Immer weiter


Es hätte ihn eigentlich beruhigen müssen, dass sie also wirklich existierten, die hirnfressenden Untoten wie das stöhnende Ungeheuer auf der Autobahn – aber sein Körper ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Das Ding hatte ihn unvorbereitet getroffen, obwohl er nach genau einem solchen Beweis für ihre Existenz gesucht hatte. Dabei war er sich doch sowieso sicher gewesen, dass sie existierten. Vielleicht wäre er beruhigt gewesen, wenn er getroffen hätte. Vielleicht. Sicher war er sich nicht in diesem Fall nicht und das verwirrte ihn. Er mochte keine Verwirrung. Verwirrung machte aus all seinen guten Ideen Krautsalat. Also ging er und betäubte die Verwirrung. Städte waren ab jetzt wieder tabu, wenn schon einer von ihnen so gefährlich und schnell war, würde er, einmal umzingelt und in Unterzahl, keine drei Schritte überleben.

Hier eine Abfahrt, da eine Auffahrt, vereinzelt leere Autos am Straßenrand oder mitten auf der Fahrbahn, sonst nicht viel. Trotzdem schlich er mit angelegtem Gewehr an den Autos vorbei, die wie große Tiere auf der Fahrbahn lagen, man wusste ja nie. Seine Reise auf vier Rädern etwas zu erleichtern, kam für ihn nicht ansatzweise in Frage; zu gefährlich, zu unberechenbar, zu laut. Er war gegangen, Stunden und Stunden, bis sich die Landschaft um ihn herum veränderte: Anstelle von Betonwänden und Fassaden, an denen sich dunkelgrau der Smog festkrallte, waren hier nun Bäume, erst etwas kahl, dann immer üppiger und mehr an der Zahl, und vermehrt weitläufige Felder, überzogen von unzähligen Erhebungen und Vertiefungen, zwischen denen wirr Unkraut spross. Er hatte keine Ahnung, was hier angebaut worden war; nie hatte er den Drang gespürt, die Stadt zu verlassen. Die kontinuierliche Umtriebigkeit in der Innenstadt, die Geräusche von Betrunkenen nicht einmal 200 Meter von seiner Haustür entfernt, das leise Rauschen vorbeifahrender Autos, das alles hatte ihn beruhigt.

Ihn überkam ein wenig Sentimentalität, deren Herkunft er nicht erklären konnte. Kurz dachte er daran, wie er ein vollkommen gewöhnliches Leben mit seinem völlig gewöhnlichen Bürojob geführt hatte und jeder Tag so von Langeweile erfüllt gewesen war, dass sich die Stunden wie Tage anfühlten. Mittlerweile fühlten sich Tage wie Stunden an, die Zeit raste an ihm vorbei und er hetzte atemlos hinterher. Welche Alternative besser war, wollte er nicht beantworten; es gab ja nur noch die eine. Jedenfalls war sein altes Leben furchtbar gewesen – zumindest dachte er das, aber er war sich ziemlich sicher. Er hatte es gehasst, so klein zu sein; acht Stunden täglich einen Job zu tun, der genauso bedeutungslos war wie er und seine individuelle Bedeutungslosigkeit noch potenziert hatte. Kurz wunderte er sich, ob ihn früher überhaupt jemand wahrgenommen hatte. Jetzt war er wenigstens Jemand. Der letzte Jemand. Er wusste nicht, wie er das finden sollte. Er wusste nur, dass seine bloße Existenz mittlerweile bedeutsamer war als alles, was er bisher in seinem Leben geschafft hatte. 

