Zwei


Der Alte fuhr sich durch die fettigen Haare. „Wo soll ich anfangen, mein junger Freund Samuel? Nur eines vorab: Viel weiß ich auch nicht.“ Er lächelte sein charmantes Pennerlächeln. 

„Mir egal, mein alter, namenloser Freund, ich bin über jedes Detail froh“, sagte Sam müde. Unter seinen jugendlichen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Er war hungrig.

Die letzten beiden Nächte, die er mit dem Alten in dieser kalten, fenster- und seelenlosen Zelle verbracht hatte, hatte er kaum geschlafen. Immer wieder sickerten Geräusche durch die Wände, die er nicht einordnen konnte, aber einzuordnen versuchte und die ihn letztendlich um den Schlaf brachten. Dass es hier nicht einmal ein Bett, geschweige denn Kissen oder eine Decke gab, verbesserte die Situation nicht unbedingt. 

Schon in seiner ersten Stunde in diesem Raum hatte Sam sich gefragt, wie er seinem Stoffwechsel wohl seinen Lauf lassen würde. Eine Toilette gab es ebenso wenig wie ein Bett – natürlich nicht – doch anfangs hatte er vermieden, darüber nachzudenken. Irgendwann zwang ihn jedoch der Drang zum Nachzudenken und er hätte beinahe angefangen zu weinen. 

Der Alte hatte gemerkt, wie unangenehm Sam die gesamte Situation war und war aufgestanden, um in die Ecke zu pinkeln, die am weitesten von ihnen entfernt war. Gesagt hatte er nichts. Sam war zutiefst dankbar gewesen und hatte es ihm nachgetan wie ein Hundewelpe.

Sie hatten einmal täglich (der barsche Befehl, sich schlafen zu legen, strukturierte den Verlauf eines Tages mit dem Befehl, aufzuwachen, sehr klar durch) nur ein paar merkwürdige Kekse und ein wenig Wasser bekommen, das zu wertvoll war, um sich damit zu waschen. Sam wusste, dass er mittlerweile ähnlich stinken musste wie der Alte, doch es war ihm egal. Vielleicht hatte die Müdigkeit doch ihre Vorteile.

„Sie sind religiös, aber keine Religion, wie ich sie kenne“, begann der Alte. „Sie glauben an zwei Götter, wenn ich das richtig verstanden habe; einen guten, einen bösen. Ein bisschen wie Gott und der Teufel im christlichen Glauben, bloß, dass ihr böser Gott genau dieselbe Verehrung erfährt wie der gute. Überhaupt sind sie besessen von Ambivalenz, von Gegensätzen, von der Zahl zwei. Ich weiß nicht genau, wie weit sich das noch erstreckt. Sie scheinen jedenfalls nicht das klassische Moralverständnis zu haben, dass die großen Weltreligionen vereint.“ Er unterbrach sich. „Das die großen Weltreligionen vereint hat“, korrigierte er etwas melancholisch.

„Weißt du, wie viele sie sind, alter Mann?“

„Sie nennen sich Gemeinschaft, das weiß ich, deswegen gehe ich davon aus, dass sie mehr als nur zwei sind, nicht wahr?“ Er schmunzelte Sam an und entlockte ihm ein schwaches Lächeln. „Nein, mein junger Freund, tut mir leid, genau weiß ich das nicht. Sie halten mich hier. Ich weiß nicht, wie lange schon. Ich weiß nur, dass sie schon hier unten waren, bevor die Welt gestorben ist.“

Sam setzte sich ungläubig auf. „Bist du etwa schon so lang hier? Länger als alles da draußen tot ist?“

„Kann sein, kann nicht sein.“ Seine Gesicht wurde ausdruckslos.

„Und warum bist du hier? Welchen Sinn hast du für sie? Was bezwecken sie damit, dich hier zu halten?“

Der Alte winkte ab. Sam verdrehte die Augen. Während ihrer zahlreichen Gespräche innerhalb der letzten zwei Tage hatte er verstanden, dass der Alte immer dann auf diese Weise abwinkte, wenn er das Thema wechseln wollte. Es kam, wie Sam sich selbst prophezeit hatte.

„Jetzt bist du dran, mein junger Freund Samuel, ich habe genug geredet. Du hast mir immer noch nicht erzählt, was du getan hast, dass sie dich gefunden haben. Warum du hier bist. Du hast irgendein Ziel, das weiß ich. Du hast diese enttäuschte Entschlossenheit im Blick, als würde dich das alles hier“ – er deutete mit einer ausladenden Geste in den Raum hinein – „nur von irgendetwas Wichtigem abhalten. Also: Was ist dein Ziel?“

Sam seufzte. Eigentlich war auch er zu erschöpft zum Sprechen und eigentlich hatte er immer noch unzählige Fragen, aber er war dem Alten langsam ein paar Antworten schuldig, nachdem er ihn immer wieder vertröstet oder abgelenkt hatte. In diesem Moment fiel ihm auf, dass das seine Art von Abwinken gewesen war. „Ich suche jemanden.“

„Jemanden also, was?“ Der Alte schmunzelte wieder. „In Ordnung, vielen Dank, das stillt meine Neugier.“

Sam musste lachen. „Ich suche meine Frau.“

„Deine Frau?“ Der Alte wirkte ernsthaft überrascht. „Du bist schon verheiratet?“

„Nein, nein. Wir nennen uns bloß Mann und Frau als wären wir verheiratet. Aber ich bin mir sicher, dass wir heiraten werden, also macht es keinen Unterschied, wann wir damit anfangen, da können wir doch jetzt schon einmal üben, nicht wahr?“

Der Alte nickte bloß leicht amüsiert.

