemaligen Mitschüler, ihre alten Arbeitskollegen, ihre Familie. Was war wohl aus denen geworden?
Mit einem letzten Blick in ihre Wohnung schüttelte sie diese Gedanken ab, schloss die Türe hinter sich ab und ging durch das blassgelb gestrichene Treppenhaus nach unten. Dort legte sie die Hand auf die kühle Türklinke, verharrte kurz und atmete mit geschlossenen Augen einmal tief ein, dann aus. Sie war nervös. Dann zog sie die Türe auf; warmer Wind wehte ihr den Geruch von frisch gewachsenem Gras und Holz und Erde in die Nase. Eine Fliege flog so schnell vorbei als komme sie zu spät zu einem Termin.
Sie hatte Recht gehabt, man konnte Dexters Grab von der kleinen Stufe vor dem Haus aus deutlich erkennen und sie brauchte wirklich bloß zwölf Schritte, um dorthin zu kommen.
Zu ihrer Überraschung musste sie nicht weinen, als sie vor dem kleinen Holzkreuz kniete. Sie fand, sie hatte gute Arbeit geleistet; es stand immer noch genauso fest in der Erde wie am Tag, als sie den Hamster begraben hatte. Zum Abschied nickte sie bloß kurz, dann brach sie auf.
Sie ließ sich ähnlich treiben wie sie es getan hatte, wenn sie ihre Spaziergänge gemacht hatte, doch ihre Schritte waren größer und sie wollte möglichst viel Distanz an einem Tag zurücklegen. Ihre Schultern ragten glänzend von der Sonne aus dem viel zu großen Tanktop hervor, dass sie mitgenommen hatte, um wenigstens ihren Rücken vor Sonnenbrand zu schützen. Sie spürte, wie ihr das erste Mal seit einiger Zeit wieder wirklich warm wurde.
Nachdem sie das Dellviertel hinter sich gelassen hatte, orientierte sie sich grob an der A59 und wurde schon bald von ersten Anzeichen Hochfelds begrüßt. Doch die heruntergekommene Industrie und die zerlebten Hausfassaden hier interessierten sie nicht, also ging sie mit großen Schritten einfach weiter, bis sie den Böninger Park ausgeschildert fand. Ihr war danach, nach unzähligen Häusern und von Menschen errichteten Strukturen endlich wieder einmal Natur zu zeichnen, also folgte sie dem Schild.
Sie war enttäuscht, als sie nichts weiter fand als einen dieser typischen Stadtparks. Es war nichts als eine übergroße Wiesenfläche mit einigen, viel zu breiten Wegen und zwar großen, aber uninspiriert platzierten Bäumen. Nichts hier sprach sie wirklich an, es sah einfach alles noch zu sehr nach Stadt aus. Also ging sie weiter, vorbei am rotgeziegelten Bethesda-Brocken, der eher wie ein Altenheim als wie ein Krankenhaus aussah, am Akkurt-Wasserturm, dessen Anbau sich gegen ihn lehnte wie eine Leiter, und vorbei an unzähligen, austauschbaren Wohnhäusern und Kiosken und mittelständischen, wahrscheinlich semikriminellen Betrieben entlang von unzähligen, austauschbaren Straßen mit tiefen Schlaglöchern und abgefahrenen Fahrstreifenmarkierungen. Das war das Duisburg, das sie in Erinnerung hatte.
Sie ging und sie ging, bis die Bauten etwas spärlicher wurden und sie, noch einige Kilometer entfernt, hohe, tiefgrüne Bäume erkennen konnte, die dicht zusammenstanden. Das sah doch schon eher aus wie das, was sie sich vorgestellt hatte.
Wie sich wieder einmal durch Schilder herausstellte – die sie früher übrigens nicht so groß in Erinnerung gehabt hatte –, hatte sie den Waldfriedhof in Wanheimerort erreicht und sie war begeistert: Bäume aller Art, knorrig bis üppig, dichte Pflanzen und schmale, geschwungene Wege; unzählige Formen, Farben und Größen von Grabsteinen (sie sah schon eine Serie von Zeichnungen vor sich, die sich, bloß ganz schwach mit Bleistift anskizziert, nur auf die charakteristischsten Merkmale dieser Zeugnisse von Handwerkskunst konzentrierte); viel Licht und Schatten und ein beeindruckend angelegter Garten mit geschwungenen Rosenhainen.
Gerade, als sie sich freuen und kurz ausruhen wollte, sah sie eine eindeutig männliche Gestalt, relativ groß und schlank, gemächlich in einiger Entfernung vorübergehen. Sie ignorierte ihren plötzlich so hohen Puls und folgte ihm in vorsichtiger Entfernung.