Chapter Eins

Die Patienten Null

Die Patienten Null


„Es ist so ein Klischee, dass ich hier knie und mit euch rede, während der Himmel so grauschwarz ist und es nieselt. Wenn das ein Film wäre, würde ich die Augen verdrehen und umschalten. Ich könnte kotzen. Verzeihung, Mama, ich möchte erbrechen – jaja, das macht es nicht besser, aber du weißt, wie ich das meine. 

Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt jeden Tag hierhin komme. Eigentlich frage ich mich das sogar relativ oft. Ich habe ja nichts davon, außer dass ich mich fühle als wäre ich vollkommen bescheuert. Jaja, danach bin ich irgendwie grundsätzlich ein wenig erleichtert, wahrscheinlich bin ich deshalb immer hier. Trotzdem muss ich doch aussehen wie ein Wahnsinniger, der mit sich selber redet. Aber das ist eigentlich auch egal.

Ihr fehlt mir. Ich weiß, Papa, ich sage das jeden Tag, und ich weiß, dass es dir leid tut, aber du kannst nichts dafür. Ihr braucht auch kein schlechtes Gewissen zu haben, es ist nur so befreiend, mir das einzugestehen. Da ist es wieder, dieses Eingestehen, das mich jeden Tag kommen lässt.

Diese Erleichterung, die irgendwann einsetzen soll, nachdem man jemanden verloren hat, der einem wichtig war? Diese Befreiung, diese neu entdeckte Leichtigkeit? Bis jetzt merke ich nichts davon. Haben sie sich etwas Schönes ausgedacht, etwas, auf das man hoffen kann, warten kann – ich frage mich nur, ob es bei mir irgendwann auch soweit ist. 

Vorstellen, um ganz ehrlich zu sein, kann ich es mir momentan noch nicht. Dafür ist das alles, obwohl es schon eine Weile her ist, noch viel zu frisch. Es ging alles so schnell auf einmal. Erst Laura, dann Mama, dann Papa, dazwischen irgendwo der Rest der Welt. Ohne in sinnlosem Selbstmitleid versinken zu wollen: Das Ganze ist mir ganz schön um die Ohren geflogen. Es ist als wäre alles auf einmal auseinandergefallen. Wie ein faules Stück Obst. Euer Leben, die Welt, mein Leben-

Trotzdem kann ich nicht aufhören, immer wieder alles in Gedanken durchzugehen: Was passiert ist, wann es passiert ist, wie und wem und sowieso. Als würde sich mein Hirn weigern, über etwas anderes nachzudenken. Ich muss mich erinnern.“

Also erinnerte er sich. 

Es war für ihn ein Tag wie jeder andere gewesen (wenn er nicht Bereitschaft oder Nachtschicht hatte): Aufstehen um halb sechs, laufen, duschen, frühstücken, noch vor sieben Uhr Ankunft im Krankenhaus. Es gab immer etwas zu tun, Menschen verletzten sich jeden Tag und es war sein Job, sie wieder zusammenzuflicken. So sah er das zumindest; er sagte aus Spaß manchmal auch gern, er sei gelernter Schneider. „Ich schneide und nähe und bekomme Geld dafür.“ Dann lachte er verhalten, denn grundsätzlich stimmte das: Ihm blieb selten Zeit für eine umfassende Anamnese; er flickte Menschen grob zusammen, um Überleben und weiterführende medizinische Behandlung gewährleisten zu können. Viel mehr als schneiden und nähen war es nicht – und er benötigte die gleiche Präzision und Handfertigkeit wie ein Schneider.  

Die meisten konnten seinen Humor allerdings nicht teilen, oft hielten sie ihn sogar für arrogant, wenn er sich auf eine Stufe mit Nicht-Studierten stellte. Dabei war das nicht einmal seine Absicht, er wollte lediglich das gottgleiche Stigma, das allen Chirurgen ein beiwohnte, ein wenig entkräftigen. Deswegen ließ er es sich, obwohl er natürlich merkte, dass die meisten Patienten, Kollegen und Bekannten seine Berufsbeschreibung alles andere als lustig fanden, selten nehmen, einfach zu sagen: „Ich bin Schneider. Ich schneide und nähe und bekomme Geld dafür.“ Und jedes Mal, auch ein wenig in der Hoffnung, jemanden damit anzustecken, lachte er verhalten.

