„Sie haben einen Neuen im Bunker“, sagte Jonathan.
„Aha. Kannst du mir die Schaufel reichen?“ David deutete hinter sich.
„Manchmal hab’ ich das Gefühl, dich interessiert das alles gar nicht und du fragst bloß immer nach, um mich zu nerven.“ Er reichte David die Schaufel.
„Jetzt bist du die Diva von uns beiden. Mich interessiert das. Aber dabei kann ich ja wohl weiterarbeiten, oder?“
„Von mir aus.“ Jonathan drückte seinen Daumen zwischen seinen Augenbrauen und ließ ihn kreisen, wie er es so oft tat, wenn ihm etwas nicht behagte.
David wischte sich schweren Schweiß von der Stirn, während er sich kurz auf dem dem Werkzeug abstützte, als sei es ein Gehstock. Trotz des grauen Himmels war es erstaunlich heiß.
„Hat jemand ein Kind bekommen?“, fragte David.
„Ich dachte schon, du wartest bloß wieder passiv darauf, was kommt, und fragst gar nicht mehr.“
David fuhr herum, etwas schneller und aggressiver, als er gewollt hatte, und drehte seine Handinnenflächen nach außen, die mit offenen Blasen übersäht waren. „Passiv?“
„Nein, niemand hat ein Kind bekommen“, ging Jonathan über die Geste hinweg. „Sie haben einen Jungen aufgelesen, draußen. Gerade einmal 15 Jahre alt, wenn überhaupt.“
„Was machen sie denn draußen? Ich dachte, sie warten einfach ein bisschen und die Welt ist plötzlich wie durch Wunderhand frisch und neu?“
„Sei nicht immer so zynisch.“
David begann, das Beet umzugraben. Mit Muße und Effektivität schaufelte er alte, überdüngte Erde hinter sich auf einen immer größer werdenden Haufen, und beförderte frische, lockere Erde nach oben.
„Und das ist wirklich das einzige, was dich daran interessiert? Was sie draußen machen?“ Jonathan seufzte schwer. „Du bist wirklich extrem komisch manchmal. Ich weiß es nicht, was sie draußen machen. Als Franziska ins Detail gehen wollte, sind wir unterbrochen worden.“
„Darf etwa niemand wissen, dass ihr eure Tage verquatscht?“
„Schon wieder zynisch. Nur so als Hinweis. Du denkst wirklich, eine Frau könnte mir wichtiger sein als du, nicht wahr?“
David sagte nichts.
Jonathan zögerte, dann fuhr er fort: „Ehrlich gesagt, das weiß ich auch nicht so genau. Ich glaube, Franziska hat gewisse Privilegien in der Gemeinschaft und kann prinzipiell tun und lassen, was sie will.“
„Sag nicht ,Gemeinschaft‘.“
„Stell’ dich nicht so an. Jedenfalls glaube ich, dass sie nicht so wirken wollte, als würde sie interne Informationen nach außen tragen.“
„Tratschen.“
„Zynisch.“
„Eher lakonisch, aber weiter.“
„Warum der Junge jetzt bei ihnen ist, was er dort macht, was mit ihm passieren soll: Ich weiß es nicht. Es klang allerdings so, als wäre er nicht unbedingt freiwillig da.“
David hörte kurz auf zu graben und sah Jonathan an, legte den Kopf dabei leicht schief. „Eine tolle Freundin hast du dir da gesucht. Als ob es mittlerweile nötig ist, jemanden gegen seinen Willen festzuhalten! Hat er ihnen irgendetwas getan?“
„Ich weiß doch nicht einmal, ob sie ihn gegen seinen Willen festhalten! Das war nur eine Vermutung, Franziska hat es nur angedeutet und hatte dabei so einen komischen Unterton. Als hätte er etwas gefunden, was er nicht hätte finden sollen; sie klang beinahe ein wenig ängstlich, als ob-“
„Also weißt du doch irgendetwas und sie ja scheinbar auch!“, unterbrach David ihn. „Warum erzählst du mir nur die Hälfte von allem? Als ob das so ein unwichtiges Detail wäre!“
„Reg dich nicht direkt so auf. Ich weiß nicht, ob da etwas dran ist.“
„Selbst wenn da nur ein klitzekleines bisschen dran ist, frage ich mich gerade, warum du Kontakt zu jemandem pflegst, der Teil einer Sekte ist, die unbeteiligte Menschen gefangen hält! Mir ist es egal, wenn sie sich 30 Jahre lang unter der Erde einschließen wollen – wobei es, wenn es nach mir ginge, gern noch einmal 30 Jahre länger sein dürften. Aber sobald sie denken, über das Leben anderer entscheiden zu können, sind sie keine Gruppe von harmlosen, religiösen Bescheuerten mehr, sondern einfach nur ernstzunehmend wahnsinnig! Was soll mit dem Jungen denn passieren? Soll er eine halbe Ewigkeit mit ihnen im Bunker verbringen? Ob er will oder nicht?“
„Du bist laut“, versuchte Jonathan ihn zu beschwichtigen. Auf Davids Stirn war eine Ader hervorgetreten, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, sein Gesicht mit feinen, wütenden Falten überzogen, die ihn plötzlich wesentlich älter aussehen ließen als er war. „Versuch, das einfach nicht so persönlich zu sehen. Etwas dagegen tun kannst du sowieso nicht.“
David ballte seine Hände zu Fäusten. „Was hat mein persönlicher Hintergrund denn damit zu tun? Ein verdammtes Jungeninternat ist ja wohl kaum vergleichbar mit einem Bunker voller Freaks! Komm’ mir nicht so!“
„Ich wollte nicht-“
„Scheißegal, was du wolltest! Ich kann das nicht einfach so akzeptieren, als wäre das lediglich eine amüsante Fernsehsendung. Und auch wenn ich könnte, ich will gar nicht! Ich will gar nicht darüber nachdenken, was sie mit dem Jungen vorhaben könnten, wirklich-“
„Nicht darüber nachdenken zu wollen ist nicht so weit davon entfernt, wie ich versuche, die Sache zu sehen.“
„Unterbrich mich nicht! Das war rhetorisch, und das weißt du auch! Sei nicht so ein verdammter Haarspalter!“
Jonathan sah etwas verschämt zu Boden.
„Was soll aus dem Jungen werden, hm? Was meinst du denn?“ Er machte eine kurze Pause, Jonathan starrte nur weiterhin auf den Boden. „Egal was: Er wird es sich vermutlich nicht aussuchen können, wenn ich sie richtig einschätze. Was für eine Botschaft sendet ihm das denn? Dass die paar Menschen, die noch leben, nichts besseres zu tun haben, als die paar anderen Menschen, die noch leben, wie verdammte Sklaven zu halten und ihnen dieses bisschen Freiheit, das man nicht einmal so nennen kann, einfach ungefragt wegnehmen können? Was für eine Welt soll das denn sein, die deine dämliche, ach so friedliche ,Gemeinschaft‘“ – er malte Anführungsstriche in die Luft – „da in Planung hat? Wenn das die Zukunft ist, weiß ich nicht, wofür wir hier so hart arbeiten!“
Beide schwiegen. David atmete schwer, immer noch die Hände zu Fäusten geballt. Dann murmelte er: „Wofür ich so hart arbeite jedenfalls.“
„Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?“
David starrte ihn zur Antwort nur schmerzhaft direkt an. Mit einer abfälligen Bewegung warf er Jonathan die Schaufel vor die Füße und stapfte an ihm vorbei. Im Weggehen rief er: „Dass du auch endlich etwas Sinnvolles tun könntest!“