Eintrag 57


Liebes Tagebuch,


ich habe es! Endlich! Ich weiß, wo sie ist! 

Aus Verzweiflung bin ich zu ihr nach Hause aufgebrochen. Ein ewiger Weg. So oft bin ich ihn gefahren, ohne nachzudenken, wie lang er zu Fuß ist. Wenn ich mich nicht völlig irre, waren es gerade einmal 20km, vielleicht etwas mehr. Eine Strecke, die mich einen ganzen Tag hin und einen ganzen Tag zurück gekostet hat. Weil ich auf dem Hinweg nicht wusste, wie lang ich noch gehen muss, um endlich bei ihr zuhause anzukommen, musste ich sogar in fremden Wohnungen schlafen, und du weißt, wie sehr ich das hasse. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Nacht ist anders als früher. Dunkler. 

Auf dem Weg dorthin ist mir ein Strauß über den Weg gelaufen. Ein Strauß. Ich glaube, er hat mich auch gesehen, zumindest ist er plötzlich sehr schnell weggerannt mit seinem merkwürdigen Laufstil auf den absurd dünnen Beinen, dem eierförmigen Körper, dem Streichholzhals und dem kaum erkennbaren Kopf. Merkwürdig an der ganzen Sache ist vor allem, dass ich sie nicht merkwürdig finde. Ich treffe keinen einzigen Menschen, aber ein Vogel, der hier nicht hin gehört, wundert mich nicht. Ein Strauß. Vollkommen selbstverständlich.

Aber wie dem auch sei: Letztendlich war es nur noch eine halbe Stunde Fußweg von der Wohnung aus, in der ich versucht habe, zu schlafen (und es nur mit Mühe konnte). Es sah alles genauso verlassen aus wie hier, als hätten die Menschen sich auf einmal aufgelöst. So schnell, wie die Evakuierung ging, blieb wohl keinem Zeit zu packen. Wohnzimmer mit aufgeschlagenen Magazinen und Büchern, offene Kleiderschränke, halb aufgegessene Mahlzeiten, so verlassen doch nicht alle ihr Zuhause. Aber bei uns war es ja nicht anders. Es blieb uns ja keine Wahl.

Dass sie evakuiert wurde gegen ihren Willen weggebracht wurde, ist unmöglich. Was sie will, bekommt sie, was sie nicht will, bekommt sie nicht. So einfach ist das. Sie ist so wundervoll willensstark. Sie würde mich nie hier allein lassen, egal, was es kostet. Das weiß ich. Auf sie ist Verlass. An der Tafel in der Küche, auf der sie sonst immer so gewissenhaft die Einkäufe notiert, um im Budget zu bleiben, stand eine Adresse, in ihrer ordentlichen, geschwungenen, wie auf liniertem Papier geschriebenen Handschrift. Diese Notiz war für mich. Ich wusste die gesamte Zeit, dass sie mich wiedersehen will und alles dafür tun würde. Jetzt habe ich endlich einen Beweis. Sie ist so vorausschauend. Aber warum war sie dann nicht schon längst an der Schleuse und hat dort auf mich gewartet? Haben wir uns verpasst? Geht es ihr gut?

Sie war immer schon überpünktlich, hat sich sofort gemeldet, wenn sie zu spät kam, sich schlecht gefühlt, wenn sie dann auch nur eine Minute später kam, als sie gesagt hatte. Sie ist zuverlässig. Großartig eben. Und selbst, wenn ich wütend auf sie gewesen wäre, was ich nie hätte sein können, ihr wundervoll sanftes, wissendes Lächeln würde mich für alles entschuldigen. Wie eine klassische Schönheit dieser Frauen auf romantischen Gemälden sieht sie dann aus: Ein wenig der Welt entrückt und doch mitten darin, hypnotisierend schön.

Durch dieses Lächeln konnte ich den Rückweg viel schneller bewältigen. Nicht nur gefühlt, definitiv schneller. Meine Lunge brannte die gesamte Zeit, fast gerannt bin ich, um sie vielleicht noch vor Tagesende zu finden. 

