Nach dem Ende


Ihre Tage wurden zunehmend effektiver und entspannter. Mittlerweile hatte sie einen kleinen Vorrat von Lebensmitteln aufgebaut, die wahrscheinlich noch ein Ende der Welt überstehen würden, ohne zu verderben. So hatte sie das getauft, worüber sie immer noch nichts wusste: Das Ende der Welt. Offensichtlich war etwas passiert, das die Menschen umgebracht hatte – sie hatte sich damit abgefunden, dass sie nicht beantworten konnte, was es war. Was sie lediglich immer noch verwirrte, war die Tatsache, dass sie sich jetzt sicher war, nicht die Einzige zu sein. 

Wieder einmal musste sie an ihre Begegnung mit dem Unbekannten auf der Autobahn denken. Er hatte auf sie geschossen, während er vor ihr weggerannt war. Drei Mal. Sie war sich sicher, deutlich hatte sie das Mündungsfeuer seiner Pistole gesehen; dreimal helles Blitzen. Sie verstand immer noch nicht, was ihn dazu bewegt hatte. War sie bedrohlich gewesen? Wohl kaum, er hatte einfach nur da gestanden, bis sie schon längst sein Gesicht erkennen konnte. Vermutlich war er einfach wahnsinnig geworden oder es schon gewesen. Die wirren dreckig-blonden Haare, teilweise am Hinterkopf schon ausgerissen oder ausgefallen, der ruhelose Blick aus kleinen stechenden Augen, die leicht bucklige Körperhaltung eines Verfolgten; irgendetwas hatte mit diesem Mann – sie schätzte ihn auf Anfang 40, vielleicht etwas älter, schwer zu sagen – ganz eindeutig nicht gestimmt. Sie ärgerte sich, dass sie überhaupt nicht über eine derartige Möglichkeit nachgedacht hatte, als sie sich sicher gewesen war, dass ihr ein anderer Mensch auf der Fahrbahn entgegen kam. Bloß, weil sie beide aus einem vollkommen nicht ersichtlichen Grund überlebt hatten, war doch die Welt nicht plötzlich anders.

Kurz und etwas schmerzhaft wie kleine Migräneschübe blitzten Szenen aus ihrer Vergangenheit auf. Die endlosen Male, die sie versucht hatte, doch noch die U-Bahn zu bekommen, deren Türen gerade dabei waren, sich zu schließen. Sie war gerannt, hatte mit den Armen gewedelt wie ein ein verzweifeltes Kind, bloß, um letztendlich von leeren Gesichtern aus der anfahrenden Bahn angestarrt zu werden.

Das ständige Mitleidsgrinsen, wenn Menschen dann doch verstanden, und diese ekelhafte übersteigerte Höflichkeit, als sei sie auf Hilfe angewiesen wie ein Rollstuhlfahrer oder eine gebrechliche alte Frau – sie war bloß taubstumm, nicht verkrüppelt! Diese Art von selbstgerechten Humanisten war noch schlimmer als diejenigen, die den Blickkontakt mit ihr auf so konzentrierte und doch peinlich berührte Weise vermieden, als hätten sie Angst um ihre Seele.

Die erbärmlichen Versuche, völlig primitive und selbstverständliche Zeichenfolgen für Hörende verständlich zu machen, wofür sie meistens beinahe aus Mitleid für die tumb fragenden Fratzen vor ihr auf ihre ungelenke Version von akustischer Sprache zurückgreifen musste – sie hasste es, wenn dieser Fall eintrat. Menschen reagierten grundsätzlich entweder mit dieser ekelhaften übersteigerten Höflichkeit oder vermieden danach panisch jeden Blickkontakt. Eigentlich versuchte sie grundsätzlich, Situationen zu differenzieren und von derartig eindeutigem Denken abzusehen, das so eindeutig war, dass es eindeutig nicht stimmen konnte, doch es hatte in ihrem Leben leider sehr wenige Ausnahmen gegeben. Ihr Zynismus war aus Erfahrung erwachsen.

Beinahe erschossen zu werden war da beinahe eine willkommen ehrliche Abwechslung – wenigstens blieben so keine Fragen über Sympathie und Antipathie offen.

Sie schob die sinnlosen Gedanken beiseite, sie stahlen ihr nur Energie, von der sie seit kurzem erstaunlich viel hatte. Es war nicht so, dass sie sich freute, die Welt um sie herum so leer zu sehen, doch es erfüllte sie mit einer tiefen Ruhe, die sie bisher nur gekannt hatte, wenn sie nach einer erholsamen Nacht an einem Sonntag aufwachte, wusste, dass sie weiterdämmern konnte und in diesem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein ihre gesamten Probleme, Gedanken, Gefühle und sogar ihre körperlichen Bedürfnisse für einige Minuten vergaß und lediglich existierte. 