„Wir haben uns verloren, als das Chaos anfing. Seitdem habe ich nichts anderes gemacht als sie zu suchen. Ich weiß, dass sie lebt, daran habe ich nicht einen Augenblick gezweifelt. Also habe ich systematisch jedes Haus in der Umgebung durchsucht, jeden Raum, jede Ecke. Und dann bin ich wieder zu unserem Treffpunkt zurückgekehrt, jeden Tag, bevor die Nacht kam.“

„Ihr habt einen Treffpunkt?“

„Ja, natürlich. Es war irgendwann absehbar, dass sich die Welt auseinanderbröseln würde wie trockener Sand, da braucht man doch einen Rückzugsort.“

Der Alte zuckte nur mit den Schultern.

„Doch sie kam einfach nicht. Trotzdem habe ich nicht einen Moment lang aufgehört, sie zu suchen. Irgendwann war ich ein wenig verzweifelt, also bin ich zu ihr nach Hause aufgebrochen. Ein Tagesmarsch, mehr sogar, riskant. Ich musste in fremden Wohnungen schlafen.“ Ein wenig verlegen irrte sein Blick durch den Raum und glitt immer wieder von den Wänden ab. „Fremde Wohnungen machen mir Angst.“ 

Der Alte nickte verständnisvoll, also fuhr Sam fort: „Auf die Idee hätte ich vorher schon kommen sollen! In ihrer Küche hängt eine Tafel, und auf dieser Tafel steht eine Adresse. Diese Adresse hier.“ Er deutete mit den Zeigefingern in Richtung Decke. „Also wusste ich endlich, wo ich weitersuchen kann. Zum ersten Mal hatte ich einen konkreten Anhaltspunkt, wo sie sein könnte – ich war mir sicher, dass sie mich nicht einfach so aufgeben würde. Genau wie ich wusste, dass sie noch lebt. Wie ich weiß, dass sie noch lebt.“

„Die Liebe also, was?“ Der Alte schmunzelte. „Eine edle Motivation, mein junger Freund, gerade in einer Zeit wie der unseren.“

Sams Augen verklärten sich etwas. „Ja, die Liebe. Was gibt es denn sonst? Ich habe bloß immer noch ein wenig Angst um sie. Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Dass sie sich verloren fühlt. Angst, dass sie Angst hat. Sie braucht mich.“ Er schwieg ein paar Sekunden, während der Alte ihn nur aufmerksam anblickte, offenbar ein wenig gerührt von der Fürsorge seines jungen Gegenübers. 

„Sie ist so schön, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ein wenig größer als ich, rotbraune Haare, ein Gesicht wie eine Frau auf einem romantischen Gemälde, sanft und wissend.“

Der Alte schmunzelte wieder. „Wie heißt sie denn, deine Frau?“

„Franziska.“

Der Alte runzelte die Stirn. „Franziska?“

„Ja“, antwortete Sam. „Findest du den Namen komisch oder was?“ Er lachte.

Ohne zu lächeln sagte der Alte: „Du bist lustig, mein junger Freund.“ Er stockte. „Nein. Das ist ein vollkommen normaler, sehr schöner Name. Daran ist nichts komisch.“

„Gut!“, lachte Sam. „Ich dachte schon, mit dir stimmt irgendetwas nicht. Ich weiß noch, wie wir damals immer darüber geredet haben, wie wir zwei uns in einer Situation wie der da draußen verhalten würden.“

„Und?“, fragte der Alte vollkommen geistesabwesend. Er wollte, dass Sam redete, damit er seinen Gedanken nachgehen konnte. Zum Glück konnte der Junge offenbar eine Menge über die Frau reden, die er als seine Frau bezeichnete. Franziska.

„Erst haben wir natürlich einen Treffpunkt ausgemacht, das ist ja klar. Man weiß ja nie, wann es so weit ist, wie man mittlerweile sehr gut sehen kann. Dann-“

Die Tür öffnete sich. Ein Mann in blauem Overall stand vor ihnen und zielte mit einem Gewehr auf sie. Er trug eine über und über mit Symbolen geschmückte Maske, die einer Gasmaske nicht unähnlich sah. „Aufstehen!“, befahl er mit hartem Ton. 

Ohne einen Moment lang zu zögern, standen Sam und der Alte auf.

„Es ist so weit“, sagte der Mann mit der Waffe in der beängstigend merkwürdigen Kleidung.

Sam sah hilfesuchend den Alten an und erschrak. Dessen Gesicht war leer. Fahl wie das einer Leiche und absolut ausdruckslos. Er blickte nur auf seine Stiefelspitzen. „Tu einfach, was er dir sagt, dann tut er dir nichts“, sagte er ohne Intonation.