Ohne Umschweife bin ich direkt zu der Adresse aufgebrochen, die sie für mich hinterlassen hat. Ich wusste nicht genau, wo ich hin muss, aber hatte eine grobe Ahnung. Also ging ich und suchte. Wie immer und doch komplett anders als bisher. 

Es wurde schon dunkel (dieses Mal war es mir egal, ich hätte auch nach dem Ziel getastet), als ich es endlich fand: Eine dieser brachliegenden Flächen zwischen Industriegebäuden, bei denen man sich immer schon gefragt hat, was für einen Sinn sie eigentlich haben. Uns wieder zu vereinen, offensichtlich.

Zwischen dem ganzen dem stacheligen Unkraut und dem hochstehenden Gras, das mir immer ins Gesicht gestochen hat, als ich nach unten schaute, um nicht umzuknicken, habe ich eine riesige Metalltür gefunden, schräg in den Boden eingelassen, wie die Kellertüren an Hausfassaden in amerikanischen Filmen. Bloß, dass hier das Haus fehlte. Da war bloß die Tür, sonst nichts, überall darum nur ungenutzte Fläche. Die Oberfläche der Tür wirkte relativ neu, glatt und ohne Kratzer, aber das war auch das einzige, was ich erkennen konnte. Sonst kein Hinweis. Keine Prägung, kein Schriftzug, nicht einmal eine Klinke oder Vertiefung, gar nichts. Einfach nur eine große Tür im Nichts.

Wie öffnet man eine Tür, die nichts von einer Tür hat und scheinbar nicht geöffnet werden will? Von innen! Also habe ich geklopft, gehämmert, geboxt. Erst langsam, dann ungestüm. Es klang hohl dahinter, hallte etwas nach. Meine Hände schmerzten, vibrierten bald wie die Metallfläche.

Irgendwann hörte ich etwas. Ich hörte auf zu klopfen. Dann wieder nichts. Vorsichtig machte ich weiter, höflich, mit meinen Fingerknöcheln. Stimmen! Ich bin mir absolut sicher! Doch nichts passierte. Einige Minuten lang harrte ich aus. Keine Stimmen mehr. Ich fing wieder an zu hämmern. Lauter als vorher, härter. Doch nichts. 

Aber da war etwas. Jemand. Ich weiß es. 

Warum niemand geöffnet hat, weiß ich nicht. 

Ich mache mir ein wenig Sorgen um sie. Was, wenn sie gefangen gehalten wird? Was, wenn sie öffnen wollte, weil sie wusste, dass ich es bin, aber nicht durfte? Nicht konnte? Aber ich weiß, dass sie lebt. Wo sie ist. Das ist mehr, als ich bisher jemals wusste.

Ich werde sie finden. Sie retten, wenn es sein muss.

Morgen werde ich im Morgengrauen wieder aufbrechen. Ich werde an die Türe schlagen, bis meine Hände grün und blau sind. Mir wird jemand öffnen. Ich werde sie finden. Egal, was es kostet.

Ich war so frustriert, als ich gestern hierher zurückgekehrt bin. Müde. Der Weg hat länger gedauert als sonst. Es war zu dunkel.

 Heute morgen habe über das zittrige, rote „NICHT HIER“ an der Scheibe (das sich einfach nicht wegwischen lässt, wasserfest heißt offensichtlich manchmal einfach wasserfest) in ordentlicher,  geschwungener Handschrift gemalt, wie sie schreiben würde: „Sie ist“. 

- Sie ist NICHT HIER - 

Das weiß ich jetzt. Und ich weiß, wo sie stattdessen ist.

Ich kann nicht mehr. Sie wartet auf mich.

Ich denke, ich werde nicht hierhin zurückkommen, auch mit ihr nicht. Dieser Ort scheint kein Glück zu bringen. Das ist kein Ort für die Familie, die wir sein werden. Wir werden etwas anderes finden.

Morgen wird alles anders.

Vielleicht ist das hier mein letzter 

Das hier ist mein letzter Eintrag, bevor ich sie finde. Das weiß ich.