Nachdem er einige Zeit lang auf einer endlosen, schmalen Straße gegangen war, die auf beiden Seiten von dürren Bäumen umgeben war, traf er wieder auf die ersten Anzeichen von Zivilisation, wie er sie gewohnt war: Tankstellen, ALDI, Lidl, McDonalds, Burger King. Er passierte Wohnhäuser – untypisch klein und gedrungen, mit rechteckigen Fenster, die ihn kritisch zu mustern schienen wie zusammengekniffene Augen – und immer wieder Felder. Über manchen Wiesen kreisten Vögel und er konnte aus der Distanz erkennen, dass Kadaver von massiven, unrealistisch eckig aussehenden Tieren im Gras lagen. Er vermutete Kühe, aber vermied, darüber nachzudenken. Als gerade ein Golfplatz zu seiner Rechten lag, konnte er über Baumwipfeln auf einem nicht weit entfernten Hügel drei kleine Türmchen auf einem Gebäude erkennen, wie er es noch nie vorher gesehen hatte. Es sah kirchlich aus, war aber keine Kirche. Neugier stieg in ihm auf und ungewollt beschleunigte sich sein Schritt. 

Am Fuß des Hügels lagen etwas ungepflegt aussehende Gartenflächen mit bunten Blumen, die sich aus ihren Beeten auf Kieswege getastet hatten, wo er durch fast wadenhohes Gras watete. Einige Meter entfernt lag ein unbewegter Spielplatz mit Schaukeln und Wippen und Klettergerüsten aus Holz, das von langen Rissen durchzogen war. Es roch nach feuchter Erde und tropfender Verwesung. Es regnete leicht, dunkle Haarsträhnen hingen nass in seiner Stirn. 

Oben angekommen fiel ihm etwas überrascht auf, dass die Sonne unterging. Kurz ärgerte er sich; schon wieder hatte er nicht auf den Sonnenstand geachtet. Er musste aufmerksamer werden. Wenigstens war er nicht mehr von grausig jaulenden Zombies überrascht worden. Ab jetzt rechnete er immer mit Ärger, so einfach war das. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt. Glaubte er zumindest. Aber er war sich ziemlich sicher. Jedenfalls beglückwünschte er sich trotz allem kurz selbst, dass er ein gut gelegenes und geschütztes Nachtlager gefunden hatte. Jetzt galt es nur noch, die Umgebung zu sichern.

Das Gebäude bestand aus roten, grauen, schwarzen Ziegeln; unregelmäßig, als hätte ein übergroßes Kind mit wahllosen Steinen gebaut. Auf dem schwarzen Dach standen einige kleine Türmchen mit merkwürdigen, bauchigen Verdickungen, die nach oben in einer speerartigen Spitze zuliefen, auf denen goldene Symbole prangten. Kreuze, teilweise schlicht und allein und groß und bedrohlich, teilweise klein und in runde Rahmen gefasst. Christlich also, definitiv. Er war sich sicher gewesen.

Mit angelegter Waffe schlich er um die Ecken der Fassade, die vom Regen langsam dunkler gefärbt wurde. Leicht geduckt, wie er es sich im Fernsehen von Spezialeinheiten der Polizei abgeschaut hatte, arbeitete er sich Schritt für Schritt durch das Innere des Gebäudes. Ein Kloster, das war es! Er war stolz auf sich, als ihm das Wort einfiel. 

Außer erstaunlich vielen Möbeln aus gebeiztem Fichtenholz war hier nicht viel. Es roch muffig, ein wenig nach altem Sofa und etwas Kräuterartigem, das er nicht benennen konnte. Nach einigen Minuten fand er das, was aussah, wie er sich eine Kirche vorstellte: Einen großen Raum mit Unmengen von Bänken und hellbeigen Säulen, mit schwarz-weißen Rauten wie auf einem um 45° gedrehten Schachbrett gefliest. Seine Schritte hallten mehrfach wider. Am Kopfende des Raumes, vor einem hohen Fenster mit rundlichen Verzierungen, deren Form ihn ein wenig an Kleeblätter erinnerten, stand der Altar, darüber hing ein Kerzenhalter; kreisrund, gusseisern – und schief, in beinahe perfektem Winkel wie die Fliesen angeschrägt. Wie ein Wurm am Angelhaken baumelte ein lebloser Körper daran, ein Seil um den Hals, den Kopf schwer und unnatürlich schräg auf die rechte Schulter gesunken.

