Immer diese endlose Müdigkeit. Es nervte sie ein wenig. Dass Wilhelm ihr gegenüber genauso aussah wie sie, tröstete sie ein wenig. Er saß in seinem großen Lederstuhl mit den überbreiten Armlehnen und den riesigen Rollen an den Seiten, die Füße auf einem Hocker, in sich zusammengesunken mit halboffenem Mund und welker Haut und schlief wie eine Eidechse auf einem warmen Stein. Sie musste lächeln.
Ein Pfleger kam und tauschte die Kochsalz-Infusion, die neben ihr auf diesem viel zu hohen, silbernen Gestell thronte, gegen eine neue aus. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie leer gewesen war. Sie sah, dass sich sein Mund bewegte, verengte die Augen und drückte sich ein wenig aus dem Sessel nach oben. Ihr Handgelenk knackte und sie spürte, wie sich ihre Hüfte ein wenig verschob.
„Wie geht es Ihnen heute, Frau Reichsbach?“, wiederholte er, lehnte sich viel zu nah in Richtung ihres Gesichts, schob ihr die Brille hoch und drückte ihre Schulter als wären sie enge Freunde. Gerade, als sie etwas antworten wollte, war er schon wieder verschwunden. Ein wenig unwillig winkte sie ab.
Einige Stunden später wurde sie zum Esstisch gerollt. Als hätte jemand einen Wecker gestellt, wachte Wilhelm grundsätzlich einige Minuten vorher auf und war so freundlich, so lange immer wieder ihren Namen zu wiederholen, bis sie langsam die Augen öffnete. Sie schlief meist um diese Zeit, viel gab es nicht zu tun am frühen Abend – und da war eben immer diese endlose Müdigkeit.
„Können Sie allein essen oder brauchen Sie Hilfe, Frau Reichsbach?“, fragte derselbe Pfleger wie zuvor sie am Esstisch. Sie nickte und der Pfleger drehte mit seiner jungen Kollegin weiter seine Runden zwischen den 45 Senioren, die hier wohnten. Er konnte nichts dafür, aber manchmal nervte er sie mit seiner Fürsorge. Es war sein Job, keine Frage, aber sie war doch kein Kleinkind. Obwohl es fast eine Stunde dauerte, schaffte sie es, mehr als den halben Teller mit zitternden, schmalen Händen zu leeren.
Später vor dem Fernseher – Wilhelm war schon wieder eingeschlafen – liefen die Nachrichten. Zum Glück nicht diese fürchterlichen Volksmusik-Sendungen, mit denen die Pfleger es gut meinten, die aber keiner mochte. Mit halb geöffneten Augen sah sie dem flirrenden Treiben auf der alten Mattscheibe zu.
Sie hörte von hinten: „Immer dasselbe in der Welt!“ Horst. Er fuchtelte mit der Faust in der Luft herum. Zumindest dachte sie das; er fuchtelte immer mit der Faust in der Luft herum, wenn er wütend war und sie hatte keine Lust, sich umzudrehen, nur um ihre Vermutung bestätigt zu sehen – zumal er dann schon wieder aufgehört haben würde.
„Über irgendetwas müssen sie doch berichten“, sagte sie mit kräftiger Stimme eher zu sich selbst.
Horst stieg sofort ein: „Darum geht es mir nicht. Menschen ändern sich einfach nie, darum geht es mir! Es ist immer dasselbe, was passiert, niemand lernt aus seinen Fehlern und alles wiederholt sich. Wieder und wieder und wieder! Wenn das einer beurteilen kann, dann ja wohl wir!“
„Das stimmt allerdings“, sagte sie, weil sie wusste, dass Horst, wenn er sich einmal ärgerte, sowieso maximal auf Bestätigung reagierte.
„Und das alles wieder: Unruhen im Nahen Osten, Glaubenskriege, unerklärliche Krankheiten, Wirtschafts- und Währungskrisen und Russland kämpft mit Norkorea um den Titel als größter Idiot auf der Welt und sie alle tun so, als wäre es etwas Neues. Kann denen nicht mal einer sagen, dass das alles schon da war? Dass sie nur einfach in die Geschichtsbücher schauen müssten? Oder die Alten fragen? Aber nein, die haben ja keinen Platz mehr auf dem Arbeitsmarkt! Aber wer hat überhaupt Platz auf dem Arbeitsmarkt? Guck dir doch an, wie wenig Pfleger hier sind, obwohl wir eine Summe zahlen, mit der wir uns ein Haus mieten, ach was, ein Haus kaufen könnten! Das ist doch, als ob-“
„Wedelst du gerade mit der Faust in der Luft herum?“, fragte sie.
Horst zögerte irritiert und sah auf seine Hand, die, in der Tat zu einer Faust geballt, vor seinem Gesicht durch die Luft schwang. Dann lachte er. „Ja, meine liebe Käthe, ich schätze, das tue ich. Immer dasselbe, was?“
Sie drehte sich zu ihm um, mit Bedacht und plötzlich sehr wachen, klaren Augen, lächelte ihn an und sagte: „Immer dasselbe.“