Von der früheren Anstrengung, mit der sie ihr Leben gezimmert hatte und das sie kontinuierlich mit aller Kraft zusammenhalten musste wie ein rostiger Nagel in ein morsches Baumhaus, war nichts mehr übrig. Nach dem Ende hatten sich täglich neue Möglichkeiten ergeben, immer wieder, wie von selbst. Sie hinterfragte das nicht, wunderte sich bloß, aber akzeptierte. Sie fürchtete sich nicht, auch wenn alles um sie herum genau das Gegenteil gebot. 

Wie so oft in den letzten Tagen saß sie im flackernden Halbdunkel einer Kerze – die sie mit großer Disziplin ein wenig feierlich nur anzündete, wenn es wirklich sein musste – an ihrem Zeichentisch und zeichnete. Sie kam sich sehr viktorianisch vor.

Vor einigen Tagen hatte sich der Drang zu arbeiten wieder eingestellt, bloß empfand sie das Zeichnen jetzt nicht mehr als Arbeit. Sie nahm sich Zeit, so viel, wie ihr Tagesablauf ihr erlaubte und dann so viel wie sie wollte. Sie war sich bewusst, dass es prinzipiell dekadent war, sich so zu beschäftigen, dass Stifte und Farben im Gegensatz zu anderen Alltagsgegenständen wirklich nicht einfach zu finden waren, und dass niemand ihre Bilder mehr veröffentlichen, bewerten, bezahlen oder sehen würde. Aber sie zeichnete. Sie freute sich sogar ein wenig auf die Herausforderung, mit anderen Mitteln zurecht kommen zu müssen, wenn ihr Vorrat an Material aufgebraucht sein sollte – sie hatte bereits eine Bilderserie in Kugelschreiber im Kopf; blau schraffiert, feine, unabsichtlich abgerissene Linien und glänzende, nicht vollständig deckende Flächen. Kugelschreiber waren einfach zu finden.

Sie hatte mit Zeichnungen des Innenhafens angefangen, Studien wie auf der Kunsthochschule skizziert. Ihr hatte diese Basisarbeit gefehlt, hatte sie dabei beinahe schmerzlich bemerkt – alles in ihrer Karriere nach der Uni war darauf ausgelegt gewesen, möglichst laut, grell und groß oder ironisch, unterkühlt und postmodern zu sein. Zeitgeist, Zeitgeist, Zeitgeist. Sie wusste jetzt: Je mehr Abstrakta von außen in ihre Arbeit tropften wie Wasser durch ein löchriges Dach, desto unzufriedener war sie mit dem Ergebnis gewesen. Hauptsache, es verkaufte sich und verkaufte das, für das es bestimmt war. Seit langer Zeit hatte sie nicht mehr gezeichnet, um bloß ein Bild zu zeichnen.

Was sich gerade mit Bleistiftstrichen zusammenfügte, war das Gesicht eines Mannes im Halbprofil einschließlich Torso, etwa 40, vielleicht älter, mit wirrem Haar und leicht irrem Blick. Er trug ein Gewehr auf dem Rücken und feuerte mit seinem leicht irren, unbequem ruhigen Blick mit einer Pistole knapp am Betrachter vorbei. Die Details waren ihr besonders wichtig: Mit ruhiger Hand und dünnen feinen beinahe unsichtbaren Strichen zog sie Falte für Falte auf seiner Stirn und jeden Knochen, der sich an seinen Händen abzeichnete, die so krampfhaft die Waffe umklammerten. Es war ein unironisches Bild, eine Darstellung eines schießenden Mannes, nicht mehr, nicht weniger. Es verfolgte sie nicht, es beschäftigte sie nicht, es war lediglich eine Momentaufnahme, die sie zufällig erlebt hatte. Mit jedem Strich befreite sie ihren Kopf von unnötigem Ballast – bis das Bild fertig war. Sie betrachtete es kurz, nickte zufrieden und legte es auf den kontinuierlich wachsenden Stapel mit fertigen Arbeiten. Schon während des Einschlafens hatte sie den Mann auf der Autobahn vergessen.

Wie üblich stand sie am nächsten Morgen auf, als blassgelbe Sonnenstrahlen durch das Dachfenster und ihre geschlossenen Lider schienen.