Leblos war definitiv besser als tot und in Bewegung, trotzdem schlich er, den Kopf der Leiche jede Sekunde direkt im Korn, in gebückter Haltung langsam näher. Keine Bewegung, kein Zucken, keine Geräusche, dafür ging ein schwerer süßlicher beißender Geruch von ihr aus. Vorsichtig ließ er das Gewehr sinken und drückte seine Nase in den Ärmel seiner Jacke. Der Tote war definitiv männlich, schlank, beinahe dünn, relativ jung – er schätzte 25 oder 27 Jahre –, mit langen leicht lockigen dunklen Haaren und einem braunen Vollbart, der bis zum Kehlkopf reichte; er trug einen schwarzen Überwurf mit Kapuze, einer Schürze nicht unähnlich, darunter ein weißes Gewand mit langen, weiten Ärmeln. Die Augen im fahlen Gesicht waren geöffnet und starrten leer in Richtung Boden. Die Arme hingen schlaff neben dem Torso herab, an den Händen waren sowohl links als auch rechts jeweils Daumen, Zeige- und Mittelfinger merkwürdig abgespreizt. 

Ein Mönch also, da war er sich sofort sicher. Ein Mönch, der Selbstmord begangen hatte, wie es aussah. Kurz überlegte er, ob er die Leiche vom Strick lösen und vielleicht sogar begraben sollte. Doch dann beschloss er, dass er für diese Art von Arbeit keine Zeit hatte – er würde doch sowieso nicht lang hierbleiben. Außerdem sah die Konstruktion aus totem Körper, Seil und schwerem Kerzenhalter alles andere als vertrauenserweckend aus. Wer wusste schon, wie lang der Mönch schon hier gehangen hatte und wie lang das wagenradähnliche Gebilde unter der Decke das Gewicht noch tragen konnte.

Mit gelangweilter Effektivität durchsuchte er die verbliebenen Räume des Klosters. Außer einem kleinen Raum mit mehreren bescheidenen Betten aus gebeiztem knarrenden Eichenholz fand er nichts von Interesse. Nachdem er einige Karotten und kleine Gurken aus den Beeten im Innenhof gerissen und gegessen hatte – eher aus dem Wissen, dass er essen musste, als aus Hunger –, legte er sich in eins der Betten, in dem offensichtlich die anderen Mönche geschlafen hatte und versuchte, seinen rastlosen Körper und rastlosen Geist zur Ruhe zu zwingen. Wo waren die anderen Mönche? Wer war dieser Mann, der sich getötet hatte? Wann hatte er sich getötet? Warum? War er infiziert gewesen?

Wenn er infiziert gewesen war, wäre es selbst nach dem Selbstmord nur eine Frage der Zeit, bis er sich verwandelte, da war er sich sicher. Aber er hatte sich nicht bewegt, keine Anzeichen von Zombifizierung. Er drängte den Gedanken beiseite, er musste schlafen. Ohne Schlaf konnte er nicht gehen. Regungslos lag er auf dem Rücken, als würde sich Schlaf durch bloße Bewegung verscheuchen lassen wie ein Rehkitz. Doch so sehr er es auch versuchte, das Bild des leblosen Körpers in der Kirche beiseite zu schieben, es gelang ihm nicht. Nach einigen Stunden setzte er sich auf und griff nach der Glock neben dem Bett. Er zog das Magazin heraus, öffnete es unten und ließ 15 Patronen mit 9mm-Kaliber auf die Bettdecke rieseln. Mit der Feile seines Taschenmessers und großer Ruhe feilte er jede einzelne Spitze der Geschosse ab, lud sie anschließend in das Magazin und steckte das Magazin zurück in die Waffe. Er zündete eine Kerze an, stand dann entschlossen auf und ging zurück in die Kirche. 