Auch an diesem Tag kamen die üblichen Patienten: Domestische Kleinunfälle, die meist nicht mehr als einen Verband, maximal eine Röntgenaufnahme und einen Gips verlangten, aber auch die Schwerverletzten aus Verkehrsunfällen, bei denen ihm nur die Notfallsanitäter sagen konnten, ob es sich um männliche oder weibliche Patienten handelte, denn oft konnte man das nicht mehr erkennen. 

Trotzdem: Es war zur Routine für ihn geworden und das war gut so, denn Routine machte in ruhig und Ruhe machte ihn präzise und Präzision machte ihn gut. Und er war gut. Einer der Besten, sagten viele, doch ihm war das egal. Er mochte seinen Job, denn er hatte das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Zwar führte die Routine auch dazu, dass er die Patienten kaum mehr als Menschen wahrnahm, aber auch das war nicht zwangsläufig etwas Negatives. Zwar hatte er sich sogar noch während seiner ersten Jahre als junger Arzt geschworen, nie einer der Chirurgen zu werden, die ihre Patienten als reine Summe von Problemen betrachten, die es wegzusubtrahieren galt, doch diese Veränderung war angesichts der Masse, die er operierte, nicht aufzuhalten gewesen. Er hatte es akzeptiert, auch wenn es ihm nicht gefiel.

Gemeinsam mit dem Internisten Tim, den er schon seit der Uni kannte, hatte er gerade eine Frau zwischen 35 und 40, etwa 65kg, Blutgruppe B, mit einem schweren Polytrauma der Extremitäten, ISS mindestens 27, aus einem blutverlustbedingten Herzstillstand geholt und stabilisiert, als sich dumpf das Geräusch von unzähligen, schnellen Schritten durch die Schiebetüren in den OP bahnten. Keine Minute später riss einer der Notfallmediziner in Kittel, Handschuhen und Mundschutz die Tür auf (er konnte sie dann nie auseinanderhalten und fürchtete, dass er selbst eins der gesichtslosen Wesen hier unten war) und rief: „Mehrere, wir wissen nicht, was los ist. Das müsst ihr euch ansehen!“

Tim und er tauschten kurz routinierte Blicke aus, dann nickte Tim nur, um ihm zu bedeuten: Ich schaffe das hier auch allein. Schnell warf er die blutigen Handschuhe in den verchromten Mülleimer neben dem Operationstisch und hetzte hinter dem grünbekittelten Neutrum her, das so entgeistert nach Unterstützung verlangt hatte und nun den Weg wies, indem es voraneilte und immer wieder einen Blick nach hinten warf. 

„Schnell, schnell!“, war das Einzige, was es immer wieder sagte.

Also rannte er etwas schneller. Das jahrelange Training zahlte sich immer wieder aus; es fiel ihm leicht, durch die endlosen, gelbweißen Gänge des Krankenhauses zu sprinten, wenn es nötig war, um sofort nach seiner Ankunft mit der Operation zu beginnen. Er spürte dann zwar, dass sein Puls erhöht war, aber das zeigte sich nach außen hin nicht, sein Atem war ebenso ruhig wie seine Hand. Oft musste er in solchen Momenten an Biathleten denken, doch diese Parallele behielt er immer für sich. Er wollte nicht, dass sie ihn falsch verstanden und dachten, er würde die Medizin als Sport sehen. Er bot schon genug Angriffsfläche.

Sie brauchten keine 30 Sekunden, um OP5 zu erreichen. Als sie die Tür aufrissen, flogen ihnen Satzfetzen entgegen wie aufgescheuchte Tauben. 

„Katatonisch-“ 

„Was ist das?“

„Herzstillstand!“

„Was ist das?“

Wie sich herausstellen sollte, wusste niemand die Symptome zu deuten, die die Patienten aufwiesen. Es gab nur zwei eindeutige Tatsachen: Es wurden immer mehr – allein an diesem Tag lieferten die vollkommen überforderten und erschöpften Rettungsteams über zwanzig ein – und egal, was die Ärzte versuchten: Die Patienten starben.

„Mark! Was auch immer das ist“, rief Tim ihm durch das laute Menschenstimmengewirr und Maschinenjaulen auf dem Gang zu, wo sie sich zum letzten Mal zufällig trafen, „es ist sehr wahrscheinlich, dass wir den Patienten Null hatten.“

„Was?“, antwortete Mark.

