Kein Wunder


Seitdem sie so überstürzt gegangen waren, hatte er Mikey und Frank nicht mehr gesehen; es mussten mittlerweile zwei oder drei Tage sein. Langsam begann er, sich Sorgen zu machen. Sie bleiben manchmal einfach eine Nacht lang verschwunden, das tat er manchmal genauso, aber nach spätestens zwei Tagen konnte man sie immer in der Wohnung finden. Er würde wohl raus müssen. Es fiel ihm ein wenig schwer, aufzustehen; Kopfschmerzen und eine merkwürdig klirrende Traurigkeit wollten, dass er liegen blieb. Er schob es auf die viel zu dünne Matratze. 

Mikeys Beutelchen hatte er die ganze Zeit lang neben seinem Kopfkissen gelagert; in der Hoffnung, aufzuwachen und zu sehen, dass es wieder da war, wo es hingehörte. Aber es hatte sich kein Stück bewegt. Er steckte es ein, dazu Besteck, Vitamin C-Pulver, das verbliebene blaue Zeug und ein wenig Geld, um Nachschub zu besorgen, dann suchte er nach einer nicht komplett leeren Flasche Schnaps von Frank und ging – natürlich nicht, ohne vorher den letzten Schlüssel mitzunehmen.

Draußen war scheinbar früher Vormittag. Es war noch etwas kühl, doch es würde nicht mehr lang dauern, bis die Sonne endgültig dafür sorgen würde, dass die Fußgängerzone gepflastert mit den Schatten der umstehenden Gebäude war. Als er Nordsee passierte, wandte er ein wenig angeekelt das Gesicht ab. Roch noch fischiger als sonst.

Er zog die Stirn kraus. Niemand war hier. Musste wohl Sonntag sein, doch selbst dafür war es erstaunlich leer. Sogar am Brunnen gegenüber der Sparkasse war kein Mensch. Ungewöhnlich. Er beschloss, die Königsstraße herunter bis zur Steinsch’schen Gasse zu wandern, wo vor Kurzem dieses lächerliche Einkaufszentrum mit den goldenen Verzierungen an der Front eröffnet worden war – und das in Duisburg. Er musste grimmig lächeln.

Vermutlich war es das Craving, aber die Innenstadt roch noch fauliger als sonst. Er würgte und musste sich wirklich beherrschen, nicht loszukotzen. Würde sowieso nichts rauskommen, sagte er sich und der Gedanke half ein wenig. Er nahm einen Schluck von Franks Schnaps, dessen beißende Schärfe ihm sofort in die Nase stieg und das half ebenfalls ein wenig.

Niemand. Nirgendwo. So trostlos hatte er alles gar nicht in Erinnerung gehabt. Kein Wunder, dass er mit den Drogen angefangen hatte.

Er beschloss, in Richtung Innenhaften zu wandern, dort saßen manchmal die pockennasigen, rotbackigen Berufsalkoholiker auf den Bänken am Sägewerk und diskutierten darüber, ob das billigste Bier von Netto oder von ALDI das beste war. Oft konnte er dort auch Frank finden, der immer bloß amüsiert zuhörte. Simon fragte sich, warum er ausgerechnet dort die Klappe halten konnte.

Der untere Teil der Innenstadt sah noch toter aus als das Gebiet um die Wohnung herum, aber das war immer so. Leere Ladenlokale, asbestverseuchte Zweckbauten, hochgezogen vor 30 Jahren in der Hoffnung, der Stadt eine neue Richtung zu geben, jetzt zurückgelassen wie ein altes Fahrrad mit gestohlenen Rädern. 

Am Parkhaus saßen drei Möwen auf einem gelben Automaten und sahen ihn mit schief gelegten Köpfen an. Aus einer spontanen Laune heraus ging er zu einem der blauen Mülleimer, die an fast allen Laternen hingen, kramte nach dem ersten schweren Gegenstand, den er finden konnte (es war ein halbvoller Bubble-Tea-Behälter) und warf ihn nach den Vögeln, die mit lautem Gemecker losflatterten und schnell über dem Dach des Parkhauses verschwunden waren. Er lachte leise.

Auch an der Bank war niemand. Er wurde etwas ratlos, stand ein wenig herum und blickte auf das Wasser, in dessen Wellen sich die Sonne blendend hell spiegelte. War eigentlich recht schön hier, wenn man keine dämlichen Gespräche belauschen musste. Vielleicht sollte er öfter hierhin kommen.

Leicht unentschlossen, was er mit sich anfangen sollte, ging er über das Schwanentor in Richtung des glänzenden, neubebauten Teil des Innenhafens, den er sonst mied. Wenn er schon einmal draußen war-

Ebenfalls niemand; keine ausgelassenen Familien, keine grimmig konzentrierten Läufer, keine faszinierten Asiatenreisegruppen. Die Marina zu seiner Linken ging er mit schlackernden Armen und zusammengekniffenen Augen zu der merkwürdigen Konstruktion aus Asphalt und Stahl, die neben den gräsernen Wellen so aus dem Boden ragte wie Unkraut. Er setzte sich und starrte in das innere Hafenbecken.

Die Kopfschmerzen wurden einfach nicht besser. Wenigstens gab es hier Schatten, denn die Sonne machte das nicht unbedingt besser. Mit leicht feuchten Händen leerte er seine Taschen neben sich. Für schlechte Zeiten, hatte Mikey gesagt. Wie es aussah, waren das hier schlechte Zeiten.

Als er müde in sich zusammensank, konnte er sich gerade noch auf den Bauch legen, bevor er spürte, wie er von einer warmen Welle in ein weiches Dämmern gespült wurde. Er sah noch, wie drei krächzende Möwen in etwa zwei Metern Entfernung neben ihm landeten, dann schloss er die Augen.