Eine kurze Weile stand er nur da und blickte die Leiche an, die sich immer noch kein Stück bewegt hatte; das Dunkel, das sie beide umgab, wurde nur vom gelb flackernden Feuer der Kerze erhellt, die er hinter sich gestellt hatte. Sein Schatten streckte sich lang in die Kirche hinein, daneben gespenstisch schwebend der Schatten des Mönchs. Man konnte nie wissen, double tap. Wenn der Mönch infiziert sein sollte, wollte er kein Risiko eingehen – er hatte zwar keine Erfahrung damit, wie lang die Transformation dauerte, aber auch kein Interesse daran, es herauszufinden, indem er von einem taumelnden, stinkenden, ekelhaften, stöhnenden Zombie im Schlaf überrascht wurde. 

Sein Körper vibrierte vor Aufregung, als er auf den toten Körper zielte. Die erste Kugel blieb ein Streifschuss, aber riss dem Mönch ein Ohr ab, die zweite traf ihn in der rechten Seite direkt unter dem Rippenbogen. Die dritte endlich traf ihn mitten im Kopf. Das knirschende Geräusch hallte ebenso lang durch die Kirche wie der laute Knall der Waffe, eine dünne Spur stinkenden, dunklen Bluts rann dick und schwer aus dem zerfransten Loch direkt in der Schläfe. Er ließ die Pistole sinken. Das sollte es gewesen sein. Regungslos stand er da, bei ihm nur das Kerzenlicht und das Geräusch von Blutstropfen, die auf dem Kirchenboden eine Pfütze bildeten. Immer noch diese offenen Augen, diese Regungslosigkeit. Er konnte kaum sicherer gehen.

Der vierte Schuss zertrümmerte krachend die gesamte linke Gesichtshälfte des Mönchs und sprengte das linke Auge explosionsartig durch den Hinterkopf hinaus, der fünfte schlug schmatzend einen Teil der rechten Hand ab. Nummer sechs, sieben und acht zerfetzten den Großteil der Organe im Torso mit der unerbittlichen Kraft von improvisierten Teilmantelgeschossen; neun, zehn und elf den Großteil der Knochen in Beinen und Armen. Mit zwölf, dreizehn und vierzehn verfehlte er den Kopf, zitternd vor Begeisterung und Überlebenswillen, bis fünfzehn letztendlich durch den Kehlkopf drang und die gebrochene Halswirbelsäule wie einen trockenen Ast entzweiriss. Das Knacken war lauter als der Nachhall des Schusses, begleitet von einem Geräusch als hätte jemand einen großen Fetzen Stoff gewaltsam in zwei Teile gerissen. Dumpf schlug der enthauptete Körper auf dem Boden auf und landete platschend in der kleinen Blutpfütze; aus dem Halsstumpf sickerte schwach noch ein wenig Körperflüssigkeit nach. Der Kopf des Mönchs, zu einem Teig aus Gewebe und Knochen geschossen, hing schwingend in der Schlinge des Seils, über dem Altar quietschte leise der kreisrunde Kerzenhalter. Ein schwer eitriger und metallischer Geruch, durchmischt mit dem Gestank von Kot und Urin, begann den Raum zu füllen.

Ruhig steckte er die Waffe ein und griff nach der Kerze. Vorsichtig, um nicht mit dem unter Umständen infizierten Gewebe und Blut in Berührung zu kommen, das überall verteilt war, ging er einen großen Bogen um den widerlichen faulenden Haufen aus ehemals menschlichen Überresten. Jetzt war er beruhigt. Als er sich in seine Pritsche legte, schlief er beinahe auf der Stelle ein.

Trotzdem verbrachte nur diese eine Nacht im Kloster, bevor er begann, sich wieder wie ein Schmetterling in einem Setzkasten zu fühlen. Er konnte hier nicht bleiben, so viel war klar. Also riss er noch einige Gurken und Möhren aus der Erde, füllte seine Trinkflaschen mit Brunnenwasser nach, überprüfte seine Waffen und brach auf.

Er musste weiter. Immer weiter.