Während Tim von den Menschenmassen mitgezogen wurde, hob er die Hand, als würde er sich in einer Schulklasse zu Wort melden, und rief: „Die ersten Patienten! Wir hatten die ersten Patienten mit den Symptomen!“

Allerdings stimmte das nicht ganz: In Marxloh und Meiderich waren schon vor ein paar Stunden ähnliche Fälle eingegangen. Doch genau wie hier im Bethesda waren die anderen Kliniken so ausgelastet, dass niemand die Zeit fand, anzurufen und nachzufragen. 

Auch die Pathologen arbeiteten unter höchsten Druck, um wenigstens irgendetwas herauszufinden über die unzähligen, unerklärlichen Todesfälle. Wenn ihnen Zeit blieb, spekulierten sie über die mögliche Ursache zwischen den Sterbenden und den Verletzten, die durch das Chaos da draußen in Unfälle geraten oder einfach nur zuhause gestolpert waren, sich einen Arm gebrochen hatten und sich nun wunderten, was hier eigentlich los war. So sickerte langsam, wie aus einem lecken Wasserhahn, die These durch, dass es sich um eine mikrobiologische Erkrankung handeln musste, und so, langsam und unaufhaltsam, wie unerwünschte Wassertropfen einen Eimer füllen, nahm die Angst zwischen Behandlungspersonal und bisher nicht betroffenen Patienten des Krankenhauses zu, dass eine Ansteckung nicht zu vermeiden war. Dann – stetig, langsam und so leise, dass man es fast nicht wahrnehmen konnte –, verließen immer mehr Menschen das Krankenhaus.

Mark fiel von alldem nichts auf; er arbeitete und arbeitete, versuchte zu retten, was und wen er retten konnte und verlor irgendwo zwischen der dreizehnten und vierzehnten Stunde von ständigem Wiederbeleben und Zudecken völlig das Gefühl für Zeit, dass er nur noch funktionierte. Manchmal war ihm so als würde er sich selbst mit einer Fernbedienung steuern. Er wusste nicht, wie er das machte, doch er ließ es geschehen – auch, weil er unfähig war, etwas daran zu ändern.

Vermutlich hätte er ewig weitergemacht, wäre nicht zum zwanzigsten, dreißigsten Mal an diesem Tag der junge Zivildienstleistende mit dem Dreitagebart durch die Tür zum OP geeilt und ihm die harten Fakten des nächsten Patienten entgegengerufen. 

„Junge Frau, 27, maximal 30, schwere Kontusionen des Torsos und der Extremitäten, kaum mehr vorhandene Vitalfunktionen.“ Er hatte innerhalb von ein paar Stunden erstaunliche viele Fachausdrücke gelernt, um schneller mit den Medizinern kommunizieren zu können und Schnelligkeit hatte er für sich selbst zu seiner herausragenden Fähigkeit in dieser Krise ernannt. „Eine Massenpanik in einem vollkommen überfüllten Supermarkt in Duissern. Bis wir überhaupt die schweren von den harmlosen Fällen trennen konnten, hat es fast eine Stunde gedauert.“

Mark nickte nur konzentriert und ging dem Jungen entgegen, der mit ungeschickt großen Schritten und dem Rücken zuerst durch die von der Decke hängenden Plastiklamellen trat und die Liege auf Rollen hinter sich herzog und sie und die Frau darauf mit routinierter Geschwindigkeit, die seine zitternden, schwitzigen Hände verstecken sollte, in Richtung des Operationstisch beförderte und dabei vermied, sie sich genauer anzusehen, weil ihr Gesicht so schwarz aussah und ihr Mund sich bewegte wie der eines Fisches, der an Land nach Luft schnappt und weil ihre Augen so weit offen und schmerzerfüllt waren und ihre Arme und Beine an einigen Stellen so merkwürdig verknickt wie ein weggeworfener Strohhalm und weil sie so jung war und weil er lieber raus wollte, auf die überfüllten Straßen mit Verletzten und Toten und hupenden Autos, anstatt hier zu sein, wo all das Chaos konzentriert zusammenkam und mittlerweile auf diesen jungen Arzt namens Mark zurückzufallen schien, der als einer der letzten die Stellung hielt, während die meisten anderen schon längst da draußen waren und vermutlich einige von ihnen entgegen ihrem Willen verletzt und entstellt und sterbend ihren Weg wieder hierhin finden würden und dieser junge Arzt namens Mark gerade einfach nur dastand, plötzlich aus seinem maschinellen Automatismus gerissen durch Emotionen, die er schon vor Stunden weggeschoben hatte, weil sie im Weg gewesen waren und nur mit leerer Mimik auf die Liege starrte, auf der seine kleine Schwester lag.